ES WAR EINMAL EIN IDYLLISCHES FORSCHUNGSNETZ... 

Das Internet auf dem Weg zum Massenmedium 

von Sabine Helmers

Ein Vortrag mit fünf Stimmen

* Beobachterin 

* Tekkie, (Internet'ler aus den Pioniertagen des Netzes) 

* Internet-Neuling (von Tekkies auch Mäuseschubser genannt) 

* Politiker (Regulierungswillig) 

* Prophet (dunkel?)
 

Beobachterin: Es war einmal... ein idyllisches Forschungsnetz. Ein gemütliches "globales Dorf". Es war die "gute alte Zeit" des Internet. Lauscht den sentimentalen Berichten der Netzpioniere. Hört nur, was sie über diese goldene Zeit erzählen. Geschichten über freundliche Tekkies, wie sie die Technik und die Dienste des Internet entwickelten. Ihnen verdanken wir heute die Mailing Listen, die News, Internet Relay Chat und andere hübsche Kommunikationsmöglichkeiten des Netzes. Die Organisation und Regulierung des sich entwickelnden Netzes war konsensuell, unbürokratisch, unhierarchisch. Die Selbstregulierung des Netzes funktionierte mit dem einen den Glauben an Technik, an technische Lösungen für jedes auftretende Problem und an die "richtige" Lösung für jedes Problem. Man sagte sich damals: "Wenn eine Sache ein Abstimmungsverfahren benötigt, dann kann sie nicht richtig sein". 

Tekkie: Genau! Die Daten müssen fließen. Möglichst schnell, möglichst viel, möglichst störungsfrei. Da waren wir uns einig. Und Politik brauchten wir nicht. Wir brauchten schnellere Prozessoren, bessere Connectivity und gute Ideen, um gute Datenübertragungsverfahren und neue Anwendungen zu entwickeln. 

Beobachterin: Was die erste Generation der Netzbewohner nicht vorhersah und nicht vorhersehen konnte, das war das enorme Wachstum des Netzes. Was geschieht, wenn Millionen von Menschen der sogenannten "Real World" sich irgendwann Netzzugang verschaffen und in großer Zahl in das gemütliche "globale Dorf" hinein stürmen? Diese fremden Real-World-Menschen, Leute die tagsüber arbeiten, von 9 bis 5 Uhr, die Krawatten und Anzüge tragen, und die - beinahe unglaublich - nicht einmal Computer lieben. 

Neuling: Ich bin erst seit kurzem im Internet und finde das World Wide Web ganz toll. Hier finde ich so viele interessante Sachen zum Lesen und schöne Graphik. Das Klicken im Netz ist ganz einfach, und die dahinterstehende Technik ist mir völlig Schnuppe. 

Beobachterin: Das exponentielle Wachstum des Internet seit Anfang der 90er Jahre, sein sensationeller Erfolg also, führt so manches Problem mit sich. Abzusehen ist beispielsweise, daß die zwar große, aber doch begrenzte Zahl von Internet Adressen (IP Nummern) irgendwann in nicht sehr ferner Zukunft den Bedarf nicht mehr decken kann. Es zeichnet sich ein Engpass bei der Vergabe von kommerziellen Domainnamen ab, die .com-Domains werden nicht mehr ausreichen. Wen kümmerten vor ein paar Jahren die Vergabepraktiken der Domainnamen? Für ein paar Dollars konnte jeder jeden Namen kaufen. Namen wie Stanford oder MacDonalds wurden an diejenigen vergeben, die zuerst kamen. Inzwischen schalten Unternehmen ihre Anwälte ein, um ihre Namen auch im Internet zu schützen. Urheberschutz, Lizenzen und eingetragene Warenzeichen werden nun zu heissen Themen im Netz. Und Werbung und Kommerz kommt in Internet. Massenwerbesendungen, die rücksichtslos durch sämtliche News-Gruppen gepostet werden, verderben immer mehr die Qualität des News-Systems. Nicht allein zu den Hauptverkehrszeiten, auch an den früher ruhigen Wochenenden wird der Netzverkehr immer langsamer und langsamer. 

Tekkie: Diese Millionen Netzneulinge sind rücksichtslose Egoisten und verschwenden Bandbreite mit dem Transport von tonnenweise Graphik, weil sie alles schön bunt wollen - wie im Fernsehen. Oder plappern mit ihren Macintosh Computern mit CUseemee das Netz platt. 

Beobachterin: Nach zwanzig Jahren Internet trat das Netz erst Anfang dieses Jahrzehnts in die öffentliche Wahrnehmung. Regierungen erkannten, daß es bereits ein System von "Informationsschnellstraßen" gibt - bloss ohne ordentliche Verkehrsregeln. Internationaler Datenverkehr ohne staatliche Lenkung und Kontrolle. Das funktioniert zwar, aber man möchte doch gerne Ampeln, Vorfahrtsregeln und klare Ein- und Ausreisebestimmungen. Vielleicht träumt die chinesische Regierung von Führerscheinprüfungen für die Datenautobahn? Könnte man doch dem Dalai Lama die Datenfahrerlaubnis entziehen! Und Familienministerin Nolte zeigt dem bösen Nazi Ernst Zündel die rote Kelle, sobald er die hiesigen Internetleitungen zu durchfahren trachtet. So könnten die deutschen Jugendlichen vor indizierten Schriften geschützt bleiben. 

Politiker: (Der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Rüttgers in einer Presse-Information vom September 1996:) Das Internet ist kein rechtsfreier Raum! Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen neue Perspektiven zur globalen Vernetzung von Völkern und Ländern. Sie schaffen zukunftssichere und qualifizierte Arbeitsplätze. Eine Studie von Arthur D. Little im Auftrag meines Hauses sagt aus: Wenn wir Multimedia konsequent umsetzen, können wir 1,2 Millionen Arbeitsplätze bei uns sichern. 210.000 neue Arbeitsplätze sind in den nächsten 15 Jahren möglich. Das ist eine große Chance. Doch natürlich gibt es auch Schattenseiten: links- und rechtsextremistische Propaganda, Rassismus und Kinderpornographie. Auch wenn der Anteil der rechtswidrigen Inhalte im Internet auf nur unter 1 Prozent geschätzt wird: Den Netzbeschmutzern muß das Handwerk gelegt werden, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen gegen die Anbieter vorgehen. ... Wir brauchen ein einheitliches Vorgehen im Kampf gegen den Mißbrauch in den neuen Medien. Unser Ziel ist es, die Schlupflöcher für alle zu schließen, die mit ihren zwielichtigen Angeboten nach rechtlichen Nischen im Internet suchen. 

Tekkie: Früher ging es doch auch ohne Gesetze, Vorschriften und politische Erklärungen aus Bonn, Brüssel oder sonstwo. Und es hat uns früher nie jemand reingeredet. Hat ja auch kaum jemand verstanden, an was wir da in den Rechenzentren und Informatikbereichen gebastelt haben. Und interessiert hat es deshalb auch kaum jemanden ausser uns Computerfreaks. 

Beobachterin: Der alte Leitspruch vom "rechtsfreien Raum". Friedliche "Worldwide Anarchy" - wie schön das klingt. Eine Netzwelt ohne Law and Order im herkömmlichen Sinne. Aber es gab Regeln. Die traditionellen Verkehrsregeln des Internet sind die im Laufe der Netznutzung-quasi evolutionär- entwickelten Regeln der Netiquette. Ein Grundprinzip des korrekten Internet-Benimms lautet: "Niemals störe den Fluss der Daten!" 

Neuling: Wieso stören? Ich kenne diese Regeln nicht, und sie sind mir egal. Ich zahle für meinen Internetanschluss und will damit machen können, was ich will. 

Tekkie: Ich sag's ja: Keine Ahnung haben die vom Netz. Jetzt machen sie sich plötzlich alle Sorgen, weil ihnen jemand mal erklärt hat, daß sie im Netz nicht anonym rumsurfen, sondern ihre Klicks auf den Servern beobachtet und registriert werden. Dabei ist es doch sonnenklar, daß alle Bewegungen in Logfiles aufgezeichnet werden. Das war schon immer so, lange bevor es das WWW gab. Aber das verstehen die Neulinge eben nicht. Sie denken wohl, Netzsurfen ist wie Zappen im Fernsehen, wo keiner merkt, welchen Sender sie gerade anschauen. 

Beobachterin: Eine andere Netiquette-Regel, die auf der dezentralen Organisation des Internet basiert, sagt: "Hilf dir selbst". Eine weitere Regel: "Alle können alles sagen, und alle können alles ignorieren". Folglich können böse Leute böse Dinge ins Netz geben, z.B. Kinderpornographie oder politisch unliebsame Texte. Und Regierungen können ihre Bürger nicht am Empfang solcher Daten hindern. Alles, was Regierungen heutzutage tun können, ist, zu versuchen den globalen Fluß der Daten entlang ihrer rechtlichen Bestimmungen zu kontrollieren. China versucht es. Singapur versucht es. Und in diesem Sommer hat die Bundesanwaltschaft versucht, das Eindringen des Radikal-Magazins in deutsches Hohheitsgebiet zu verhindern. Die USA versuchen mit dem -allerdings vorerst gescheiterten-Electronic Decency Act der Netzwelt per Gesetz Anständigkeit und Sauberkeit aufzuerlegen: Ordentlicher Datenverkehr statt Fluchen und schlimme Worte, und überall amerikanische Standards von "Decency" statt der bösen Inhalte, die wir heute im Netz finden. All diese staatlichen Versuche ins Internet geschehen lenkend einzugreifen, es zu kontrollieren, waren bislang nicht sehr erfolgreich. Das Erbe der frühen Internetentwickler ist eine dezentral organisierte Netzstruktur, die zentraler Kontrolle widerstrebt. Das Internet wurde gestaltet, um Daten zu transportieren, nicht um Daten mit bestimmten Inhalten auszusortieren. Was praktisch funktioniert, wenn man bestimmte Daten nicht auf seinen Bildschirm bekommen möchte, sind die dezentralen Lösungen für das Aussortieren von Daten. Die erste und simpelste Lösung ist "Schau nicht an, was Du nicht sehen willst. Ignoriere es." Andere dezentral ansetzende technische Lösungen bestehen z.B. in einem vorgeschalteten Email-Filter oder der Installation von kindersicheren Webbrowsern, wenn man nicht möchte, dass sich die Kinder WWW-Seiten mit pornographischen oder brutalen Sachen anschauen. Nicht nur Internettraditionen, die Dateninhaltsfragen betreffen, sondern auch bisherige Praxen der kollektiven technischen Entwicklung im Internet sind durch das Wachstum und die Transformation des Netzes herausgefordert. Schon länger beanstanden nationale und internationale Standardisierungsorganisationen die bislang praktizierten Verfahren, nach denen im Internet die Technikentwicklung vonstatten geht. Dort kann jeder mitmachen. Die in offenen Verfahren gewonnenen Entwicklungsergebnisse werden von den konventionellen Standardisierungsorganisationen abschätzig als "zu simpel" oder "unausgereift" oder "politisch unausgewogen" beurteilt. Es steht zum Beispiel seit einiger Zeit die Modernisierung des Datenprotokolls an. IP "next generation" soll das bisher gültige, durch das Wachstum an seine Grenzen stossende TCP/IP Protokoll ablösen. Dem angeblich "unsicheren, luschigen ,schlichten" Internetprotokoll haben die konventionellen Standardisierer eigene Standards wie z.B. die x25 oder x400Protokollgruppen gegenübergestellt. Nur leider werde diese korrekt alle bürokratischen Standardisierungsverfahren durchlaufenen, amtlich abgesegneten, lange entwickelten und beratenen "besseren Alternativen" im Netz kaum angenommen. Die Traditionen der Selbstregulierung, des "Jeder kann mitmachen" und "Was gut ist, das wird sich schon durchsetzen" stammen aus Forschungsnetzzeiten. Die Entwicklungsoffenheit des Internet - offen für technische, kommunikative, informationelle und soziale Experimente, offen für das Spiel mit Ideen - hat zu dem geführt, was wir heute vor uns haben: Das weltweit erfolgreichste offene Datennetz. Die Entwicklung beruhte auf Eigeninitiative, Eigenverantwortlichkeit und Kompetenz unter dem gemeinsamen Nenner des Flusses der Daten. Klar, alle Netznutzer können Initiative, Verantwortlichkeit und soziale Kompetenz aufbringen. Aber hohe technische Kompetenz ist etwas, was man nun nicht mehr von allen erwarten kann. Internet ist kein Forschungsnetz mehr, und im Trend der Zeitliegen benutzungsfreundliches Mausklicken und Plug-and-Play. Es reicht das Klicken, und man muß nicht verstehen, wie die Technik funktioniert. So ist das heute. Und obwohl es natürlich noch immer allen Netznutzern freisteht, bei der Entwicklung der Internettechnik, z.B. beim neuen Datenprotokoll mitzumachen, bleiben die Techies in den Diskussionsforen unter sich. Nur die Insider können verstehen, was dort diskutiert wird. De Facto ist es ein exklusiver Kreis von Tekkies, der für alle Netznutzer entscheidet, wohin die technische Reise geht. Es gibt keinerlei Nutzerinteressenvertretung, die wie Stiftung Warentest, die Entwicklungsergebnisse unter die Lupe nehmen würde. Daß man dem Internet mit seinen gewachsenen Strukturen heutzutage durch politische Maßnahmen eine ordentliche Verwaltung, sauber-bürokratische Verfahren, Kindersicherheit und Sittlichkeit oder paritätische Mitbestimmung und Wahlen von außen auferlegen könnte, ist ziemlich zweifelhaft. Falls es möglich sein würde, so müßten solche Dinge neben ihren direkt beabsichtigten Wirkungen wie z.B. "breitere Mitbestimmung" oder "bessere Technikstandards" als vermutliche Nebenwirkungen zu weniger Entwicklungsoffenheit, langsamerer Entwicklungsdynamik und geringerer Innovativität führen. Und wäre ein ordentliches, amtliches Internet nicht langweilig im Vergleich zum lebendigen, anarchischen, flexiblen und bunten Internet der "guten alten Zeit"?- Prophet: Wie wird das Internet am Ende seiner Transformation aussehen? Alles hübsch und sauber? Alles cholesterinfrei und geprüft nach amerikanischen Sittlichkeitsnormen? Oder chinesischen Normen? Jeder technische Standard abgesegnet vom DIN Institut? Statt Newsgroupdiskussionen, Request-for-Comment und Konsens der Tekkies zukünftig dann lange Jahre formaler Standardisierungsverfahren in langsam mahlenden Organisationsmühlen? Alle Daten sicher, und die Netizens können sorglos beim Teleshopping mit ihren Kreditkarten bezahlen? Alle Nutzerbewegungen können zurückverfolgt werden zum Urheber, und böse Hacker haben keine Chance mehr, sich im Datendschungel zu verbergen? CyberAngels patroullieren an jeder Strassenecke im Kampf für ein sauberes und sicheres Wohnviertel in der Netzwelt? Keine dunklen Ecken mehr? Keine Schlupflöcher? Ist das die uns versprochene Datenautobahn, die uns ins Informationszeitalter führen wird? Eine schöne neue Welt? 

Beobachterin: Wenn wir ein solches schönes Netz wollen, wenn alle damit zufrieden sind, dann wäre ein solches Zukunftsmodell o.k. Aber wollen dies alle? Die Internetpioniere beklagen sich heute über die Kolonisierung ihres rechtsfreien Raumes durch die Real World. Die goldenen Tage des Netzes seien vorbei. Wie schade. Statt aber bloß über die "Invasion der Mäuseschubser" zu schimpfen und sich zurückzuziehen, kann man aber auch ruhig mal nach Potentialen für Verbesserungsmöglichkeiten Ausschau halten, die die aktuelle Umbruchsituation des Internet mit sich führt. Vielleicht war das Internet in der Tat früher mal der gemütliche Treffpunkt mit freundlicher Tekkieathmosphäre, so wie die Pioniere berichten, wenn sie in Erinnerungen an die gute alte Zeit schwelgen. Aber der Zugang war beschränkt und nur bestimmte Personen konnten teilnehmen, die über ihre Universitäten und Forschungsinstitute Netzanschluß hatten, und die mit der damals noch nicht so wie heute benutzerorienterten Technik umgehen konnten. Die Vergangenheit einmal nicht durch eine rosa Insiderbrille betrachtet, sondern mit Blick auf jene, die außen vorblieben, - diejenigen die , wenn sie sich denn in die erlauchten Kreise der Tekkies vorwagten, als Neulinge, Newbies, Luser von den bereits anwesenden Erlauchten mit milder bis abschätziger Arroganz behandelt wurden. 

Neuling: Furchtbar! Du stehst als dummer Luser im Rechenzentrum und hast eine Frage. Die Systemverwalter wissen die Antwort zu deiner Frage. Werden sie sich dazu herablassen, Dir ihr Expertenwissen mitzuteilen? Du bist ein Bittsteller dort, und dass Du die Antwort nicht selbstheraus finden kannst, das belegt Deine technische Inkompetenz und deinen Luserstatus. 

Tekkie: Diese Leute, die keine Ahnung haben, nerven. Wir erzählen uns Witze über sie. Der DAU, der dümmste anzunehmende User -ein Horror! 

Beobachterin: Ja, das gute alte Internet war partizipativ und demokratisch. - Aber inexklusiver Weise demokratisch - grad so wie an der Wiege der Demokratie im antiken Griechenland. Auch dort galten die Mitspracherechte nur für die Gemeinschaft der Bürger - die Politai-. Alle anderen, die Fremden und Sklaven waren rechtlose Ausgeschlossene ihrer Demokratie. Die zukünftige Informationsgesellschaft sollte wirklich demokratisch sein. Im Zuge der Transformation des Internet von einer elitären Forschungsnetzidylle zu einem Massenmedium müssen sich Wege auftun, wie aus der antiken exklusiven Demokratie des alten Internet eine offene Informationsgesellschaft für alle im Netz -für Tekkies wie für Nicht-Tekkies - werden kann. Eine Netzgesellschaft, die nicht mehr mit ausschliessenden Begriffen wie "Sklave" und "Fremder" oder "Luser", "Newbie" und "Real World People" operiert. 

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