Mehr Beschäftigung durch niedrige Löhne?

Niedriglohnstrategien aus frauenpolitischem Blickwinkel

Christel Degen
Deutscher Gewerkschaftsbund - Bundesvorstand, Abteilung Frauenpolitik

Referat,
gehalten bei der Veranstaltung "Die Niedriglohndebatte aus Frauensicht" am 6. Juni 2002 in Frankfurt am Main.

Angesichts der wirtschaftlichen Lage sowie der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland nimmt der Druck zu, wirksame Strategien zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu entwickeln. Die bestehende Ratlosigkeit wird offensichtlich, wenn es dann darum geht, konkrete Lösungsansätze zu präsentieren und so "jagt" in jüngster Zeit eine Reformidee die nächste. Mal wird der Eindruck vermittelt, dass die flächendeckende Einführung von sogenannten Kombilohnmodellen - wie beispielsweise das "Mainzer Modell"- die Probleme am Arbeitsmarkt nachhaltig lösen können. Ein anderes Mal ist es die geringfügige Beschäftigung, die erneut auf den "Prüfstand" gehört- ebenso wie die in dieser Legislaturperiode eingeführten Teilzeit- und Befristungsregelungen.

In der aktuellen Debatte wiederum greifen Forderungen nach Ausweitung des Niedriglohnbereiches verbunden mit einer Reform unseres Tarif- und Sozialsystems um sich - verquickt mit Vorstellungen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen. Der Ruf nach Deregulierung wird lauter, der Druck auf die von Arbeitslosigkeit Betroffenen und nicht zuletzt auf die Löhne nimmt zu. Konsequenterweise wird von arbeitgebernahen Forschungsinstituten immer wieder das derzeitige Niveau der Sozialhilfe als Mindesteinkommen bei Nichterwerbstätigkeit zur Diskussion gestellt. Hier schließt sich der Kreis.

Ich will mich mit unterschiedlichen Niedriglohnstrategien auseinandersetzen und dabei der Frage nachgehen, ob bzw. wieweit diese für eine Bewältigung der Beschäftigungsprobleme tauglich sind. Das soll insbesondere aus frauenpolitischer Sicht geschehen, denn - auch wenn es bisher wenig diskutiert wird - so sind es doch vor allem Frauen, die man meint, mit derartigen Konzepten in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Betrachten wir zunächst einmal die Lage der Beschäftigten im Niedriglohnbereich. Bereits heute existiert unter den Vollzeitbeschäftigen eine ausgeprägte Niedriglohnproblematik. So erhalten in Westdeutschland 35,5 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten weniger als 75 Prozent des durchschnittlichen Verdiensts. Das sind 6,76 Millionen Personen. Unter ihnen beziehen 4,57 Millionen zwischen 75 und 50 Prozent des Durchschnittslohns. Dabei handelt es sich um sogenannte "prekäre Löhne", die ein privates Auskommen schon schwierig machen. Bei 2,19 Millionen Menschen in Westdeutschland liegt der Verdienst sogar unter 50 Prozent, d.h. sie liegen unterhalb der Armutsgrenze. Hier ist der Anteil der Frauen mit 60% sehr hoch. In Ostdeutschland beziehen 1,21 Millionen Menschen Löhne in der Höhe zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnittlohns. Darunter sind wiederum 430 000, die sogenannte "Armutslöhne" beziehen. Hier liegt der Frauenanteil mit 66 % sogar noch höher als im Westen.

Wir haben also in der Bundesrepublik Deutschland heute bereits fast 8 Millionen Vollzeitbeschäftigte, die ein Einkommen beziehen, von dem sie nur schwer ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Unter ihnen sind mehr als 2 Millionen Frauen, die unter der Armutsgrenze liegen. Betroffen von Niedriglöhnen sind Frauen und Männer in vielen Bereichen von Industrie und Dienstleistung, häufig geballt in "Niedriglohnsektoren". Es besteht die Gefahr, das sich der Kreis der Betroffenen durch unterschiedliche Entwicklungen ausweitet, wenn diese nicht reguliert werden. So nehmen Tarifflucht und Tarifbruch zu und es wird immer schwieriger, Tarifverträge für eine ganze Branche für allgemeinverbindlich zu erklären. All dies erfordert ein Gegensteuern, da die negativen Auswirkungen dieser Niedriglohnstrategien augenfällig sind.

Nun taucht im Wahlprogramm der CDU die Forderung nach einer Reform der gesetzlichen Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung auf. Insgesamt sind in Deutschland etwa 4 Millionen Menschen geringfügig beschäftigt. Diese Beschäftigungsform wird überwiegend von Frauen ausgeübt. In Westdeutschland beträgt ihr Anteil an den geringfügig Beschäftigten 70 Prozent, in Ostdeutschland 60 Prozent. Nach den Vorstellungen der CDU sollen bei Jobs, die unterhalb der 400 Euro-Schwelle liegen, die Sozialbeiträge ganz entfallen. Sie sollen lediglich einer pauschalen Steuer von 20 Prozent unterworfen werden. Die CDU will damit zwischen 700 000 und 800 000 neue Arbeitsplätze schaffen.

Nationale und internationale Erfahrungen belegen allerdings, dass Niedriglöhne generell nicht die "Beschäftigungswunder" erzeugen, die ihnen häufig nachgesagt werden. Zudem belasten solche Strategien nicht nur die Betroffenen, sondern ziehen auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgeprobleme nach sich. So schätzen Experten, dass - würden die CDU-Pläne zur geringfügigen Beschäftigung umgesetzt - den Rentenkassen etwa zwei Milliarden Euro verloren gehen würden. Umgekehrt zeigt eine Studie des IAB, dass weder die Sozialversicherungspflicht, noch die Besteuerung der breiten Akzeptanz dieser Beschäftigungsform etwas anhaben konnten. Aus den letztverfügbaren Daten von Juni 2000 wird ersichtlich, dass ein Jahr nach Einführung der Sozialversicherungspflicht sogar mehr Menschen einer geringfügigen Beschäftigung nachgingen als zuvor.

Doch obwohl Befürchtungen der Unternehmerverbände, dass die Sozialversicherungspflicht das Ende der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse bedeuten, nicht eingetroffen sind, tauchen in regelmäßigen Abständen Forderungen auf, die derzeitige Geringfügigkeitsgrenze von 325 Euro deutlich zu erhöhen. Der DGB hatte zwar andere Vorstellungen zur Einbeziehung der geringfügigen Beschäftigten in die Sozialversicherung, hat aber die jetzt gültige gesetzliche Regelung verteidigt, nachdem eine Medienkampagne gegen das Gesetz geführt wurde mit dem Ziel, den alten Zustand wieder herzustellen. 

Analog zu den Diskussionen um Niedriglöhne und geringfügige Beschäftigung wird immer wieder behauptet, dass durch Senkungen der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, weil der Anreiz zur Aufnahme einer niedrig bezahlten Arbeit dadurch für die Arbeitslosen steige. in den letzten Monaten sind nun Überlegungen laut geworden, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen zu legen. Mit dem Grade sozialer Sicherung sind heute tendenziell unterschiedliche Förderchancen für die Betroffenen verbunden. Der DGB setzt sich deshalb dafür ein, dass die Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik für Sozialhilfeempfänger/innen geöffnet werden und Arbeitsämter und Sozialämter sehr viel enger und besser zusammenarbeiten als bisher. Wir haben dazu detaillierte Vorschläge unterbreitet und die Vermittlungsoffensive geht ja bereits in diese Richtung. In dieser Art und Weise wollen wir auch weiterhin an Verbesserungen mitwirken.

Ich möchte aber betonen, dass wir eine Verschmelzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ablehnen, denn dies wäre mit einem massiven Sozialabbau verbunden. So werden beispielsweise für die Dauer des Bezugs von Arbeitslosenhilfe Rentenversicherungsbeiträge an die BFA abgeführt, während dies während des Bezugs von Sozialhilfe nicht geschieht. Dies hätte für Frauen besonders fatale Langzeitwirkungen, weil sie aufgrund niedriger Löhne und kürzerer Versicherungszeiten bereits jetzt niedrigere Renten erwarten, als Männer. Dies ist jedoch nur ein Beispiel für die potentiell negativen Auswirkungen eines solchen Vorhabens. Hinzu kommen zahlreiche weitere Nachteile, auf die wir in unserem im Juli erscheinenden Papier zum Thema Niedriglöhne aus Frauensicht hinweisen.

Statt das Verarmungsrisiko von Arbeitslosen zu erhöhen sollten wir die neuen Möglichkeiten im Job-Aqtiv-Gesetz zunächst einmal voll ausschöpfen. Durch die Verankerung der Querschnittsaufgabe "Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt" in den Zielen des Gesetzes sind nun alle Verantwortlichen aufgefordert, die Chancengleichheit am Arbeitsmarkt zu fördern. Das Prinzip des Gender-Mainstreaming gekoppelt mit speziellen Frauenfördermaßnahmen muss jetzt forciert umgesetzt werden. Konkret bedeutet dies, dass die individuelle Chanceneinschätzung und Beratung - auch Profiling genannt- als Möglichkeit begriffen werden muss, geschlechtsspezifische Problemlagen auf dem Arbeitsmarkt besser zu lösen. So ist es für Frauen mit Kindern hilfreich, wenn das örtliche Arbeitsamt in der Lage ist, Auskunft über die Möglichkeiten der Kinderbetreuung in der Kommune zu geben. Darüber hinaus ist es erforderlich, Weiterbildungsmaßnahmen auf die Öffnungszeiten dieser Einrichtungen abzustimmen. Weiterhin enthält das Job-Aqtiv-Gesetz die Verpflichtung zum Profiling für alle sich arbeitslos meldenden Personen, also auch für Nichtleistungsbezieher/innen. In dieser Gruppe sind Frauen besonders stark vertreten und es kommt jetzt darauf an, diese Zielgruppe von den neuen Möglichkeiten profitieren zu lassen.

Im Sommer 2000 wurde das Mainzer Modell (CAST-Sonderprogramm) und das damit verwandte rheinland-pfälzische Kindergeldzuschlagsmodell befristet bis Ende 2002 eingeführt. Seit 1. April diesen Jahres wurde die rechtliche Möglichkeit geschaffen, dieses Modell bundesweit auszudehnen. Zielgruppe sind meist bestimmte Bezieher/innen von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder von Sozialhilfe. Überwiegend wird die Aufnahme von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen gefördert.

Über die Teilnehmerstrukturen liegen bisher nur zu einigen Modellen Ergebnisse mit unterschiedlicher Tiefe vor und nicht überall werden geschlechtsspezifische Daten erhoben. Insgesamt lässt sich jedoch bereits belegen, dass bei vielen Kombilohnmodellen der Frauenanteil deutlich über 50% liegt. Es zeigt sich jedoch auch, dass häufig mehr arbeitslose Interessent/innen bereit sind, diese Chance wahrzunehmen, als Stellen angeboten werden können. Wir begrüßen diese Anstrengungen, wenn sie für bestimmte Zielgruppen eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen.

Wir müssen dennoch genau beobachten, wie sich die bundesweite Ausdehnung der Kombilohnmodelle auswirkt. Dazu bedarf es einer differenzierten Erhebung und Analyse von Daten nach Geschlecht, um Aufschlüsse über die unterschiedlichen Problemlagen derjenigen zu bekommen, die an diesen Modellprojekten teilnehmen. Insbesondere ist es wichtig herauszufinden, wie hoch der tatsächliche Anteil von Geringqualifizierten ist und ob nicht eventuell andere Probleme - wie z.B. Kinderbetreuungsprobleme - der Aufnahme eines regulären Beschäftigungsverhältnisses entgegenstehen. Denn: In Westdeutschland geraten viele Frauen überhaupt nur in den Sozialhilfebezug, weil es an ganztägigen Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Alterstufen fehlt. 

Entscheidend ist für uns, dass für Frauen in Ost und West dauerhafte und existenzsichernde Arbeitsplätze geschaffen werden. Strategien, die lediglich an einzelnen Symptomen ansetzen, müssen langfristig ins Leere laufen. Deshalb müssen wir darüber diskutieren, wie nachhaltige Lösungen aussehen können. Dies schaffen wir jedoch nicht, indem wir Frauen in Niedriglohnbereiche abdrängen, sondern hier müssen die Probleme an der Wurzel gepackt werden. 

Arbeitsmarktpolitische Probleme vieler Frauen im Westen werden schon dadurch gelöst, wenn der dringend notwendige Ausbau von qualitativ hochwertigen Kinderbetreuungseinrichtungen endlich erfolgt. Hier sind wir im europäischen Vergleich gesehen ein Entwicklungsland und es ist höchste Zeit dies zu verändern. Darüber hinaus fehlen für verheiratete Frauen Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, jenseits der Rolle der Zuverdienerin. Die Vorschläge der SPD zum Abbau des Ehegattensplittings weisen hier in die richtige Richtung. 

Um ein existenzsicherndes Einkommen in Zukunft sicherzustellen, bedarf es jedoch verschiedener Strategien und gesetzlicher Regelungen. Tarifverträge müssen dort, wo sie zu Stande kommen, Niedriglöhne vermeiden und durch Sockelbeträge untere Einkommen anheben. Gerade bei den Tätigkeiten, die von Frauen ausgeübt werden, ist eine Neubewertung notwendig und dies muss in eine höhere tarifliche Bezahlung münden. Da aber die Zahl der tariflich nicht gebundenen Arbeitgeber zusehends größer wird, muss das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit stärker genutzt werden - auch gegen den Widerstand der Arbeitgeberverbände.

Kombilohnmodelle sind kein Allheilmittel. Gerade das Mainzer Modell wird zum großen Teil von Frauen in Anspruch genommen, vor allem von Frauen mit Kindern. Daraus läst sich schließen, dass diese Frauen vernünftig bezahlte Teilzeitstellen wollen. Deshalb müssen wir über die finanzielle Förderung einer qualifizierten Familien-Teilzeit nachdenken. In Ostdeutschland ist es dagegen wichtig, jungen Frauen nach ihrer Ausbildung reguläre Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus benötigen wir eine moderne Arbeitszeitgestaltung, damit sich Erwerbs- und Familienarbeit vereinbaren lassen. Anstatt Niedriglohnmodelle im Bereich der haushalts- und personennahen Dienstleistungen auszubauen, bieten Dienstleistungsagenturen und Soziale Betriebe eine Alternative. Die Förderungshöhe muss tarifliche Bezahlung und Qualifizierung der Beschäftigten ermöglichen.

Die vorstehende Analyse hat gezeigt, dass die derzeitigen Debatten um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, um Niedriglöhne und geringfügige Beschäftigung den Druck auf reguläre Beschäftigungsverhältnisse und nicht zuletzt auf die Löhne erhöhen. Die Folgewirkungen hat die gesamte Gesellschaft zu tragen, jedoch treffen sie insbesondere Frauen. Die von uns dargelegten Vorschläge zielen dagegen darauf ab, einerseits neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse für Frauen zu schaffen und ihnen andererseits den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.