Michael Hauskeller
»Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit«, so lautet der Titel eines
1936 entstandenen Essays von Walter Benjamin. Darin werden die Veränderungen
beschrieben, die die Kunst dadurch erleidet, daß Gegenstände
und Ereignisse – etwa durch die Fotografie – mit einem Mal beliebig oft
und ohne jede Mühe im Bild wiederhergestellt werden können. Viele
moderne Entwicklungen der Kunst hängen nach Benjamin mit diesen neuen
Möglichkeiten zusammen.
Aber auch wo die Kunst traditionell
bleibt, nehmen wir sie nun in anderer Weise wahr, selbst die Kunst der
Vergangenheit. Leonardos Mona
Lisa zum Beispiel ist nicht mehr
die gleiche, seit sie uns nicht mehr nur im Louvre begegnet, sondern auch
in zahllosen Bildbänden und Postern, sowie auf diversen Alltagsgegenständen
wie T-Shirts, Aufklebern, Kaffeetassen usw. Benjamin zufolge geht durch
diese ständige Präsenz und Verfügbarkeit die gewohnte Gebundenheit
des Kunstwerks an das Hier und Jetzt verloren, »sein einmaliges Dasein
an dem Orte, an dem es sich befindet.« (Benjamin 1963: 13) Das zwanzigste
Jahrhundert erlebt und gestaltet so den Verlust dessen, was Kunstwerken
zuvor immer angehaftet hatte, dessen, was Benjamin ihre Aura nannte.
Es lohnt sich, hierauf etwas
näher einzugehen. Was soll das sein: die Aura eines Kunstwerks? Interessanterweise
erläutert Benjamin sein Verständnis dieses Begriffes nicht, wie
man aufgrund seines Themas hätte erwarten können, kunstimmanent,
sondern vielmehr am Beispiel einer Naturerscheinung (wobei ansonsten in
Benjamins Essay die Natur keine Rolle spielt). »An einem Sommernachmittag
ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der
seinen Schatten auf den Ruhenden wirft«, sagt Benjamin, »–
das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Also
kann nicht nur die Kunst, sondern auch, und vielleicht sogar vorrangig,
die Natur eine Aura haben. Wohlgemerkt: sie kann
eine
Aura haben, denn offenbar haben Naturgegenstände diese nicht grundsätzlich,
in jedem Fall, sondern nur dann, wenn bestimmte Wahrnehmungsbedingungen
erfüllt sind. Achten wir noch einmal genau auf den Wortlaut von Benjamins
Illustration: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug
am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden
wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«
Auffällig ist hier vor allem die Genauigkeit der Angaben: die Aura
wird einer bestimmten Jahreszeit und sogar einer bestimmten Tageszeit zugeordnet.
Nicht irgendwann soll sie zu erfahren sein, sondern an einem Sommernachmittag.
Und der sie wahrnimmt, arbeitet weder, noch spielt er, noch tut er überhaupt
irgend etwas. Vielmehr ruht er, und zwar im Schatten eines Baumes, folgt
dabei einem Gebirgszug oder einem Zweig und atmet
deren Aura. Lassen wir uns von der Grammatik nicht in die Irre führen:
Ruhen, folgen, atmen – wer dies tut, ist tätig nur insofern, als er
von allem Tätigsein abläßt, sich öffnet und bereit
hält für das, was ihm durch den Anblick der Dinge geschieht.
Er überläßt sich den Bergen, dem Zweig, allem, was sich
ihm zeigt, läßt sich von ihm führen und nimmt es in sich
auf, ohne Anstrengung, wie die Luft, die er atmet.
Nun spricht Benjamin nicht
von der Aura eines
Berges und der Aura eines
Zweiges,
sondern ausdrücklich von der Aura dieser
Berge,
dieses
Zweiges.
Von daher liegt es nahe anzunehmen, daß wer solchermaßen auratisch,
ja man kann sagen:
angeweht
wird (denn das griechische Wort Aura bedeutet Wind oder Hauch), so etwas
wie das individuelle Wesen der von ihm wahrgenommenen Gegenstände
erfährt. In einer Art kontemplativer Versenkung zeigt sich ihm, was
die Sache ihrem innersten Wesen nach ist, die »geheime Seele«
also, die nach Kandinsky in allen Dingen da ist, aber »öfter
schweigt als spricht« (zit. nach Hess 1956: 89).
Allerdings wird diese Deutung
problematisch, wenn man sich die Definition ansieht, die Benjamin selbst
für seinen Aura-Begriff gegeben hat. Die Aura, sagt er, sei zu verstehen
als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«
(ebd.: 18). Was mit dieser merkwürdigen Formulierung einer »Ferne,
so nah sie sein mag«, gemeint ist, darauf werden wir später
noch zu sprechen kommen. Konzentrieren wir uns jedoch zunächst nur
auf den Aspekt der Einmaligkeit,
der hier so hervorgehoben wird. Wenn die Aura wirklich einmalig ist, können
wir offenbar dieselbe Erfahrung, die wir in diesem Augenblick mit Berg
und Zweig (oder mit was auch immer) machen, nicht zu einem späteren
Zeitpunkt noch einmal machen, auch nicht an einem anderen Sommernachmittag,
im Schatten desselben Baumes, denn könnten wir es, wäre die Erfahrung
nicht einmalig. Daraus aber scheint zu folgen, daß, wenn wir tatsächlich
das Glück haben sollten, eines Sommernachmittags das Wesen eines bestimmten
Berges oder bestimmten Zweiges zu erfahren, uns dieses Wesen danach niemals
wieder begegnen könnte. Das heißt, es wäre prinzipiell
unmöglich, öfter als ein einziges Mal das Wesen irgendeines Gegenstandes
zu erfahren – so als würde sich für einen kurzen Augenblick ein
Tor zur Welt der Dinge öffnen, nur um dann für immer geschlossen
zu bleiben. Warum aber sollte das so sein? Ein solch rigider Offenbarungsmechanismus
bedürfte sicherlich einer metaphysischen Begründung, die Benjamin
nirgendwo auch nur andeutet. Wollen wir aber einer derart befremdlichen
Konsequenz entgehen, bleibt uns, denke ich, nur eine Möglichkeit:
Wir müssen das hinweisende Wort dieses
in Benjamins Beschreibung in einem sehr engen, nämlich strikt phänomenbezogenen
Sinne interpretieren: diese Berge, dieser Zweig, bezeichnen dann gar keine
Dinge,sondern
Erscheinungen.
Worin besteht der Unterschied? – Dinge sind raumzeitliche Einheiten; sie
werden von uns gedacht als mit sich selbst identische Träger einer
praktisch unendlichen Zahl wechselnder Erscheinungen. Der Tisch, an dem
ich schreibe, bleibt für mich ein und dasselbe Ding, auch wenn die
Beleuchtung wechselt, und ganz egal, aus welcher Perspektive ich ihn betrachte.
Zumeist bemerke ich die Veränderungen nicht einmal. Eine Erscheinung
hingegen ist genau das, was sich einem bestimmten Menschen zu einer bestimmten
Zeit an einem bestimmten Ort zeigt. Nehmen wir nun den Zweig Benjamins
nicht als Ding, sondern als Erscheinung, dann ist das, was wir morgen sehen
oder gestern gesehen haben, ein anderer Zweig. Derselbe wäre er nur
dann, wenn man ihn als Ding begriffe. Dinge verändern sich, Erscheinungen
wechseln.
»Die falschen Maler«,
sagte einmal Paul Cézanne in einem Gespräch mit Gasquet, »sehen
nicht diesen Baum,
Ihr
Gesicht, diesen
Hund, sondern den
Baum, das Gesicht,
den
Hund. Sie sehen nichts. Nichts ist jemals dasselbe.« (Gasquet 1948:
51)2 Aus
eben diesem Grund hat der Philosoph Ludwig Klages, ein Zeitgenosse Benjamins,
die sogenannte Realität,
nämlich die Realität der
Dinge, scharf von der Wirklichkeit
abgegrenzt, die für ihn ausschließlich die Wirklichkeit der
Bilder
war.
Klages vertrat die Ansicht, daß die Dinge, mit denen wir unsere Welt
ausstatten und die wir gewöhnlich für wirklich halten, in Wahrheit
bloße Konstrukte unseres Geistes seien, die uns dazu dienen, die
unerschöpfliche, unfaßliche Vielfalt der Erscheinungen nicht
nur zu ignorieren, sondern buchstäblich zu übersehen. Das Denken
der Dinge erlaubt uns, aktiv handelnd die Welt nach unserem Willen zu gestalten.
Zugleich aber verändert, ja korrumpiert sie unser Wahrnehmen: statt
die vorüberziehenden Bilder der Welt erlebend zu empfangen, erfaßt
unser pragmatisch zugerichteter Blick unmittelbar das vermeintlich Bleibende,
Feststehende, das Handhab- und Angreifbare, mit einem Wort: das Ding. (Vgl.
Klages 1964ff., Band 3: 416f.)3
Im eigentlichen Sinne wirklich ist jedoch nach Klages gerade nicht das
Ding, sondern nur die grundsätzlich nicht feststellbare, flüchtige
Erscheinung. Und weil diese nicht etwa, wie uns unser Vorurteil glauben
läßt, Erscheinung eines Dinges ist, sondern allenfalls von Welt,
weist sie auch keine festen Grenzen auf. Sie gibt sich uns immer als ungeteilte
Erlebnisganzheit, die alles mit einbezieht, was in der jeweiligen Wahrnehmungssituation
überhaupt gegeben ist, also nicht nur das, was wir als Berg und Zweig
zu bezeichnen gewohnt sind, sondern auch, um nur einiges zu nennen (denn
alles aufzuzählen wäre unmöglich), die Wärme und Trockenheit
der Luft, die Farben und Geräusche, die Gerüche, die uns umgeben,
der Schatten, das Rauschen der Blätter, das Zirpen der Grillen, kurz:
alles, was da ist, und zwar einschließlich dessen, was wir selbst
in diesem Augenblick an diesem Ort sind, also der Stimmung, in der wir
uns gerade befinden, den Erfahrungen, die wir gemacht haben usw. (Vgl.
Klages 1964ff., Band 4: 613) Subjekt und Objekt lassen sich hier gar nicht
mehr sinnvoll trennen: sie bedingen sich gegenseitig, oder vielmehr fallen
sie zusammen, verschmelzen in einem einmaligen Erlebnis.
Wir waren ausgegangen vom
Aura-Begriff Walter Benjamins und sind dann der Frage gefolgt, wie in diesem
Zusammenhang die Rede von der »einmaligen Erscheinung« zu verstehen
sei. Die von Klages vorgenommene Unterscheidung von Ding und Erscheinung
ließ uns verstehen, daß Erscheinungen im engeren Sinne immer
einzigartig sind, und zwar vor allem deshalb, weil sie stets Ausdruck der
gesamten Wahrnehmungssituation
sind, in der sich ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Augenblick
befindet. Wie sich mir etwas zeigt, hängt davon ab, wie sich mir die
Welt im ganzen zeigt, und das wiederum davon, wie sie sich mir bislang
gezeigt hat. Aber was heißt das genau: »wie sich mir etwas
zeigt«? Weder läßt sich dieses Wie des Zeigens eindeutig
dem Gegenstand noch dem Wahrnehmenden zuordnen. Diese lassen sich ja, wie
gesagt, im konkreten Erleben gar nicht deutlich voneinander trennen, weshalb
man vielleicht besser statt von Subjekt und Objekt nur vom Subjektpol und
vom Objektpol der Wahrnehmung sprechen sollte. Damit wäre zumindest
gewonnen, daß Subjekt und Objekt eher als begleitende Attribute des
Wahrnehmungsprozesses denn als bereits fertige Entitäten genommen
werden, zwischen denen dann auch noch so etwas wie Wahrnehmung stattfindet.
Das Wie des Zeigens meint die aller Wahrnehmung zugrunde liegende Urbeziehung,
den primären Prozeß des Ins-Verhältnis-Setzens, aus dem
dann die Beziehungsglieder Ich und Welt erst nachträglich abstrahiert
werden. Denn kein Was ist ohne Wie, das heißt alles, was sich uns
zeigt, zeigt sich uns in einer bestimmten Weise, und nur weil
es
sich in einer bestimmten Weise (eben so und nicht anders) zeigt, zeigt
es sich überhaupt. Nichts von dem, was wir wahrnehmen, ist einfach
nur da, als reine, für sich bestehendeTatsache, sondern es
bedeutet irgend etwas, stellt sich
in einen Zusammenhang, und zwar für mich beziehungsweise für
den, dem es sich zeigt. Ich sehe, um ein Beispiel zu geben, nicht einfach
ein Gesicht, sondern ich sehe ein bekanntes Gesicht oder ein unbekanntes,
ein sympathisches oder unsympathisches, ein geliebtes oder ein gleichgültiges,
ein jetzt gerade erwartetes oder ganz und gar unerwartetes, eines, das
ich im Augenblick nicht zu sehen wünsche oder im Gegenteil eines,
das zu sehen ich mich lange gesehnt habe. Kurz gesagt kann ich nichts wahrnehmen,
ohne in irgendeiner Weise dazu Stellung zu nehmen, und das heißt,
emotional an dem, was ich wahrnehme, beteiligt zu sein. (Selbst die Gleichgültigkeit
ist eine solche Stellungnahme, eine Art Negativform des Beteiligtseins.)
Wahrnehmen heißt eben nicht einfach nur registrieren, was da ist,
sondern auch, es zugleich zu
empfinden,
das heißt affektiv zu bewerten und derart in die eigene, durch Erfahrungen
errichtete Welt einzubauen. Diese oft übersehene, aber gleichwohl
grundlegende, affektive Dimension der Wahrnehmung wird in der neueren philosophischen
Diskussion meist mit dem Begriff Atmosphäre
bezeichnet. (Vgl. Hauskeller 1995; Schmitz 1969, 1977, 1978; Böhme
1995)
Das Wort ist in unserer
Alltagssprache geläufig genug. Man spricht etwa von der Atmosphäre
eines Raumes, eines Gebäudes, oder auch einer Landschaft. Tatsächlich
geraten wir, wo immer wir hingehen, in eine bestimmte, uns mehr oder weniger
bewußte Atmosphäre hinein. In jedem Raum herrscht irgendeine
Atmosphäre, wenn auch nicht notwendig für jeden Anwesenden die
gleiche. Bei einem Vortrag mag es für manche eine Atmosphäre
gespannter Aufmerksamkeit sein, für andere hingegen ist es eine Atmosphäre
abgrundtiefer Langeweile. Aber egal wie die Atmosphäre beschaffen
ist, die wir wahrnehmen: es gibt jedenfalls eine für uns, und das
meint nicht einfach nur, daß wir alle beim Zuhören bestimmte
Gefühle haben. Es meint vielmehr, daß wir dabei unsere Umgebung
selbst als Herd oder Quelle dieser Gefühle wahrnehmen. Wenn wir uns
langweilen, dann erleben wir diese Langeweile nicht nur als innerliche,
gänzlich subjektive Regung, sondern als etwas, das von einer bestimmten
Sache ausgeht, von ihr in den Raum ausstrahlt und uns dann mit umfängt.
Die Atmosphäre füllt sozusagen den Raum und färbt ab auf
die in ihm enthaltenen Dinge; und es gibt nichts, das keine Atmosphäre
hätte, das heißt keinen Ort und keine Zeit, die für uns
atmosphärenfrei wäre.
Kehren wir nun zurück
zu Benjamin. Die Aura, hatte sich gezeigt, kann unter der Bedingung der
Einmaligkeit nur als Aura einer Erscheinung (»dieser Berge, dieses
Zweiges«) und nicht als Aura eines Dinges verstanden werden. Ferner
sahen wir, daß wir sie nur dann erfahren können, wenn bestimmte
Wahrnehmungsbedingungen erfüllt sind, nämlich das Vorhandensein
einer kontemplativen Ruhe, zu der uns zum Beispiel ein entspannt im Schatten
zugebrachter Sommernachmittag verhilft. Demnach sind auratische Erfahrungen
offenbar selten. Atmosphäre hingegen erleben wir immer, egal wie und
wo wir uns befinden, egal ob es regnet oder schneit, ob wir arbeiten, ein
Buch lesen oder Karten spielen. Die Berge wirken zweifellos anders, wenn
ein Gewitter aufzieht als wenn die Sonne scheint, aber sie wirken.
Von daher ist klar, daß Atmosphäre und Aura nicht dasselbe meinen
können. Atmosphären sagen uns in der Regel nichts über die
Welt für sich selbst genommen, sondern lediglich etwas über unser
momentanes Verhältnis zu ihr (und ihr Verhältnis zu uns). Ist
der Himmel heiter, so ist er eben für uns heiter – was nicht heißt,
daß es völlig beliebig wäre, wie er uns erscheint. Unter
den gleichen objektiven Bedingungen würden wir ihn nicht als düster
wahrnehmen, wohl aber vielleicht als kalt und mitleidlos (je nach dem,
in welcher Stimmung wir den Himmel betrachten). (Vgl. Hauskeller 1995:
46)
Heiter ist also ein Himmel,
der uns heiter stimmt beziehungsweise von dem wir wissen, daß er
dies gewöhnlich zu tun pflegt. Wenn aber Benjamin in bezug auf Naturerscheinungen
von Aura spricht, so scheint er etwas anderes im Sinn zu haben als das,
etwas, das über die bloße Verhältnisbestimmung hinausgeht,
nämlich so etwas wie eine Offenbarung des Wesens der Welt. Während
die Atmosphären, die wir wahrnehmen, in ihrem Charakter immer entscheidend
von uns und unserer augenblicklichen Beschaffenheit mitgestaltet werden,
scheinen Auren nur erfahrbar, wenn wir uns so gut es irgend geht zurücknehmen,
uns in einen möglichst neutralen, durch keinerlei Voraussetzungen
getrübten Zustand versetzen. Kants bekannte Bestimmung des Ästhetischen
als interesseloses Wohlgefallen wirkt hier nach, sowie Schopenhauers Rede
vom reinen Erkenntnissubjekt, das zum »klaren Spiegel des Objekts«
geworden sei. (Schopenhauer 1988: § 34) Für Schopenhauer war
dieses Objekt, das sich angeblich im ästhetischen Zustand zeigt, allerdings
eine überzeitliche Idee, zum Beispiel das, was der
Mensch an sich, seinem Wesen nach ist. Benjamin hingegen betont, wie wir
sahen, die Einmaligkeit der auratischen Erfahrung, was nur Sinn macht,
wenn wir die Erscheinung oder, mit Klages zu sprechen, das Bild als deren
Objekt begreifen. Damit würde er, wenn man vom Ding als dem gewöhnlichen
Objekt der Wahrnehmung ausgeht, sich genau in die entgegengesetzte Richtung
wenden wie Schopenhauer, denn das Bild verhält sich ja zum Ding wie
dieses zur Idee. Das Ding ist nichts als die Erscheinungsweise der Idee
unter den Bedingungen von Raum und Zeit und das Bild wiederum ist eine
Erscheinungsweise des Dinges.
Nun läßt sich
wohl verstehen, wie Schopenhauer meinen kann, daß sich im ästhetischen
Erleben das Wesen der
Dinge offenbart. In den Ideen erscheinen die Dinge eben befreit von allen
Zufälligkeiten des Daseins. So zeigt etwa die Idee des Menschen das
Typische
des Menschen, das, was wir alle als Menschen gemein haben, oder die Möglichkeiten,
die wir als Menschen haben, aber sie zeigt nicht, was es bedeutet, gerade
dieser
Mensch
und kein anderer zu sein. Benjamin aber kennt, wie es aussieht, keine solchen
Ideen. Seine Aura soll einer einmaligen, auf das Hier und Jetzt konzentrierten
Erscheinung zukommen. Wenn das aber so ist: was für ein Wesen
beziehungsweise wessen Wesen sollte
uns dann dergestalt offenbart werden? Denn wir können ja nicht sagen,
daß das Wesen der Erscheinung eben die Erscheinung sei und nichts
weiter, weil dann alle Erscheinungen auratisch sein müßten (wie
sie alle atmosphärisch sind). Aura ist aber nach Benjamin gerade nicht
jede
Erscheinung, sondern nur die Erscheinung »einer Ferne, so nah sie
sein mag«.
Benjamin selbst hat dieses
Problem nicht weiter reflektiert, aber Klages hat es getan. Auch er mußte
erklären, wie Erscheinungen, die ständig wechseln und sich niemals
wiederholen, dennoch irgend etwas Wesenhaftes in Erfahrung bringen können.
Und er löste das Problem (oder versuchte es zu lösen) dadurch,
daß er das Wesen nicht als eines von Dingen oder gar Ideen verstanden
wissen wollte, sondern als das Wesen wirkender Mächte. (Klages, Band
2: 1119) Gewöhnlich geben wir diesen Mächten Namen wie Wald,
Wind, Berg usw., aber damit weisen wir nur höchst vage auf etwas hin,
was sich gar nicht anders verstehen oder besser: erspüren läßt,
als eben durch die unendliche Zahl von Erscheinungen hindurch, die das
Wesen dieser Macht zum Ausdruck bringen. Die Macht ist also nur wirklich
in den Erscheinungen. Sie läßt sich daher auch nicht vom Bild
lösen und in Begriffe bannen, läßt sich nicht definitorisch
ein- und abgrenzen und so handhabbar machen. Geben wir ihr einen Namen,
sind wir schon in der Gefahr, eine Bestimmtheit vorzutäuschen, die
so weder in den Erscheinungen noch in den zugrunde liegenden Mächten
gegeben ist. Letzten Endes ist es daher wohl immer dieselbe wirkende Macht,
die sich in allen Erscheinungen ausdrückt und die wir gewöhnlich,
hilflos genug, Natur nennen.
Um sie zu verstehen, müssen wir ihre Erscheinungen studieren, die
vielfältigen Weisen, in denen sie sich äußert, aber nicht
indem wir ordnen und klassifizieren, sondern indem wir sie auf uns wirken
lassen, in einer Art hingebungsvollen Mitvollzugs. Cézanne war der
Meinung, daß sich in der einzelnen Erscheinung das Ganze der Welt
mit offenbare. Von den Früchten, die er malte, sagte er: »Sie
kommen zu Ihnen in allen ihren Gerüchen, erzählen Ihnen
von den Feldern, die sie verlassen haben, von dem Regen, der sie genährt,
von den Morgenröten, die sie erschaut.« (Gasquet 1948: 127)
Und er fügte hinzu: »Warum zerteilen wir die Welt? ... Es gibt
Tage, an denen mir das Weltall nur mehr wie eine einzige Flut erscheint,
ein luftiger Strom von Reflexen, von tanzenden Reflexen, rings um die Ideen
des Menschen.« (Ebd.)
Und jetzt sind wir, glaube
ich, auch so weit, Benjamins Rede von der »einmaligen Erscheinung
einer Ferne, so nah sie sein mag«, besser zu verstehen. Die Aura
von irgend etwas spüre ich immer dann, wenn ich dessen gewahr werde,
daß ich etwas Unerreichbares vor mir habe, etwas, das ich weder in
seinem Wesen abschließend zu begreifen noch mir in sonst einer Weise
anzueignen vermag. Der Anschein der Nähe, den die Welt gewöhnlich
für uns trägt, ist eine Illusion, die Illusion der Verfügbarkeit.
Es gibt etwas an den Dingen, an das wir niemals herankommen werden, etwas,
das sich uns ständig entzieht, was nur sie selbst betrifft, eine Transzendenz,
Entrücktheit, Fremdheit oder wie auch immer man es nennen will. Benjamin
nennt es Ferne, und es ist diese Ferne, der wir in der Aura begegnen. Wir
könnten es auch, wie ich es an anderer Stelle getan habe, Schönheit
nennen. (Hauskeller 1998) Indem wir uns selbst ganz zurücknehmen (ruhend
im Schatten an einem Sommernachmittag), erleben wir die Welt als etwas,
das in seiner Existenz nicht auf uns angewiesen ist, das etwas für
sich selbst ist, lange bevor es etwas für uns ist. Diese Berge, dieser
Zweig, sie brauchen mich nicht, kennen mich nicht, und ich bin machtlos
ihnen gegenüber. Auch wenn ich direkt vor ihnen stehe, bleibt der
Weg, der uns voneinander trennt, unendlich, es ist eine untilgbare Ferne
zwischen uns. Das, was wir von ihnen spüren, diese ihre Aura, bringt
uns daher der Sache nicht näher, es sei denn, in dem Sinne, daß
wir uns ihr unterwerfen und gleichsam von ihr assimiliert werden. Benjamin
unterscheidet in diesem Sinne die Aura von der Spur. »Die Spur ist
Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ.
Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.
In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie
sich unser.« (Benjamin 1982: 560) Diese Bemächtigung ist ein
Akt des Sich-zur-Geltung-Bringens: eine Sache (eine Macht) macht sich in
ihrer Wirklichkeit geltend.
Die Aura ist die Erfahrung
einer Präsenz, und zwar einer reinen Präsenz, weil nicht dieses
oder jenes präsent wird, obwohl es immer etwas Bestimmtes, etwas Besonderes
ist, an dem wir die Präsenz erfahren. Es herrscht hier eine merkwürdige
Dialektik von Sein und Nichts: für uns da ist eigentlich nur das,
was sich nahtlos unserer Verständnisordnung einfügt. Was sich
aber so einfügt, verliert seine Eigenständigkeit und ist somit
(für sich selbst genommen) nichts. Was aber nichts ist, weil wir es
in keiner Weise einordnen können, ist gerade deshalb am meisten seiend.
So verdeckt, wie Heidegger gesagt hätte, das Seiende (weil immer etwas
Bestimmtes) das Sein. Um an das Sein selbst heranzukommen, muß man
durch das Seiende hin durchsehen.
Wenden wir uns nun wieder
der Kunst zu. Wie können wir das Gesagte für das Verständnis
von Kunst fruchtbar machen? Gernot Böhme schreibt in seinem Buch zur
Atmosphäre, daß die Kunst den Blick beziehungsweise die sinnliche
Erfahrung im allgemeinen von deren üblicher Befangenheit in Handlungskontexten
entlastet und uns so die Möglichkeit gibt, Atmosphären in aller
Ruhe auf uns wirken zu lassen, denn es wird dabei nicht erwartet, daß
wir irgend etwas tun. Die Kunst, schreibt Böhme programmatisch, habe
»die Aufgabe, die menschliche Sinnlichkeit überhaupt erst zu
entwickeln« (Böhme 1995: 16). Böhme plädiert für
eine »neue Ästhetik«, deren Grundbegriff eben der der
Atmosphäre sein soll. Bisherige ästhetische Theorien hätten
das Gewicht viel stärker auf die Beurteilung
des Werks gelegt, also versucht Kriterien zu entwickeln, mit deren Hilfe
man sich darüber austauschen, reden und streiten konnte. Der sprachliche
Aspekt hat so den eigentlich ästhetischen, nämlich sinnlichen
verdrängt: Kunst wurde beinahe ausschließlich semiotisch behandelt,
als ein System von Zeichen, das es für den Betrachter zu entschlüsseln
gilt. Böhme hält dem entgegen, daß »ein Kunstwerk
zu allererst selbst etwas ist, eine eigene Wirklichkeit besitzt«
(ebd.: 23). Das Kunstwerk betrifft uns immer schon unmittelbar in einer
charakteristischen Weise, es läßt uns dies oder jenes
fühlen. Diesbezüglich
unterscheidet sich die Kunst im engeren Sinne gar nicht von anderen Techniken
wie der Innenarchitektur, der Bühnenbildnerei, der Kosmetik oder der
Werbung. Die neue Ästhetik soll daher auch die »stark normative
Orientierung« der bisherigen Ästhetik aufgeben und die Frage,
was Kunst ist und was nicht beziehungsweise gute und schlechte Kunst, in
den Hintergrund stellen. Ihr Thema soll statt dessen die ästhetische
Arbeit in ihrer ganzen Breite sein, wobei unter ästhetischer Arbeit
eben die Produktion von At-mosphären zu verstehen ist. (Vgl. ebd.:
25)
Nun hat Böhme sicher
recht damit, das atmosphärische Moment am Kunstwerk hervorzuheben
und damit die primäre sinnliche Erfahrung wieder stärker in Erinnerung
zu rufen. Allerdings entledigen wir uns auf diese Weise auch vielleicht
allzu leicht der Frage, worin sich das, was wir gewöhnlich Kunst nennen,
von all den anderen atmosphärenerzeugenden Techniken unterscheidet.
Der Begriff der Atmosphäre hilft uns anscheinend nicht, den Kunstcharakter
der Kunst im engeren Sinne zu verstehen.4
Vielleicht kommen wir weiter
mit dem Begriff der Aura. Auch Böhme hebt ja hervor, daß die
Kunst den Betrachter von jeglichem Handlungskontext entlastet, und dies
ist, wie wir gesehen haben, auch eine Bedingung der Aura, so wie Benjamin
sie in die Diskussion eingeführt hat. Allerdings geht Böhme
über die Aura schnell hinweg, weil er darin »gewissermaßen
Atmosphäre überhaupt« erblickt, »die leere charakterlose
Hülle seiner (?) Anwesenheit« (Böhme 1995: 26) Gleichzeitig
aber versteht er das Auratische mit Benjamin allerdings auch als et-was
Achtungs- und Distanzgebietendes, was meines Erachtens nicht ganz zusammenpaßt,
da längst nicht jede Atmosphäre in dieser Weise empfunden wird.
Zum Beispiel nicht die Heiterkeit, nicht das Grauen, nicht die Langeweile.
Hier wird Distanz nicht geboten, sondern vielmehr aufgehoben. Dann wäre
die Aura vielleicht eher eine bestimmte Art von Atmosphäre. Wenn Böhme
Aura dennoch als »Atmosphäre überhaupt«, als »leere
charakterlose Hülle von Anwesenheit« verstanden wissen will,
dann deshalb, weil Atmosphären für ihn immer schon Weisen sind,
wie Dinge im Raum anwesend und in ihrer Präsenz spürbar werden.
Und auch die Aura läßt uns ja Dinge oder besser: Welt spürbar
werden. Aber sie tut es eben doch in einer ganz bestimmten Weise, nämlich
so, daß wir in der Nähe zugleich ihre Distanz erfahren.
Nach Benjamin ist die moderne
Kunst gekennzeichnet durch den zum Teil bewußt herbeigeführten
Verlust der Aura. Denken wir an die Aufwertung des Alltäglichen in
dadaistischen oder kubistischen Collagen, an Duchamps Readymades, oder
an Brechts episches Theater. Böhme meint allerdings, daß der
Versuch, die Aura loszuwerden, gescheitert sei, denn: »dadurch, daß
Duchamp ein Readymade zum Kunstwerk erklärte, hat er es auratisiert«
(ebd.). Ich habe ernsthafte Zweifel, ob das wirklich so ist. Bekommt eine
Sache tatsächlich allein deshalb eine Aura (so wie Benjamin dieses
Wort verstand), weil ich (oder meinetwegen ein anerkannter Künstler)
sie zur Kunst erklärt,
oder weil sie in einem geeigneten Rahmen wie einem Museum ausgestellt wird?
Ich will nicht ausschließen, daß dies passieren kann, aber
ist es notwendig? Ich glaube nicht. Stellen wir uns vor, wie die Menschen
damals reagiert hätten, wenn Duchamp ihnen, wie er es vorhatte, in
einer Au-stellung ein gewöhnliches Pissoir als Kunstwerk präsentiert
hätte: einige sicher mit völligem Unverständnis, andere
empört, einige erheitert. Äußerst unwahrscheinlich hingegen
ist, daß einer von ihnen daran so etwas wie eine Aura wahrgenommen
hätte.
Vielleicht aber ist das
ja heute anders. Der zeitliche Abstand verändert unsere Wahrnehmung
(vieles von dem, was wir heute als große Kunst anzusehen gewohnt
sind, wurde zu seiner Zeit verlacht und verachtet). Vielleicht gehen wir
heute ins Museum, stoßen dort auf Duchams Pissoir und denken uns,
vertraut mit der Geschichte der modernen Kunst: »Das ist tatsächlich
das berühmt berüchtigte Pissoir, das seinerzeit so viel Aufregung
verursacht hat.« Und erstarren in andächtiger Betrachtung. –
Immer noch nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich. Am wahrscheinlichsten
tritt dieser Effekt bei so einem berühmten Werk wie der Mona
Lisa ein, die im Louvre ständig
von Touristen umlagert ist. Man steht davor und denkt: »Das ist es
nun! Keine Kopie (obwohl es sich faktisch um eine solche handeln mag),
sondern das echte, das Original, gemalt von dem großen Leonardo da
Vinci höchstpersönlich.« Aber ist es das, was Benjamin
mit dem Wort Aura bezeichnen wollte, die »einmalige Erscheinung einer
Ferne, so nah sie sein mag«? Sicher nicht. Der englische Schriftsteller
und Kunstkritiker John Berger spricht hier zu Recht von einer »Atmosphäre
unechter Religiosität«, in die das Kunstwerk eingeschlossen
sei. (Berger 1974: 21) Diese Atmosphäre ist nicht mit der Aura identisch,
sondern ersetzt sie vielmehr. Wir nehmen das Werk zwar immer noch als einmalig
wahr, aber gar nicht mehr in dem, was es zeigt, in seiner einmaligen Erscheinung,
sondern nur noch in seiner dinglichen Materialität. Dieses Ding, was
auch immer es ist, ist ein großes Kunstwerk, und weil ich das weiß,
bewundere ich es. Für mich ist es das Original der vielen Reproduktionen,
die ich schon von ihm gesehen habe. (Vgl. ebd.) Das ist im Prinzip der
gleiche Effekt, wie ihn auf manche Bibliophile eine Erstausgabe eines berühmten
Werks hat (erst gar mit einer Widmung des Autors), oder auch eine seltene
Briefmarke auf den Sammler. Das Kunstwerk wird damit zum Fetisch, aber
das heißt nicht, wie Böhme meint, daß es auf diese Weise
seine Aura wiedergewonnen beziehungsweise gar nicht erst verloren hat.
Der Kunst- und Kulturphilosoph
Dieter Mersch vertritt die Auffassung, daß eine Reauratisierung der
Kunst heute nur im performativen Bereich möglich sei, wenn etwas geschieht,
was sich der Kategorisierung entzieht. Nur wo Kunst als zeitlich eng begrenztes,
flüssiges Ereignis
inszeniert werde, als unwiederholbares Happening, könne Aura heute
noch erfahren werden. »Performativer Kunst«, schreibt Mersch,
»wird ihre Aura gerade durch ihre Ereignishaftigkeit, dem Vollzug
einer Transzendenz und der Überschreitung des Gegebenen zurückerstattet.«
(Mersch 1997) Ich denke, daß Mersch mit diesen Prädikaten den
Charakter des Auratischen genauer gefaßt hat als Böhme, nur
glaube ich nicht, daß wir zur Wiederherstellung der Aura eine spezifisch
performative Kunst nötig hätten. Kunst ist in gewisser und zwar
entscheidender Hinsicht immer performativ, insofern sie nur dann zu uns
spricht und uns berührt, wenn wir sie auch sprechen und uns von ihr
berühren lassen – falls sie es zuläßt. Auch die Begegnung
mit einem Bild oder einer Statue kann, auch heute noch, zum Ereignis werden
und uns zugleich Präsenz und Transzendenz, die »Überschreitung
des Gegebenen« fühlen lassen, wenn wir uns nur einlassen auf
das, was sich uns zeigt. Diese Begegnung ist dann so einmalig wie Benjamins
sommernachmittägliche Betrachtung eines Zweiges im Schatten eines
Baumes. »Jedes Kunstwerk«, schreibt Rüdiger Bubner in
einem kleinen Aufsatz mit dem Titel »Zur Analyse ästhetischer
Erfahrung«, »ist ein ›singulare tantum‹. Es gehört nicht
wie ein Fall unter eine Regel oder wie eine Instanz unter einen allgemeinen
Typus. Alles kommt auf seine eigentümliche, nur in ihm verwirklichte
Physiognomie an. Will man es erfahren, muß man sich ihm in seiner
konkreten Einzigkeit stellen. Die Sinnlichkeit muß sich einlassen
auf diese unverwechselbare Farbgebung, die nie geahnte Lichtführung,
den nicht zu wiederholenden Pinselstrich, auf die singuläre Fügung
der Worte, die unerhörte Bearbeitung des Tonmaterials oder die eigenwillige
Komposition.« (Bubner 1989: 59)
Unverwechselbar, nie geahnt,
nicht zu wiederholen, singulär, unerhört und eigenwillig. Jedes
echte Kunstwerk ist eine einmalige Erscheinung wie die natürlichen
Ereignisse, von denen Benjamin spricht. Aber was uns in der Natur ständig
entgleitet, hält die Kunst für die Erfahrung fest. Sie hält
gewissermaßen die Zeit an, bannt den flüchtigen Augenblick und
gibt uns so die Möglichkeit, seine Besonderheit wahrzunehmen, das
nicht zu Verallgemeinernde und daher Fremde an ihm, die Wirklichkeit und
Präsenz, die in ihm zum Vorschein kommt. Zwar kann jedes beliebige
Ding eine Aura entfalten, aber gewöhnlich tut es das eben nicht. Die
Welt wird eben nicht immer in ihrer uneinholbaren Wirklichkeit erfahren,
auch wenn sie immer irgendwie erfahren wird. Vielleicht besteht der Prozeß
der Kunst gerade darin, diese seltene und merkwürdige Erfahrung der
Präsenz zu erzeugen. Denken wir an eine Gruppe gewöhnlicher Gegenstände,
eine Schale von Früchten etwa, deren Erscheinung wir niemals weiter
beachten. Das Stilleben hebt sie plötzlich in unsere Aufmerksamkeit
und zeigt sie uns so, wie wir sie noch nie gesehen haben. »Man glaubt«,
sagte Cézanne, »daß eine Zuckerdose keine Physiognomie,
keine Seele hat. Aber das verändert sich auch täglich. Man muß
sie zu nehmen wissen, sie umschmeicheln, diese Herren da ... Diese Gläser,
diese Teller, die sprechen miteinander.« (Gasquet 1948: 126) Nur
sprechen sie, um im Bild zu bleiben, zuweilen eben sehr leise. Man muß
viel Geduld haben, muß lauschen, um sie zu hören. Die Aufgabe
der Kunst wäre es dann, die Sprache der Erscheinungen für uns
lauter zu machen, uns, die wir notorisch schwerhörig durchs Leben
gehen. Restlos verstehen werden wir sie dennoch nicht: es ist schon viel,
wenn wir hören, daß sie sprechen. Und dazu müssen wir,
wie Kandinsky einmal bemerkte, in den Bildern spazieren gehen, wie in einer
fremden Welt mit ihren eigenen Gesetzen. Vielleicht ist das Lächeln
der Mona Lisa am Ende gerade deshalb so berühmt, weil es ein Wesensmerkmal
der Kunst überhaupt verkörpert, nämlich das Geheimnisvolle
und Unausdeutbare, das nicht begrifflich zu Vereinnahmende, ohne das die
Kunst zur banalen Wiederholung des bereits Bekannten verkommt, wie es heute
nur zu oft der Fall ist.
Literatur:
Benjamin, Walter
(1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit.
Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main
Benjamin, Walter
(1982): Gesammelte Schriften V.1: Das
Passagen-Werk,
Frankfurt am Main
Berger, John (1974):
Sehen. Das Bild der Welt in der BIlderwelt, Reinbek bei
Hamburg
Böhme, Gernot
(1995): Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am
Main
Bubner, Rüdiger
(1989): »Zur Analyse ästhetischer Erfahrung«, in: ders.:
Ästhetische
Erfahrung, Frankfurt am Main, S. 52-6
Gasquet, Joachim
(1948): Cézanne. Drei Gespräche, Berlin
Großheim,
Michael (1994): Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin
Hauskeller, Michael
(1995): Atmosphären erleben, Berlin
Hauskeller, Michael
(1997): »Natur als Bild. Naturphänomenologie bei Ludwig Klages«,
in: Böhme, Gernot/Schiemann, Gregor (Hrsg.): Phänomenologie der
Natur, Frankfurt am Main, S. 120-132
Hauskeller, Michael
(1998): »Ist Schönheit eine Atmosphäre? Zur Bestimmung
des landschaftlich Schönen«, in: Hauskeller, Michael u. a. (Hrsg.):
Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt am Main, S. 161-175
Hess, Walter (Hrsg.)
(1956): Dokumente zum Verständnis der modernen
Malerei, Reinbek
Klages, Ludwig
(1964ff.): Sämtliche Werke, Bonn
Mersch, Dieter
(1977): »Ereignis und Aura. Zur Dialektig von
ästhetischem
Augenblick und kulturellem Gedächtnis«, in:
Musik und Ästhetik,
Heft 3/1977, S. 20-37
Schmitz, Hermann
(1969): System der Philosophie, III.2, Bonn
Schmitz, Hermann
(1977): System der Philosophie, III.4, Bonn
Schmitz, Hermann
(1978): System der Philosophie, III.5, Bonn
Schopenhauer, Artur
(1988): Die Welt als Wille und Vorstellung I (Artur Schoppenhauers Werke
in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben
von Lüdger Lütkehaus, Zürich 1988, Bd. 1)
Anmerkungen
1 Vortrag, gehalten
am 25.9.1998 am Frauensee (Reutte/Tirol), auf der von der Hessischen Gesellschaft
für Demokratie und Ökologie, der Petra-Kelly-Stiftung Bayern
und der Münchner Pädagogischen Aktion/SPIELkultur e. V. veranstalteten
Tagung »Natur, Kunst, Ästhetik, Bildung, Ökologie«.
Für wichtige Hinweise danke ich Dieter Mersch.
2 Vgl. Heraklits
berühmte Sentenz: »In die gleichen Ströme steigen wir und
steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.« (Diels/Kranz,
Fragment B 49a)
3 Eine ausführliche
Darstellung dieser grundlegenden Unterscheidung findet sich in meinem Aufsatz
»Natur als Bild. Naturphänomonologie bei Ludwig Klages«
(1997). Zur Einordnung von Klages Position in die phänomenologische
Bewegung vgl. das Standardwerk von Michael Großheim (1994).
4 Zu fragen ist
auch, wie es um die primäre sinnliche Erfahrung in der Literatur bestellt
ist. Atmosphären werden dort auch erzeugt, sicher, aber wodurch? Doch
offenbar durch die Deutung der völlig unsinnlichen Zeichen beziehungsweise
ihre Umwandlung zu Vorstellungsbildern. Der Gegensatz zwischen Zeichendeutung
und Erfahrung ist also nicht so absolut, wie es Böhmes Skizze einer
»neuen« Ästhetik nahelegt.