ATMOSPHÄREN IN NATUR UND KUNST 1_____________________________________________________

Michael Hauskeller
 

»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, so lautet der Titel eines 1936 entstandenen Essays von Walter Benjamin. Darin werden die Veränderungen beschrieben, die die Kunst dadurch erleidet, daß Gegenstände und Ereignisse – etwa durch die Fotografie – mit einem Mal beliebig oft und ohne jede Mühe im Bild wiederhergestellt werden können. Viele moderne Entwicklungen der Kunst hängen nach Benjamin mit diesen neuen Möglichkeiten zusammen.

Aber auch wo die Kunst traditionell bleibt, nehmen wir sie nun in anderer Weise wahr, selbst die Kunst der Vergangenheit. Leonardos Mona Lisa zum Beispiel ist nicht mehr die gleiche, seit sie uns nicht mehr nur im Louvre begegnet, sondern auch in zahllosen Bildbänden und Postern, sowie auf diversen Alltagsgegenständen wie T-Shirts, Aufklebern, Kaffeetassen usw. Benjamin zufolge geht durch diese ständige Präsenz und Verfügbarkeit die gewohnte Gebundenheit des Kunstwerks an das Hier und Jetzt verloren, »sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.« (Benjamin 1963: 13) Das zwanzigste Jahrhundert erlebt und gestaltet so den Verlust dessen, was Kunstwerken zuvor immer angehaftet hatte, dessen, was Benjamin ihre Aura nannte.

Es lohnt sich, hierauf etwas näher einzugehen. Was soll das sein: die Aura eines Kunstwerks? Interessanterweise erläutert Benjamin sein Verständnis dieses Begriffes nicht, wie man aufgrund seines Themas hätte erwarten können, kunstimmanent, sondern vielmehr am Beispiel einer Naturerscheinung (wobei ansonsten in Benjamins Essay die Natur keine Rolle spielt). »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am  Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft«, sagt Benjamin, »– das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Also kann nicht nur die Kunst, sondern auch, und vielleicht sogar vorrangig, die Natur eine Aura haben. Wohlgemerkt: sie kann eine Aura haben, denn offenbar haben Naturgegenstände diese nicht grundsätzlich, in jedem Fall, sondern nur dann, wenn bestimmte Wahrnehmungsbedingungen erfüllt sind. Achten wir noch einmal genau auf den Wortlaut von Benjamins Illustration: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Auffällig ist hier vor allem die Genauigkeit der Angaben: die Aura wird einer bestimmten Jahreszeit und sogar einer bestimmten Tageszeit zugeordnet. Nicht irgendwann soll sie zu erfahren sein, sondern an einem Sommernachmittag. Und der sie wahrnimmt, arbeitet weder, noch spielt er, noch tut er überhaupt irgend etwas. Vielmehr ruht er, und zwar im Schatten eines Baumes, folgt dabei einem Gebirgszug oder einem Zweig und atmet deren Aura. Lassen wir uns von der Grammatik nicht in die Irre führen: Ruhen, folgen, atmen – wer dies tut, ist tätig nur insofern, als er von allem Tätigsein abläßt, sich öffnet und bereit hält für das, was ihm durch den Anblick der Dinge geschieht. Er überläßt sich den Bergen, dem Zweig, allem, was sich ihm zeigt, läßt sich von ihm führen und nimmt es in sich auf, ohne Anstrengung, wie die Luft, die er atmet.
Nun spricht Benjamin nicht von der Aura eines Berges und der Aura eines Zweiges, sondern ausdrücklich von der Aura dieser Berge, dieses Zweiges. Von daher liegt es nahe anzunehmen, daß wer solchermaßen auratisch, ja man kann sagen: angeweht wird (denn das griechische Wort Aura bedeutet Wind oder Hauch), so etwas wie das individuelle Wesen der von ihm wahrgenommenen Gegenstände erfährt. In einer Art kontemplativer Versenkung zeigt sich ihm, was die Sache ihrem innersten Wesen nach ist, die »geheime Seele« also, die nach Kandinsky in allen Dingen da ist, aber »öfter schweigt als spricht« (zit. nach Hess 1956: 89).

Allerdings wird diese Deutung problematisch, wenn man sich die Definition ansieht, die Benjamin selbst für seinen Aura-Begriff gegeben hat. Die Aura, sagt er, sei zu verstehen als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (ebd.: 18). Was mit dieser merkwürdigen Formulierung einer »Ferne, so nah sie sein mag«, gemeint ist, darauf werden wir später noch zu sprechen kommen. Konzentrieren wir uns jedoch zunächst nur auf den Aspekt der Einmaligkeit, der hier so hervorgehoben wird. Wenn die Aura wirklich einmalig ist, können wir offenbar dieselbe Erfahrung, die wir in diesem Augenblick mit Berg und Zweig (oder mit was auch immer) machen, nicht zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal machen, auch nicht an einem anderen Sommernachmittag, im Schatten desselben Baumes, denn könnten wir es, wäre die Erfahrung nicht einmalig. Daraus aber scheint zu folgen, daß, wenn wir tatsächlich das Glück haben sollten, eines Sommernachmittags das Wesen eines bestimmten Berges oder bestimmten Zweiges zu erfahren, uns dieses Wesen danach niemals wieder begegnen könnte. Das heißt, es wäre prinzipiell unmöglich, öfter als ein einziges Mal das Wesen irgendeines Gegenstandes zu erfahren – so als würde sich für einen kurzen Augenblick ein Tor zur Welt der Dinge öffnen, nur um dann für immer geschlossen zu bleiben. Warum aber sollte das so sein? Ein solch rigider Offenbarungsmechanismus bedürfte sicherlich einer metaphysischen Begründung, die Benjamin nirgendwo auch nur andeutet. Wollen wir aber einer derart befremdlichen Konsequenz entgehen, bleibt uns, denke ich, nur eine Möglichkeit: Wir müssen das hinweisende Wort dieses in Benjamins Beschreibung in einem sehr engen, nämlich strikt phänomenbezogenen Sinne interpretieren: diese Berge, dieser Zweig, bezeichnen dann gar keine Dinge,sondern Erscheinungen. Worin besteht der Unterschied? – Dinge sind raumzeitliche Einheiten; sie werden von uns gedacht als mit sich selbst identische Träger einer praktisch unendlichen Zahl wechselnder Erscheinungen. Der Tisch, an dem ich schreibe, bleibt für mich ein und dasselbe Ding, auch wenn die Beleuchtung wechselt, und ganz egal, aus welcher Perspektive ich ihn betrachte. Zumeist bemerke ich die Veränderungen nicht einmal. Eine Erscheinung hingegen ist genau das, was sich einem bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zeigt. Nehmen wir nun den Zweig Benjamins nicht als Ding, sondern als Erscheinung, dann ist das, was wir morgen sehen oder gestern gesehen haben, ein anderer Zweig. Derselbe wäre er nur dann, wenn man ihn als Ding begriffe. Dinge verändern sich, Erscheinungen wechseln.

»Die falschen Maler«, sagte einmal Paul Cézanne in einem Gespräch mit Gasquet, »sehen nicht diesen Baum, Ihr Gesicht, diesen Hund, sondern den Baum, das Gesicht, den Hund. Sie sehen nichts. Nichts ist jemals dasselbe.« (Gasquet 1948: 51)2 Aus eben diesem Grund hat der Philosoph Ludwig Klages, ein Zeitgenosse Benjamins, die sogenannte Realität, nämlich die Realität der Dinge, scharf von der Wirklichkeit abgegrenzt, die für ihn ausschließlich die Wirklichkeit der Bilder war. Klages vertrat die Ansicht, daß die Dinge, mit denen wir unsere Welt ausstatten und die wir gewöhnlich für wirklich halten, in Wahrheit bloße Konstrukte unseres Geistes seien, die uns dazu dienen, die unerschöpfliche, unfaßliche Vielfalt der Erscheinungen nicht nur zu ignorieren, sondern buchstäblich zu übersehen. Das Denken der Dinge erlaubt uns, aktiv handelnd die Welt nach unserem Willen zu gestalten. Zugleich aber verändert, ja korrumpiert sie unser Wahrnehmen: statt die vorüberziehenden Bilder der Welt erlebend zu empfangen, erfaßt unser pragmatisch zugerichteter Blick unmittelbar das vermeintlich Bleibende, Feststehende, das Handhab- und Angreifbare, mit einem Wort: das Ding. (Vgl. Klages 1964ff., Band 3: 416f.)3 Im eigentlichen Sinne wirklich ist jedoch nach Klages gerade nicht das Ding, sondern nur die grundsätzlich nicht feststellbare, flüchtige Erscheinung. Und weil diese nicht etwa, wie uns unser Vorurteil glauben läßt, Erscheinung eines Dinges ist, sondern allenfalls von Welt, weist sie auch keine festen Grenzen auf. Sie gibt sich uns immer als ungeteilte Erlebnisganzheit, die alles mit einbezieht, was in der jeweiligen Wahrnehmungssituation überhaupt gegeben ist, also nicht nur das, was wir als Berg und Zweig zu bezeichnen gewohnt sind, sondern auch, um nur einiges zu nennen (denn alles aufzuzählen wäre unmöglich), die Wärme und Trockenheit der Luft, die Farben und Geräusche, die Gerüche, die uns umgeben, der Schatten, das Rauschen der Blätter, das Zirpen der Grillen, kurz: alles, was da ist, und zwar einschließlich dessen, was wir selbst in diesem Augenblick an diesem Ort sind, also der Stimmung, in der wir uns gerade befinden, den Erfahrungen, die wir gemacht haben usw. (Vgl. Klages 1964ff., Band 4: 613) Subjekt und Objekt lassen sich hier gar nicht mehr sinnvoll trennen: sie bedingen sich gegenseitig, oder vielmehr fallen sie zusammen, verschmelzen in einem einmaligen Erlebnis.

Wir waren ausgegangen vom Aura-Begriff Walter Benjamins und sind dann der Frage gefolgt, wie in diesem Zusammenhang die Rede von der »einmaligen Erscheinung« zu verstehen sei. Die von Klages vorgenommene Unterscheidung von  Ding und Erscheinung ließ uns verstehen, daß Erscheinungen im engeren Sinne immer einzigartig sind, und zwar vor allem deshalb, weil sie stets Ausdruck der gesamten Wahrnehmungssituation sind, in der sich ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Augenblick befindet. Wie sich mir etwas zeigt, hängt davon ab, wie sich mir die Welt im ganzen zeigt, und das wiederum davon, wie sie sich mir bislang gezeigt hat. Aber was heißt das genau: »wie sich mir etwas zeigt«? Weder läßt sich dieses Wie des Zeigens eindeutig dem Gegenstand noch dem Wahrnehmenden zuordnen. Diese lassen sich ja, wie gesagt, im konkreten Erleben gar nicht deutlich voneinander trennen, weshalb man vielleicht besser statt von Subjekt und Objekt nur vom Subjektpol und vom Objektpol der Wahrnehmung sprechen sollte. Damit wäre zumindest gewonnen, daß Subjekt und Objekt eher als begleitende Attribute des Wahrnehmungsprozesses denn als bereits fertige Entitäten genommen werden, zwischen denen dann auch noch so etwas wie Wahrnehmung stattfindet. Das Wie des Zeigens meint die aller Wahrnehmung zugrunde liegende Urbeziehung, den primären Prozeß des Ins-Verhältnis-Setzens, aus dem dann die Beziehungsglieder Ich und Welt erst nachträglich abstrahiert werden. Denn kein Was ist ohne Wie, das heißt alles, was sich uns zeigt, zeigt sich uns in einer bestimmten Weise, und nur weil es sich in einer bestimmten Weise (eben so und nicht anders) zeigt, zeigt es sich überhaupt. Nichts von dem, was wir wahrnehmen, ist einfach nur da, als reine, für sich bestehendeTatsache, sondern es bedeutet irgend etwas, stellt sich in einen Zusammenhang, und zwar für mich beziehungsweise für den, dem es sich zeigt. Ich sehe, um ein Beispiel zu geben, nicht einfach ein Gesicht, sondern ich sehe ein bekanntes Gesicht oder ein unbekanntes, ein sympathisches oder unsympathisches, ein geliebtes oder ein gleichgültiges, ein jetzt gerade erwartetes oder ganz und gar unerwartetes, eines, das ich im Augenblick nicht zu sehen wünsche oder im Gegenteil eines, das zu sehen ich mich lange gesehnt habe. Kurz gesagt kann ich nichts wahrnehmen, ohne in irgendeiner Weise dazu Stellung zu nehmen, und das heißt, emotional an dem, was ich wahrnehme, beteiligt zu sein. (Selbst die Gleichgültigkeit ist eine solche Stellungnahme, eine Art Negativform des Beteiligtseins.) Wahrnehmen heißt eben nicht einfach nur registrieren, was da ist, sondern auch, es zugleich zu empfinden, das heißt affektiv zu bewerten und derart in die eigene, durch Erfahrungen errichtete Welt einzubauen. Diese oft übersehene, aber gleichwohl grundlegende, affektive Dimension der Wahrnehmung wird in der neueren philosophischen Diskussion meist mit dem Begriff Atmosphäre bezeichnet. (Vgl. Hauskeller 1995; Schmitz 1969, 1977, 1978; Böhme 1995)

Das Wort ist in unserer Alltagssprache geläufig genug. Man spricht etwa von der Atmosphäre eines Raumes, eines Gebäudes, oder auch einer Landschaft. Tatsächlich geraten wir, wo immer wir hingehen, in eine bestimmte, uns mehr oder weniger bewußte Atmosphäre hinein. In jedem Raum herrscht irgendeine Atmosphäre, wenn auch nicht notwendig für jeden Anwesenden die gleiche. Bei einem Vortrag mag es für manche eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit sein, für andere hingegen ist es eine Atmosphäre abgrundtiefer Langeweile. Aber egal wie die Atmosphäre beschaffen ist, die wir wahrnehmen: es gibt jedenfalls eine für uns, und das meint nicht einfach nur, daß wir alle beim Zuhören bestimmte Gefühle haben. Es meint vielmehr, daß wir dabei unsere Umgebung selbst als Herd oder Quelle dieser Gefühle wahrnehmen. Wenn wir uns langweilen, dann erleben wir diese Langeweile nicht nur als innerliche, gänzlich subjektive Regung, sondern als etwas, das von einer bestimmten Sache ausgeht, von ihr in den Raum ausstrahlt und uns dann mit umfängt. Die Atmosphäre füllt sozusagen den Raum und färbt ab auf die in ihm enthaltenen Dinge; und es gibt nichts, das keine Atmosphäre hätte, das heißt keinen Ort und keine Zeit, die für uns atmosphärenfrei wäre.

Kehren wir nun zurück zu Benjamin. Die Aura, hatte sich gezeigt, kann unter der Bedingung der Einmaligkeit nur als Aura einer Erscheinung (»dieser Berge, dieses Zweiges«) und nicht als Aura eines Dinges verstanden werden. Ferner sahen wir, daß wir sie nur dann erfahren können, wenn bestimmte Wahrnehmungsbedingungen erfüllt sind, nämlich das Vorhandensein einer kontemplativen Ruhe, zu der uns zum Beispiel ein entspannt im Schatten zugebrachter Sommernachmittag verhilft. Demnach sind auratische Erfahrungen offenbar selten. Atmosphäre hingegen erleben wir immer, egal wie und wo wir uns befinden, egal ob es regnet oder schneit, ob wir arbeiten, ein Buch lesen oder Karten spielen. Die Berge wirken zweifellos anders, wenn ein Gewitter aufzieht als wenn die Sonne scheint, aber sie wirken. Von daher ist klar, daß Atmosphäre und Aura nicht dasselbe meinen können. Atmosphären sagen uns in der Regel nichts über die Welt für sich selbst genommen, sondern lediglich etwas über unser momentanes Verhältnis zu ihr (und ihr Verhältnis zu uns). Ist der Himmel heiter, so ist er eben für uns heiter – was nicht heißt, daß es völlig beliebig wäre, wie er uns erscheint. Unter den gleichen objektiven Bedingungen würden wir ihn nicht als düster wahrnehmen, wohl aber vielleicht als kalt und mitleidlos (je nach dem, in welcher Stimmung wir den Himmel betrachten). (Vgl. Hauskeller 1995: 46)

Heiter ist also ein Himmel, der uns heiter stimmt beziehungsweise von dem wir wissen, daß er dies gewöhnlich zu tun pflegt. Wenn aber Benjamin in bezug auf Naturerscheinungen von Aura spricht, so scheint er etwas anderes im Sinn zu haben als das, etwas, das über die bloße Verhältnisbestimmung hinausgeht, nämlich so etwas wie eine Offenbarung des Wesens der Welt. Während die Atmosphären, die wir wahrnehmen, in ihrem Charakter immer entscheidend von uns und unserer augenblicklichen Beschaffenheit mitgestaltet werden, scheinen Auren nur erfahrbar, wenn wir uns so gut es irgend geht zurücknehmen, uns in einen möglichst neutralen, durch keinerlei Voraussetzungen getrübten Zustand versetzen. Kants bekannte Bestimmung des Ästhetischen als interesseloses Wohlgefallen wirkt hier nach, sowie Schopenhauers Rede vom reinen Erkenntnissubjekt, das zum »klaren Spiegel des Objekts« geworden sei. (Schopenhauer 1988: § 34) Für Schopenhauer war dieses Objekt, das sich angeblich im ästhetischen Zustand zeigt, allerdings eine überzeitliche Idee, zum Beispiel das, was der Mensch an sich, seinem Wesen nach ist. Benjamin hingegen betont, wie wir sahen, die Einmaligkeit der auratischen Erfahrung, was nur Sinn macht, wenn wir die Erscheinung oder, mit Klages zu sprechen, das Bild als deren Objekt begreifen. Damit würde er, wenn man vom Ding als dem gewöhnlichen Objekt der Wahrnehmung ausgeht, sich genau in die entgegengesetzte Richtung wenden wie Schopenhauer, denn das Bild verhält sich ja zum Ding wie dieses zur Idee. Das Ding ist nichts als die Erscheinungsweise der Idee unter den Bedingungen von Raum und Zeit und das Bild wiederum ist eine Erscheinungsweise des Dinges.

Nun läßt sich wohl verstehen, wie Schopenhauer meinen kann, daß sich im ästhetischen Erleben das Wesen der Dinge offenbart. In den Ideen erscheinen die Dinge eben befreit von allen Zufälligkeiten des Daseins. So zeigt etwa die Idee des Menschen das Typische des Menschen, das, was wir alle als Menschen gemein haben, oder die Möglichkeiten, die wir als Menschen haben, aber sie zeigt nicht, was es bedeutet, gerade dieser Mensch und kein anderer zu sein. Benjamin aber kennt, wie es aussieht, keine solchen Ideen. Seine Aura soll einer einmaligen, auf das Hier und Jetzt konzentrierten Erscheinung zukommen. Wenn das aber so ist: was für ein Wesen beziehungsweise wessen Wesen sollte uns dann dergestalt offenbart werden? Denn wir können ja nicht sagen, daß das Wesen der Erscheinung eben die Erscheinung sei und nichts weiter, weil dann alle Erscheinungen auratisch sein müßten (wie sie alle atmosphärisch sind). Aura ist aber nach Benjamin gerade nicht jede Erscheinung, sondern nur die Erscheinung »einer Ferne, so nah sie sein mag«.
Benjamin selbst hat dieses Problem nicht weiter reflektiert, aber Klages hat es getan. Auch er mußte erklären, wie Erscheinungen, die ständig wechseln und sich niemals wiederholen, dennoch irgend etwas Wesenhaftes in Erfahrung bringen können. Und er löste das Problem (oder versuchte es zu lösen) dadurch, daß er das Wesen nicht als eines von Dingen oder gar Ideen verstanden wissen wollte, sondern als das Wesen wirkender Mächte. (Klages, Band 2: 1119) Gewöhnlich geben wir diesen Mächten Namen wie Wald, Wind, Berg usw., aber damit weisen wir nur höchst vage auf etwas hin, was sich gar nicht anders verstehen oder besser: erspüren läßt, als eben durch die unendliche Zahl von Erscheinungen hindurch, die das Wesen dieser Macht zum Ausdruck bringen. Die Macht ist also nur wirklich in den Erscheinungen. Sie läßt sich daher auch nicht vom Bild lösen und in Begriffe bannen, läßt sich nicht definitorisch ein- und abgrenzen und so handhabbar machen. Geben wir ihr einen Namen, sind wir schon in der Gefahr, eine Bestimmtheit vorzutäuschen, die so weder in den Erscheinungen noch in den zugrunde liegenden Mächten gegeben ist. Letzten Endes ist es daher wohl immer dieselbe wirkende Macht, die sich in allen Erscheinungen ausdrückt und die wir gewöhnlich, hilflos genug, Natur nennen. Um sie zu verstehen, müssen wir ihre Erscheinungen studieren, die vielfältigen Weisen, in denen sie sich äußert, aber nicht  indem wir ordnen und klassifizieren, sondern indem wir sie auf uns wirken lassen, in einer Art hingebungsvollen Mitvollzugs. Cézanne war der Meinung, daß sich in der einzelnen Erscheinung das Ganze der Welt mit offenbare. Von den Früchten, die er malte, sagte er: »Sie kommen zu  Ihnen in allen ihren Gerüchen, erzählen Ihnen von den Feldern, die sie verlassen haben, von dem Regen, der sie genährt, von den Morgenröten, die sie erschaut.« (Gasquet 1948: 127) Und er fügte hinzu: »Warum zerteilen wir die Welt? ... Es gibt Tage, an denen mir das Weltall nur mehr wie eine einzige Flut erscheint, ein luftiger Strom von Reflexen, von tanzenden Reflexen, rings um die Ideen des Menschen.« (Ebd.)

Und jetzt sind wir, glaube ich, auch so weit, Benjamins Rede von der »einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, besser zu verstehen. Die Aura von irgend etwas spüre ich immer dann, wenn ich dessen gewahr werde, daß ich etwas Unerreichbares vor mir habe, etwas, das ich weder in seinem Wesen abschließend zu begreifen noch mir in sonst einer Weise anzueignen vermag. Der Anschein der Nähe, den die Welt gewöhnlich für uns trägt, ist eine Illusion, die Illusion der Verfügbarkeit. Es gibt etwas an den Dingen, an das wir niemals herankommen werden, etwas, das sich uns ständig entzieht, was nur sie selbst betrifft, eine Transzendenz, Entrücktheit, Fremdheit oder wie auch immer man es nennen will. Benjamin nennt es Ferne, und es ist diese Ferne, der wir in der Aura begegnen. Wir könnten es auch, wie ich es an anderer Stelle getan habe, Schönheit nennen. (Hauskeller 1998) Indem wir uns selbst ganz zurücknehmen (ruhend im Schatten an einem Sommernachmittag), erleben wir die Welt als etwas, das in seiner Existenz nicht auf uns angewiesen ist, das etwas für sich selbst ist, lange bevor es etwas für uns ist. Diese Berge, dieser Zweig, sie brauchen mich nicht, kennen mich nicht, und ich bin machtlos ihnen gegenüber. Auch wenn ich direkt vor ihnen stehe, bleibt der Weg, der uns voneinander trennt, unendlich, es ist eine untilgbare Ferne zwischen uns. Das, was wir von ihnen spüren, diese ihre Aura, bringt uns daher der Sache nicht näher, es sei denn, in dem Sinne, daß wir uns ihr unterwerfen und gleichsam von ihr assimiliert werden. Benjamin unterscheidet in diesem Sinne die Aura von der Spur. »Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.« (Benjamin 1982: 560) Diese Bemächtigung ist ein Akt des Sich-zur-Geltung-Bringens: eine Sache (eine Macht) macht sich in ihrer Wirklichkeit geltend.

Die Aura ist die Erfahrung einer Präsenz, und zwar einer reinen Präsenz, weil nicht dieses oder jenes präsent wird, obwohl es immer etwas Bestimmtes, etwas Besonderes ist, an dem wir die Präsenz erfahren. Es herrscht hier eine merkwürdige Dialektik von Sein und Nichts: für uns da ist eigentlich nur das, was sich nahtlos unserer Verständnisordnung einfügt. Was sich aber so einfügt, verliert seine Eigenständigkeit und ist somit (für sich selbst genommen) nichts. Was aber nichts ist, weil wir es in keiner Weise einordnen können, ist gerade deshalb am meisten seiend. So verdeckt, wie Heidegger gesagt hätte, das Seiende (weil immer etwas Bestimmtes) das Sein. Um an das Sein selbst heranzukommen, muß man durch das Seiende hin durchsehen.

Wenden wir uns nun wieder der Kunst zu. Wie können wir das Gesagte für das Verständnis von Kunst fruchtbar machen? Gernot Böhme schreibt in seinem Buch zur Atmosphäre, daß die Kunst den Blick beziehungsweise die sinnliche Erfahrung im allgemeinen von deren üblicher Befangenheit in Handlungskontexten entlastet und uns so die Möglichkeit gibt, Atmosphären in aller Ruhe auf uns wirken zu lassen, denn es wird dabei nicht erwartet, daß wir irgend etwas tun. Die Kunst, schreibt Böhme programmatisch, habe »die Aufgabe, die menschliche Sinnlichkeit überhaupt erst zu entwickeln« (Böhme 1995: 16). Böhme plädiert für eine »neue Ästhetik«, deren Grundbegriff eben der der Atmosphäre sein soll. Bisherige ästhetische Theorien hätten das Gewicht viel stärker auf die Beurteilung des Werks gelegt, also versucht Kriterien zu entwickeln, mit deren Hilfe man sich darüber austauschen, reden und streiten konnte. Der sprachliche Aspekt hat so den eigentlich ästhetischen, nämlich sinnlichen verdrängt: Kunst wurde beinahe ausschließlich semiotisch behandelt, als ein System von Zeichen, das es für den Betrachter zu entschlüsseln gilt. Böhme hält dem entgegen, daß »ein Kunstwerk zu allererst selbst etwas ist, eine eigene Wirklichkeit besitzt« (ebd.: 23). Das Kunstwerk betrifft uns immer schon unmittelbar in einer charakteristischen Weise, es läßt uns dies oder jenes fühlen. Diesbezüglich unterscheidet sich die Kunst im engeren Sinne gar nicht von anderen Techniken wie der Innenarchitektur, der Bühnenbildnerei, der Kosmetik oder der Werbung. Die neue Ästhetik soll daher auch die »stark normative Orientierung« der bisherigen Ästhetik aufgeben und die Frage, was Kunst ist und was nicht beziehungsweise gute und schlechte Kunst, in den Hintergrund stellen. Ihr Thema soll statt dessen die ästhetische Arbeit in ihrer ganzen Breite sein, wobei unter ästhetischer Arbeit eben die Produktion von At-mosphären zu verstehen ist. (Vgl. ebd.: 25)

Nun hat Böhme sicher recht damit, das atmosphärische Moment am Kunstwerk hervorzuheben und damit die primäre sinnliche Erfahrung wieder stärker in Erinnerung zu rufen. Allerdings entledigen wir uns auf diese Weise auch vielleicht allzu leicht der Frage, worin sich das, was wir gewöhnlich Kunst nennen, von all den anderen atmosphärenerzeugenden Techniken unterscheidet. Der Begriff der Atmosphäre hilft uns anscheinend nicht, den Kunstcharakter der Kunst im engeren Sinne zu verstehen.4

Vielleicht kommen wir weiter mit dem Begriff der Aura. Auch Böhme hebt ja hervor, daß die Kunst den Betrachter von jeglichem Handlungskontext entlastet, und dies ist, wie wir gesehen haben, auch eine Bedingung der Aura, so wie Benjamin sie in die Diskussion eingeführt  hat. Allerdings geht Böhme über die Aura schnell hinweg, weil er darin »gewissermaßen Atmosphäre überhaupt« erblickt, »die leere charakterlose Hülle seiner (?) Anwesenheit« (Böhme 1995: 26) Gleichzeitig aber versteht er das Auratische mit Benjamin allerdings auch als et-was Achtungs- und Distanzgebietendes, was meines Erachtens nicht ganz zusammenpaßt, da längst nicht jede Atmosphäre in dieser Weise empfunden wird. Zum Beispiel nicht die Heiterkeit, nicht das Grauen, nicht die Langeweile. Hier wird Distanz nicht geboten, sondern vielmehr aufgehoben. Dann wäre die Aura vielleicht eher eine bestimmte Art von Atmosphäre. Wenn Böhme Aura dennoch als »Atmosphäre überhaupt«, als »leere charakterlose Hülle von Anwesenheit« verstanden wissen will, dann deshalb, weil Atmosphären für ihn immer schon Weisen sind, wie Dinge im Raum anwesend und in ihrer Präsenz spürbar werden. Und auch die Aura läßt uns ja Dinge oder besser: Welt spürbar werden. Aber sie tut es eben doch in einer ganz bestimmten Weise, nämlich so, daß wir in der Nähe zugleich ihre Distanz erfahren.

Nach Benjamin ist die moderne Kunst gekennzeichnet durch den zum Teil bewußt herbeigeführten Verlust der Aura. Denken wir an die Aufwertung des Alltäglichen in dadaistischen oder kubistischen Collagen, an Duchamps Readymades, oder an Brechts episches Theater. Böhme meint allerdings, daß der Versuch, die Aura loszuwerden, gescheitert sei, denn: »dadurch, daß Duchamp ein Readymade zum Kunstwerk erklärte, hat er es auratisiert« (ebd.). Ich habe ernsthafte Zweifel, ob das wirklich so ist. Bekommt eine Sache tatsächlich allein deshalb eine Aura (so wie Benjamin dieses Wort verstand), weil ich (oder meinetwegen ein anerkannter Künstler) sie zur Kunst erklärt, oder weil sie in einem geeigneten Rahmen wie einem Museum ausgestellt wird? Ich will nicht ausschließen, daß dies passieren kann, aber ist es notwendig? Ich glaube nicht. Stellen wir uns vor, wie die Menschen damals reagiert hätten, wenn Duchamp ihnen, wie er es vorhatte, in einer Au-stellung ein gewöhnliches Pissoir als Kunstwerk präsentiert hätte: einige sicher mit völligem Unverständnis, andere empört, einige erheitert. Äußerst unwahrscheinlich hingegen ist, daß einer von ihnen daran so etwas wie eine Aura wahrgenommen hätte.

Vielleicht aber ist das ja heute anders. Der zeitliche Abstand verändert unsere Wahrnehmung (vieles von dem, was wir heute als große Kunst anzusehen gewohnt sind, wurde zu seiner Zeit verlacht und verachtet). Vielleicht gehen wir heute ins Museum, stoßen dort auf Duchams Pissoir und denken uns, vertraut mit der Geschichte der modernen Kunst: »Das ist tatsächlich das berühmt berüchtigte Pissoir, das seinerzeit so viel Aufregung verursacht hat.« Und erstarren in andächtiger Betrachtung. – Immer noch nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich. Am wahrscheinlichsten tritt dieser Effekt bei so einem berühmten Werk wie der Mona Lisa ein, die im Louvre ständig von Touristen umlagert ist. Man steht davor und denkt: »Das ist es nun! Keine Kopie (obwohl es sich faktisch um eine solche handeln mag), sondern das echte, das Original, gemalt von dem großen Leonardo da Vinci höchstpersönlich.« Aber ist es das, was Benjamin mit dem Wort Aura bezeichnen wollte, die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«? Sicher nicht. Der englische Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger spricht hier zu Recht von einer »Atmosphäre unechter Religiosität«, in die das Kunstwerk eingeschlossen sei. (Berger 1974: 21) Diese Atmosphäre ist nicht mit der Aura identisch, sondern ersetzt sie vielmehr. Wir nehmen das Werk zwar immer noch als einmalig wahr, aber gar nicht mehr in dem, was es zeigt, in seiner einmaligen Erscheinung, sondern nur noch in seiner dinglichen Materialität. Dieses Ding, was auch immer es ist, ist ein großes Kunstwerk, und weil ich das weiß, bewundere ich es. Für mich ist es das Original der vielen Reproduktionen, die ich schon von ihm gesehen habe. (Vgl. ebd.) Das ist im Prinzip der gleiche Effekt, wie ihn auf manche Bibliophile eine Erstausgabe eines berühmten Werks hat (erst gar mit einer Widmung des Autors), oder auch eine seltene Briefmarke auf den Sammler. Das Kunstwerk wird damit zum Fetisch, aber das heißt nicht, wie Böhme meint, daß es auf diese Weise seine Aura wiedergewonnen beziehungsweise gar nicht erst verloren hat.

Der Kunst- und Kulturphilosoph Dieter Mersch vertritt die Auffassung, daß eine Reauratisierung der Kunst heute nur im performativen Bereich möglich sei, wenn etwas geschieht, was sich der Kategorisierung entzieht. Nur wo Kunst als zeitlich eng begrenztes, flüssiges Ereignis inszeniert werde, als unwiederholbares Happening, könne Aura heute noch erfahren werden. »Performativer Kunst«, schreibt Mersch, »wird ihre Aura gerade durch ihre Ereignishaftigkeit, dem Vollzug einer Transzendenz und der Überschreitung des Gegebenen zurückerstattet.« (Mersch 1997) Ich denke, daß Mersch mit diesen Prädikaten den Charakter des Auratischen genauer gefaßt hat als Böhme, nur glaube ich nicht, daß wir zur Wiederherstellung der Aura eine spezifisch performative Kunst nötig hätten. Kunst ist in gewisser und zwar entscheidender Hinsicht immer performativ, insofern sie nur dann zu uns spricht und uns berührt, wenn wir sie auch sprechen und uns von ihr berühren lassen – falls sie es zuläßt. Auch die Begegnung mit einem Bild oder einer Statue kann, auch heute noch, zum Ereignis werden und uns zugleich Präsenz und Transzendenz, die »Überschreitung des Gegebenen« fühlen lassen, wenn wir uns nur einlassen auf das, was sich uns zeigt. Diese Begegnung ist dann so einmalig wie Benjamins sommernachmittägliche Betrachtung eines Zweiges im Schatten eines Baumes. »Jedes Kunstwerk«, schreibt Rüdiger Bubner in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Zur Analyse ästhetischer Erfahrung«, »ist ein ›singulare tantum‹. Es gehört nicht wie ein Fall unter eine Regel oder wie eine Instanz unter einen allgemeinen Typus. Alles kommt auf seine eigentümliche, nur in ihm verwirklichte Physiognomie an. Will man es erfahren, muß man sich ihm in seiner konkreten Einzigkeit stellen. Die Sinnlichkeit muß sich einlassen auf diese unverwechselbare Farbgebung, die nie geahnte Lichtführung, den nicht zu wiederholenden Pinselstrich, auf die singuläre Fügung der Worte, die unerhörte Bearbeitung des Tonmaterials oder die eigenwillige Komposition.« (Bubner 1989: 59)

Unverwechselbar, nie geahnt, nicht zu wiederholen, singulär, unerhört und eigenwillig. Jedes echte Kunstwerk ist eine einmalige Erscheinung wie die natürlichen Ereignisse, von denen Benjamin spricht. Aber was uns in der Natur ständig entgleitet, hält die Kunst für die Erfahrung fest. Sie hält gewissermaßen die Zeit an, bannt den flüchtigen Augenblick und gibt uns so die Möglichkeit, seine Besonderheit wahrzunehmen, das nicht zu Verallgemeinernde und daher Fremde an ihm, die Wirklichkeit und Präsenz, die in ihm zum Vorschein kommt. Zwar kann jedes beliebige Ding eine Aura entfalten, aber gewöhnlich tut es das eben nicht. Die Welt wird eben nicht immer in ihrer uneinholbaren Wirklichkeit erfahren, auch wenn sie immer irgendwie erfahren wird. Vielleicht besteht der Prozeß der Kunst gerade darin, diese seltene und merkwürdige Erfahrung der Präsenz zu erzeugen. Denken wir an eine Gruppe gewöhnlicher Gegenstände, eine Schale von Früchten etwa, deren Erscheinung wir niemals weiter beachten. Das Stilleben hebt sie plötzlich in unsere Aufmerksamkeit und zeigt sie uns so, wie wir sie noch nie gesehen haben. »Man glaubt«, sagte Cézanne, »daß eine Zuckerdose keine Physiognomie, keine Seele hat. Aber das verändert sich auch täglich. Man muß sie zu nehmen wissen, sie umschmeicheln, diese Herren da ... Diese Gläser, diese Teller, die sprechen miteinander.« (Gasquet 1948: 126) Nur sprechen sie, um im Bild zu bleiben, zuweilen eben sehr leise. Man muß viel Geduld haben, muß lauschen, um sie zu hören. Die Aufgabe der Kunst wäre es dann, die Sprache der Erscheinungen für uns lauter zu machen, uns, die wir notorisch schwerhörig durchs Leben gehen. Restlos verstehen werden wir sie dennoch nicht: es ist schon viel, wenn wir hören, daß sie sprechen. Und dazu müssen wir, wie Kandinsky einmal bemerkte, in den Bildern spazieren gehen, wie in einer fremden Welt mit ihren eigenen Gesetzen. Vielleicht ist das Lächeln der Mona Lisa am Ende gerade deshalb so berühmt, weil es ein Wesensmerkmal der Kunst überhaupt verkörpert, nämlich das Geheimnisvolle und Unausdeutbare, das nicht begrifflich zu Vereinnahmende, ohne das die Kunst zur banalen Wiederholung des bereits Bekannten verkommt, wie es heute nur zu oft der Fall ist.
 

Literatur:
 

Benjamin, Walter (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main
Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften V.1: Das
Passagen-Werk, Frankfurt am Main
Berger, John (1974): Sehen. Das Bild der Welt in der BIlderwelt, Reinbek bei
Hamburg
Böhme, Gernot (1995): Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main
Bubner, Rüdiger (1989): »Zur Analyse ästhetischer Erfahrung«, in: ders.:
Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main, S. 52-6
Gasquet, Joachim (1948): Cézanne. Drei Gespräche, Berlin
Großheim, Michael (1994): Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin
Hauskeller, Michael (1995): Atmosphären erleben, Berlin
Hauskeller, Michael (1997): »Natur als Bild. Naturphänomenologie bei Ludwig Klages«, in: Böhme, Gernot/Schiemann, Gregor (Hrsg.): Phänomenologie der Natur, Frankfurt am Main, S. 120-132
Hauskeller, Michael (1998): »Ist Schönheit eine Atmosphäre? Zur Bestimmung des landschaftlich Schönen«, in: Hauskeller, Michael u. a. (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt am Main, S. 161-175
Hess, Walter (Hrsg.) (1956): Dokumente zum Verständnis der modernen
Malerei, Reinbek
Klages, Ludwig (1964ff.): Sämtliche Werke, Bonn
Mersch, Dieter (1977): »Ereignis und Aura. Zur Dialektig von
ästhetischem Augenblick und kulturellem Gedächtnis«, in:
Musik und Ästhetik, Heft 3/1977, S. 20-37
Schmitz, Hermann (1969): System der Philosophie, III.2, Bonn
Schmitz, Hermann (1977): System der Philosophie, III.4, Bonn
Schmitz, Hermann (1978): System der Philosophie, III.5, Bonn
Schopenhauer, Artur (1988): Die Welt als Wille und Vorstellung I (Artur Schoppenhauers Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Lüdger Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 1)
 

Anmerkungen

1 Vortrag, gehalten am 25.9.1998 am Frauensee (Reutte/Tirol), auf der von der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie, der Petra-Kelly-Stiftung Bayern und der Münchner Pädagogischen Aktion/SPIELkultur e. V. veranstalteten Tagung »Natur, Kunst, Ästhetik, Bildung, Ökologie«. Für wichtige Hinweise danke ich Dieter Mersch.
2 Vgl. Heraklits berühmte Sentenz: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.« (Diels/Kranz, Fragment B 49a)
3 Eine ausführliche Darstellung dieser grundlegenden Unterscheidung findet sich in meinem Aufsatz »Natur als Bild. Naturphänomonologie bei Ludwig Klages« (1997). Zur Einordnung von Klages Position in die phänomenologische Bewegung vgl. das Standardwerk von Michael Großheim (1994).
4 Zu fragen ist auch, wie es um die primäre sinnliche Erfahrung in der Literatur bestellt ist. Atmosphären werden dort auch erzeugt, sicher, aber wodurch? Doch offenbar durch die Deutung der völlig unsinnlichen Zeichen beziehungsweise ihre Umwandlung zu Vorstellungsbildern. Der Gegensatz zwischen Zeichendeutung und Erfahrung ist also nicht so absolut, wie es Böhmes Skizze einer »neuen« Ästhetik nahelegt.