ZEITSOUVERÄNITÄT ZUR GESTALTUNG WECHSELSEITIGER ABHÄNGIGKITEN

von Christel Eckart 


1.

Das Wort von der Zeitsouveränität soll als die Möglichkeit verstanden werden, Zeit nach eigenen Bedürfnissen und Interessen zu verbringen. Frauen und Männer nähern sich dem Thema "Zeit" aus verschiedenen sozialen Situationen und Erfahrungen mit Interessen, die einander widerstreiten können. Zeitsouveränität könnte für Frauen heißen, Zeit für eigene Interessen, jenseits der vorgegebenen Zuordnung zu FamiIie und Beruf, Zeit nach eigener Entscheidung in beiden Institutionen, in einer oder keiner davon zu verbringen. 

Wenn Arbeitszeiten zum "allgemeinen" politischen Thema wurden, haben sich Frauen immer wieder zu Wort gemeldet, um für die Anerkennung ihrer Interessen zu streiten. Denn zum einen ist für die meisten Frauen Arbeitszeit nicht auf Erwerbstätigkeit beschränkt, sondern auch gebunden in Hausarbeit und Arbeit für die Familie. Zum anderen hatten und haben die wenigsten erwerbstätigen Frauen in Deutschland „Normalarbeitsverhältnisse" und "Normalarbeitszeiten" gemessen an Modellen für Männer. Vielmehr ist dieser männliche Maßstab von Normalität auf der Grundlage der reproduktiven, ungemessenen und unbezahlten Arbeit von Frauen errichtet worden, während der berufstätige Mann von diesen Tätigkeiten und von der Erwartung, sie verantwortlich zu übernehmen, "freigestellt" ist. 

In Anerkennung dieser sozialen Tatsachen haben Feministinnen wiederholt die Forderung formuliert, wenn die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern realisiert werden solle, müßten die Regelungen der Erwerbsarbeitsverhältnisse "vom Leitbild des von der Familienarbeit entlasteten männlichen Arbeitnehmers als Normalarbeiter abrücken. Der Mensch, der für sich, seine Kinder, die Familie materielle und emotionale Reproduktionsarbeit leistet, soll zum Maßstab es Normalarbeitnehmers/der Normalarbeitnehmerin genommen werden." (So formulierten Frauen der ÖTV auf ihrem Gewerkschaftstag 1988.) Dieser Maßstab stellt die Anerkennung von Fürsorglichkeit in den Mittelpunkt der Bewertung, nicht das auf den homo oeconomicus reduzierte Konstrukt einer Arbeits-Monade. 


2. 

Die Verbindung der Diskussion um die Arbeitszeit mit der um den Sozialstaat öffnet den Blick auf andere soziale Integrationsformen als die der Erwerbsarbeit. Der Maßstab für Zeitsouveränität könnte dann so formuliert werden: Arbeitszeitverhältnisse sind danach zu beurteilen, ob sie das Leben in verläßlichen, selbstgewählten Solidargemeinschaften ermöglichen. 
In der Einladung zum Kongreß heißt es: "Benötigt werden visionäre Konzepte, die eine Stärkung von >Sozialzeit< jenseits der Arbeitszeit anstreben und entsprechende Arbeitszeitmodelle entwickeln, die soziale Sicherung von der ausschließlichen Orientierung auf Erwerbsarbeit entkoppeln, mehr Zeitsouveranität ermöglichen und selbstorganisierte Zusammenhänge der Zivilgesellschaft fördern und entfalten helfen. 

Weiter wird behauptet: "Neue Werteorientierungen, Motivationen und Präferenzen entstehen: Soziale Bindungen und Solidarität können immer weniger durch unhinterfragte, traditionale Werte und formale Autoritäten gestiftet werden. Soziales Engagement sucht nach einer neuartigen Verbindung von Kontakt- und Selbstverwirklichungsmotiven, persönlicher Betroffenheit sozialer Gesinnung und Veränderungswillen." 

Auch diese Krisenrhetorik behauptet eine Allgemeinheit, die genauer betrachtet werden muß. Waren die aufgezählten wirklich bisher die wichtigsten Garanten sozialer Bindung? Die vor über 15 Jahren erstellte Diagnose von der "Krise der Arbeitsgesellschaft" wurde von einer feministischen Kritik präzisiert als eine Krise der Lohnarbeitsgesellschaft. Sie wies darauf hin, daß dieser Gesellschaft die Arbeiten, vor allem die Tätigkeiten für die unmittelbare Versorgung von Menschen, nicht ausgehen, die für das Funktionieren des "Normalarbeitsverhältnisses" stets stillschweigend vorausgesetzt wurden. 

Mit der "Krise des Sozialstaats" dringt ein weiteres Verdrängtes ins politische Vokabular. Soziale Orientierungen werden gesucht, die bisher im Privaten und vor allem im "weiblichen Lebenszusammenhang" aufgehoben schienen. 
Die feministische Diskussion um eine Moral der Fürsorge, die nicht einfach einer Moral formaler Gerechtigkeit untergeordnet werden kann, hat seit langem um dieses Problem gestritten. Wenn jetzt in der Diskussion um die Neugestaltung des Sozialstaats oder einer Sozialgesellschaft nach sozialen Orientierungen und Praktiken, nach Voraussetzungen für Solidarität und nach Formen wechselseitiger Anerkennung gesucht wird, die jenseits formaler Interessenvertretung die Gesellschaft zusammenhalten, dann sind zunächst die Mechanismen der Vernachlässigung und Entwertung dieser Orientierungen zu untersuchen und zu überwinden. Dazu gehören auch Formen administrativer Politik und politische Denkstile, mit denen unter der Rhetorik von (ökonomischer) Unabhängigkeit Fürsorglichkeit mißachtet wird und die Bedingungen wechselseitiger Abhängigkeiten im Geschlechterverhältnis einer demokratischen Gestaltung entzogen werden. 


3. 

Die Kommunikationsfähigkeit von Menschen tritt also in den Vordergrund, nicht nur die Konfliktfähigkeit von Interessen und abstrakten Rechtspersonen. Wenn es das Verständnis von Zivilgesellschaft ist, Dissens zuzulassen und nach Prozessen der Bearbeitung von Konflikten zu suchen, müssen auch die Voraussetzungen bedacht werden, unter denen Anliegen als konfliktfähige anerkannt werden und unter denen, Frauen und Männer ihre Anliegen Oberhaupt äußern, ja sogar: als soziale erkennen können. Für ein Verständnis von Zeitsouveränität, das mehr sein soll als Wahlfreiheit unter gegebenen ökonomischen Umständen, müssen Ausdrucksmöglichkeiten für eigene Wünsche und Bedürfnisse wahrgenommen werden. Eingefahrene Wege der (administrativen) Interpretation von Interessen und Bedürfnissen, wie z.B. die klischeehaft geronnene Formel für Frauen von der "Vereinbarkeit von Familie und Beruf", verstellen möglicherweise die Einsicht, wofür Frauen und Männer Zeit haben wollen, mit welchen eigenen Motiven sie Änderungen von Zeitregelungen anstreben, die nicht nur Anpassung an veränderte Marktbedingungen wären. 

"Die mächtigsten Zerstörungen im politischen Prozeß beruhen auf einem Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten", darauf verweisen 0. Negt und A. Kluge eindringlich (1992, S. 33). Das politische Ausdrucksvermögen einer emphatischen Frauenpolitik, die soziale Anliegen aus der Privatsphäre zu politischen machen will, steht unter dem Rationalisierungsdruck nach patriarchalem Muster. Die öffentlich politische Rationalität beugt die persönlichen Motive und Orientierungen unter die "planmäßige Anpassung an Interessenlagen" (Max Weber). Orientierungen, die an emotionalen Beziehungen ausgerichtet sind, an wechselseitiger Wertschätzung gelten vor jenem Programm formaler Rationalisierung als traditionell und ihr untergeordnet. 

Die "neuen Herausforderungen" an den Sozialstaat sollten dazu führen, das Soziale neu zu ermessen , das politische Ausdrucksvermögen zu erweitern. Auch in der engagierten Diskussion um die Gestaltung des Sozialstaats wirkt eine Form der Verallgemeinerung, durch die politische Kommunikation auf zweckrationales Reden reduziert wird. In der Diskussion .um die Arbeitsgesellschaft besteht die Gefahr der Reduktion des Ausdrucksvermögens darin, alles mögliche als Arbeit zu definieren, um in diesem etablierten Konfliktdiskurs Anerkennung zu finden. In der Diskussion um den Sozialstaat besteht die Gefahr der Verengung statt Erweiterung der politischen Kommunikation u.a. darin, daß nach Integrationskräften nach altem Muster gesucht wird. Da ist etwa die Rede von den Wegen, "unser soziales Kapital" zu mehren, von der "Weckung von bürgerschaftlichem Engagement" oder von der "Politik als Vertretung des Gemeinwohls". Es überwiegt ein Diskurs der Arbeitsmoral, der Belastung und Bewältigung mit Begriffen, die den bisherigen Verhältnissen, die doch in die Krise geraten sind, sehr nahe bleiben. Das Verhältnis von öffentlichen Tugenden und privaten Bedürfnissen ist jedoch als politische Frage zu stellen. 


4. 

Arbeitszeiten sind politisch gestaltet und Ergebnis des Streits konfligierender Interessen von Beteiligten mit unterschiedlicher politischer Durchsetzungskraft. Für die Kontrahenten Arbeitgeber und Erwerbstätige ist das offensichtlich. Betrachten wir die Geschlechterverhältnisse, kommen weitere grundsätzliche Differenzen zum Vorschein. Männer könnten theoretisch ihre Berufsverläufe nach dem Muster der Lebensläufen von Frauen mit Kindern sozial gestalten (s. Thesen 1 u. 2), Frauen können ihre Berufsbiographien jedoch nur mit Verlusten und Verzichten, z.B. auf Kinder, nach dem männlichen Modell verbiegen. Bisher entspricht dem Interesse von Frauen, sich zur ökonomischen und sozialen Existenzsicherung auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, kein gleich starker sozialer Druck auf Männer, sich in der Familie, im Leben mit Kindern stärker zu engagieren. Dies ist eine ökonomische Erklärung. Zum Ziel der Zeitsouveränität gehört jedoch auch, Zeit für Beziehungen in der privaten Intimsphäre zu haben. Dieses Ziel muß in den politischen Forderungen nach neuen Zeitregelungen Ausdruck finden. Es genügt nicht Bedürfnisse zu haben. Man muß sie sprachlich ausdrücken, damit aus dem bloßen Mangel ein Anspruch wird. Er muß übersetzbar sein in die Ansprüche der anderen, um ein gemeinsames Selbstbewußtsein entstehen zu lassen." (Negt/Kluge, a.a.0.) 

Den Frauen werden die Begründungen, für die Familie mehr Zeit zu brauchen, als legitime anerkannt, nicht aber deren Verallgemeinerung für Männer und Frauen. Die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung bietet dafür eine eingefleischte Rationalisierung. Diese dient auch als Halt für ein männliches Selbstverständnis, das in der Krise erschüttert wird. Hinter den tatsächlichen sozialen Zwängen, den Lebenslauf nach dem Arbeitsmarkt zu organisieren, hat sich eine einseitige Orientierung in männlichen Biographien durchgesetzt, die unter dem Streben nach ökonomischer Selbständigkeit als Abhängigkeit nur noch schwer erkannt wird. Claus Offe spricht von der "moralischen Anstrengung", die die Abkehr vom Arbeitsmarkt für den einzelnen bedeutet, wenn soziale Anerkennung bisher überwiegend aus dem Erwerbsleben bezogen wurde. Nicht nur Arbeitslosigkeit wird als "Krise von Männlichkeit" (Heinemeier, 1992) erlebt. Auch eine deutliche Reduktion der Erwerbsarbeitszeit ist für Männer mit der Furcht verbunden, in die Nähe traditionell weiblicher Positionen zu geraten, die sie mit ihrer Berufsorientierung zu meiden suchen. 

Die erneuten Appelle, z.B. Teilzeitarbeit möge auch unter Männern Verbreitung finden, stoßen auch auf diese Ängste. (Solche Appelle wurden in der BRD seit den 60er Jahren unter guten wie schlechten Konjunkturbedingungen erhoben und haben den Anteil von Männern an der Teilzeitarbeit bis heute nie über 3 % hinaus getrieben.) Die Ängste werden genährt von polarisierten Vorstellungen vermeintlicher Geschlechtereigenschaften, die auch durch eine äußere Annäherung der Lebensläufe von Frauen und Männern im Beruf nicht aufgehoben sind. Unter dem Primat von formalisierten Leistungskriterien und dem Streben nach ökonomischer Unabhängigkeit, denen auch Frauen zunehmend folgen, wird Fürsorglichkeit und das konkrete Umsorgen von Menschen, eher noch, weiter gesellschaftlich abgewertet. Abhängigkeit, Schutzbedürftigkeit, Wünsche nach Zuwendung werden mit mangelnder Autonomie assoziiert und mit der sozial untergeordneten Stellung von Frauen und Kindern in der patriarchalen Familie nach dem "Ernährermodell". An dessen Stelle könnten Formen der Existenzsicherung treten, die bisher hauptsächlich Frauen kombiniert haben: Ein- und Ausstiege bei Erwerbsarbeit und Versorgungsregelungen in Solidargemeinschaften. Die sozialstaatliche Sicherung solcher Wechselprozesse im Interesse der Arbeitenden hätte Vorrang gegenüber der Sicherung eines kontinuierlichen Status als Lohnarbeitnehmer (vgl. I. Ostner). Dazu müßte auch das institutionalisierte politische Denken zur Kenntnis nehmen, daß aus den Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen Kriterien zur Verbesserung sozialer Verhältnisse zu ziehen sind. 


5. 

Zu den "neuen Herausforderungen" an den Sozialstaat gehört daher auch die Überwindung dichotomer Konstruktionen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit und die politische Gestaltung anerkannter Interdependenzen. Zur Anregung der Diskussion skizziere ich die Perspektiven des "maternal thinking" von Sara Ruddick. Die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin entfaltet drei moralische Orientierungen, die aus dem verantwortlich akzeptierten Umgang mit Kindern zu verallgemeinern seien: 1. Schutz gewähren; 2. persönliche Entwicklung begleiten (d.h. Veränderungen erwarten); 3. soziale Akzeptanz fördern. Diese Orientierungen sind gewonnen aus der Praxis in einer asymmetrischen Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind, in der die Wechselseitigkeit akzeptiert und die Verschiedenheit anerkannt ist und Zuwendung, "Erziehung" nicht als Einbahnstraße verstanden wird. Die Beziehung bedeutet ständige Veränderung aller Beteiligten. 
Diese Perspektive kann als regulative ldee für eine Diskussion von Sozialpolitik hilfreich sein, die den Ansprüchen von Anerkennung, Integration und selbständiger Lebensführung folgt. 


6. 

Zeitsouveränität braucht materielle Ressourcen in der Form von ökonomischer Grundsicherung. 



Literaturhinweise: 

Eckart, Christel: Der Preis der Zeit. Eine Untersuchung der Interessen von Frauen an Teilzeitarbeit. Frankfurt/New York 1990  

dies.: Voll beschäftigt. Zur gesellschaftlichen Gestaltung von Abhängigkeiten jenseits der Lohnarbeit. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Hg. Jahrbuch 1994/95, Köln 1995, S. 277-286 

Feministische Studien, Heft 2 1996. Schwerpunktthema: Sozialpolitik in Europa. 

Fraser, Nancy; Gordon Linda: Dekodierung von "Abhängigkeit". Zur Genealogie eines Schlüsselbegriffs des amerikanischen Wohlfahrtsstaates, in: Kritische Justiz,'3, 1993, S. 306-323 

Heinemeier, Siegfried: Rette sich, wer Mann - Arbeitslosigkeit als Krise von Männlichkeit. In: Bios. H. 1, 1992 S. 63-81 

Negt, Oskar; Kluge, Alexander: Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt 1992 

Ruddick, Sara: Mütterliches Denken. Für eine Politik der Gewaltlosigkeit. Frankfurt/New York 1993