Die gescheiterte Rettungsaktion von "Cap Anamur" im Sommer, die daraufhin
einsetzende Debatte um die Errichtung von Lagern in Libyen als auch die illegale
Abschiebung von MigrantInnen aus Lampedusa haben die europäische Migrationspolitik
im Sommer 2004 für kurze Zeit auf die Titelseiten der Zeitungen gebracht.
Bis weit in die liberale Öffentlichkeit hinein wurden die neuerlichen Offerten
als Ausbau der "Festung Europa" verhandelt und kritisiert (2).
So zollte selbst die "Frankfurter Rundschau" den jüngsten Mitteilungen
der Regierungschefs auf ihrem Novembertreffen in Brüssel einen Einspalter,
in dem zu lesen war, dass sie einen neuen Plan beschlossen hatten, die Maßnahmen
gegen illegale Einwanderung und zur Sicherung der Außengrenzen zu verstärken
(FR vom 6.11.2004). Die Maßnahmenpalette, die vom besseren Austausch und
der Verknüpfung von Datenbanken, über die Harmonisierung von Gesetzen
und einer besseren Zusammenarbeit mit Transitstaaten bis hin zur Forderung nach
einer engeren Zusammenarbeit auf operativer Ebene wie der Einrichtung von gemeinschaftlichen
Grenzschutzteams reichte, ist dabei nicht neu. Wenn man die Ratspapiere und
Verlautbarungen der Innenministertreffen der Europäischen Union der letzten
10 Jahre studieren würde, fände man die gleichen Satzbausteine wieder.
Und immer wieder werden neue magische Daten als Deadlines der Vergemeinschaftung
der Migrationspolitik der EU Mitgliedsstaaten genannt. In Brüssel wurde
2010 zum finalem Datum erklärt, dann solle es endlich gemeinsame Asylbestimmungen
geben.
Im Folgenden wollen wir zunächst die mittlerweile knapp 20 jährige Geschichte der Europäisierung der Migrationspolitiken skizzieren und sie in ihren Grundzügen vorstellen. Im zweiten Teil werden wir dann der Frage nachgehen, wie man diese Politiken verstehen kann, was ist ihre Funktion? Das seit geraumer Zeit auch von weiten Kreisen der Migrations- und EU-Forschung geteilte Erklärungsmuster lautet "Festung Europa" . Doch liest man beispielsweise in jener besagten FR-Ausgabe das Interview mit dem Präsidenten von "Eurocop", dem Dachverband der europäischen. Polizeigewerkschaft, über das fast durchgängige Scheitern der Programmatiken in der Praxis der verschiedenen Mitgliedsländer, dann stellt sich nicht nur die Frage nach dem Stellenwert der Verlautbarungen. Vor allem fordern derartige Beschreibungen auf, genauer, d. h. empirisch sich die konkreten Praktiken der Politiken der Europäisierung der Migrationspolitik anzuschauen. Europaweit kommen auch seit einiger Zeit sowohl in der antirassistischen Bewegung Forschung Zweifel auf, ob die Metapher der "Festung Europa" (3) als repressiver Abschottungsapparat die europäische Migrationspolitik zutreffend beschreibt. Denn was wäre, wenn nicht die Schließung der Grenzen, sondern die relative Durchlässigkeit Funktion des Grenzregimes wäre? Ein europäisches Netzwerk verschiedenster migrations-bezogen arbeitender Gruppen, in dem "Kanak attak" als auch unser Forschungsprojekt mitarbeiten, hat auf dem letzten Europäischen Sozialforum in London eine andere Perspektive in den Mittelpunkt der Debatte gestellt: "Movements of Migration". Und der zweite europäische Aktionstag, der dort beschlossen wurde, steht unter dem Motto "Freedom of Movements, rights to stay". Was sich dahinter verbirgt, werden wir im zweiten Teil des Artikels erklären. Doch zunächst zu den Grundzügen der Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten und einer ganzen Reihe anderer Akteure, wie sie beispielsweise in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament "Auf dem Weg zu einem integrierten Grenzschutz an den Außengrenzen der Europäischen Union" oder in dem Kommissions-Papier mit dem Titel "Integrated Border Management" zum Ausdruck kommen (http://europa.eu.int/scadplus/printversion/de/lvb/133205.htm). Ihre Ausrichtung lässt sich unserer Meinung nach unter folgenden Stichwörtern fassen, die wir im Folgenden näher ausführen werden: "Vorverlagerung - Exterritorialisierung", "integriert - imperial" und "menschenrechtlich - gouvermental".
Schon lange vor dem Maastrichter-Vertrag über die Europäische Union 1993 zielten die Migrationspolitiken der EU und die ihrer Mitgliedsstaaten darauf ab, ein engmaschiges Netz von Kontrollen bis in die Herkunftsländer hinein zu legen. Dabei gab das Schengener Abkommen, welches bereits 1985 von fünf westeuropäischen Staaten unterzeichnet wurde, doch erst mit der Aufnahme in den Amsterdamer Vertrag 1999 EU-offiziell wurde, die Marschrichtung vor: Als Kompensation für den Ausbau des Binnenmarkts sollten die Grenzkontrollen an die Außengrenzen der Union verlagert werden (Hess/ Tsianos 2004). Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde Schengen auch Teil des acquis communitaire, den die Beitrittsländer zu übernehmen haben. Die Vorverlagerung der Kontrollen ist jedoch nur ein Baustein dieser Restrukturierungspolitik von Grenzkontrollen. Schengen brachte auch eine Ausweitung von Grenzzonen im Innern mit sich. Zum anderen sei erinnert an eine ganze Reihe weiterer, auf intergouvernementaler Ebene beschlossener Maßnahmen, wie die von Deutschland auf EU-Ebene durchgesetzte Drittstaatenregelung und die Konstruktion sicherer Herkunftsländer für Flüchtlinge (von 1993), verschärfte Visabestimmungen, die carrier sanctions, womit Flughäfen und Flugunternehmen Grenzschützerfunktionen übertragen bekommen, oder die Erfindung sog. Rückübernahmeabkommen (4) (Angenendt/ Kruse 2003). In diesem Zusammenhang zu nennen sind ferner die seit Jahren laufende Ausrüstungshilfe und die Vermittlung von know-how weit über den Kreis der EU-Beitrittskandidaten hinaus in Form bilateraler Zusammenarbeit aber auch in Form von EU-Regionalabkommen wie dem MEDA-Programm für den Mittelmeerraum oder dem Phare-Programm für die mittelosteuropäischen Staaten. Bei beiden handelt sich um Millionen schwere EU -Programm zur "zur technischen und infrastrukturellen Zusammenarbeit" sowie seit neuerem auch in Bezug auf polizeiliche und Grenkontrollaufgaben (vgl. MEDA http://europa.eu.int/comm/external_relations/euromed/). In diesem Sinne reicht die deutsche und EU-europäische Migrationspolitik mittlerweile bis nach China oder in den Senegal. Auch die Ausweitung des Lagerregimes in die neuen Mitgliedsstaaten und die Errichtung von Auffanglagern außerhalb der EU, am besten in den Herkunftsregionen, ist Teil dieser Vorverlagerungsstrategie.
Bereits 2003 hat die britische Regierung die sog. "heimatnahe" Errichtung
von sog. "regional protection zones" (regionale Schutzzonen), bzw.
"Transit Processing Centres" angeregt, in die sowohl MigrantInnen
im Transit als auch aus der EU zurückgeschobene Flüchtlinge festgehalten
werden sollten. Trotz anfänglicher Kritik einzelner Mitgliedsstaaten (wie
Deutschland) und der EU-Kommission hat der Ministerrat in Thessaloniki die Parole
ausgegeben: "to bring safe havens closer to the people." Seit der
gescheiterten Aktion von "Cap Anamur" im Sommer 2004 haben nun Schilly
und sein italienischer Kollege Pisanu diese Idee wieder aufgegriffen. Dabei
vermochte das Duo seine Idee als humanistisch motivierte Reaktion auf die mit
der Aktion von "Cap Anamur" wieder mal publik gewordenen Cross-border-Praktiken
und die teils tödlichen Auswirkungen der zunehmenden Militarisierung der
Grenzen darzustellen. Hierbei konnten sie sich mit dem Skandalisierungsblick
der links-liberalen Öffentlichkeit in eins wissen und inszenierten ihre
Initiative als Empörung "über die große Zahl derer, die
sich in oft seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machen und dabei
Leib und Leben riskieren" (Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums
anlässlich des Treffens Schilys mit Pisanu in Lucca/Toskana, 12. August
2004). Die Debatte endete allerdings damit, wie und für wen Auffanglager
in den nordafrikanischen Staaten eingerichtet werden sollten und wer sie organisieren
und die Definitionsmacht erhalten sollte. Österreich folgte dem Beispiel
sofort und forderte die Einrichtung von Lagern für Tschetschenien-Flüchtlinge
in der Ukraine.
Die einsetzende Kritik an der Exterritorialisierung von Lagern konzentrierte
sich vor allem auf die Auslagerung und Unterhöhlung des Asylverfahrens.
Die meisten kritischen Positionen übersahen dabei, dass der Vorschlag ganz
im Zeichen der neuen EU-Migrationspolitik auch eine Clearing-Stelle für
Arbeitsmigration einschloss. Auch wird gerne übersehen, dass es nicht nur
einzelne Mitgliedsstaaten, der Ministerrat und/ oder die EU-Kommission - die
nicht immer auf gleicher Wellenlänge schwimmen - sind, die diese Strategie
forcieren. In der Debatte partizipiert auch der UNHCR mit einem eigenen Konzept
der Auslagerung, welches sich letztlich nur darin unterscheidet, dass er die
Errichtung von Lagern innerhalb der EU-Grenzen in den neuen Mitgliedsstaaten
fordert. Ferner mischt die IOM, die Internationale Organisation für Migration,
in dieser Debatte mit, die bereits auf der kleinen Insel Nauru ein exterritoriales
Lager für Australien organisiert, und sofort nach Libyen einflog, um Gaddafis
Leuten Rechtsstandards beizubringen. Doch die Errichtung von herkunftsnahen
Lagern ist nicht neu und letztlich gibt es davon schon einige: ein mit italienischen
Geldern errichtetes Lager in Tunesien, die nordirakische Schutzzone oder die
Lager im Kontext des Kosovokrieges, die auf den nächsten Grundzug "integriert
- imperial" verweisen.
Schon die ersten EU-weiten Zusammenschlüsse wie die TREVI-Gruppe in den 80er Jahren, die eine europäische Migrationspolitik zu formulieren begannen, stellten sie in engen Zusammenhang mit einer Politik gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Dieses Sicherheitsdispositiv hat mit dem 11. September einen erneuten Schub erfahren. Auch die neue EU-Sicherheits- und Militärpolitik bekam eine migrationspolitische Komponente. Dabei sind der Kosovokrieg, der Afghanistanfeldzug oder der Irakkrieg in zweierlei Richtungen hin zu interpretieren. Zum einen zeigen sie, wie eine Anti-Migrationspolitik als Instrument auch auf militärische Interventionen zurückgreift. Zum anderen zeigen sie auch, dass die neuen Krieger ihre Flüchtlings-Schutz-Truppen selbst im Gefolge haben und Migrationscontainment Teil der Militärstrategie wurde. So gilt die Lagerpolitik während des Kosovokrieges vielen als Vorbild für eine exterritoriale, regionalisierte Anti-Migrationspolitik (vgl. Dietrich/ Glöde 2000). Jenseits dieser offensichtlich militaristischen Ebene formuliert die neue "integrierte Migrations- und Grenzmanagementpolitik" eine ganze Reihe weiterer, positiv klingender Strategien, um im globalen Maßstab Migrationssteuerung zu betreiben. Migrationspolitik wurde zur Querschnittsaufgabe, Teil von good governance, und somit zum Motor als auch zum Vehikel einer imperialen Politik. Insbesondere das wohlklingende Argument der Bekämpfung von Flucht- und Migrationsursachen als auch die "partnerschaftliche Zusammenarbeit" mit den Herkunftsländern bilden das Einfallstor. So ist die Entwicklungshilfe längst in den Dienst des Migrationsmanagements gestellt worden: Während die Übernahme migrationspolitischer Maßnahmen mit der Gewährung von Entwicklungsgeldern belohnt wird, wird die Nicht-Erfüllung durch deren Entzug bestraft. So drohte Blair der Türkei erst unlängst Sanktionen an, d. h. die Einbehaltung von Kredittranchen, sollte sie nicht schärfer gegen Menschenschmuggel und Grenzübertritte vorgehen. Zusätzlich werden die traditionellen Auswanderungsländer mit Einwanderungsquoten geködert (Morice 2004). Die sog. Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten ist nach dem selben Muster gestrickt.
Der Gedanke der globalen Steuerung drückt sich aber auch in einem Dickicht von EU-Institutionen und angedockten think tanks aus, die auf dem Gebiet der Daten- und Informationsbeschaffung, -auswertung und dem -austausch tätig sind. Während eine konkrete operationelle Zusammenarbeit noch reichlich schwierig scheint, hat die EU weit über ihre Mitgliedsstaaten hinaus bereits ein Informationsnetz gespannt. Hier ist vor allem ein Zentrum mit dem Kürzel CIREFI (Center for Information, Discussion and Exchange on the Crossings of Frontiers and Immigration) zu nennen, welches ein Frühwarnsystem über "illegale Einwanderung und von Schleuserbanden genutzte Wege" organisieren soll (http://europa.eu.int/scadplus/printversion/de/lvb/133100.htm) (5). So operiert das Frühwarnsystem bereits in der Türkei, die gerade erst im November letzten Jahres seine Vorbeitrittsgespräche zur EU abgeschlossen hat.
Doch nicht nur die EU versucht sich als globale Steuerungsmacht in Sachen Migration zu profilieren, auch die USA melden immer wieder ihren Anspruch an. So drohten die USA der Türkei, Russland und Griechenland in ihrem Trafficking-Bericht von 2002 mit Sanktionen, sollten sie nicht restriktive Migrationspolitiken entwickeln. Und auch die NATO ist in diesem Feld aktiv. So zeichnet sich seit 2003 eine neue Arbeitsteilung zwischen der griechischen Marinepolizei, den italienischen NATO-Verbindungsbeamten und der Führung der NATO-Basis auf Kreta ab. Da offensichtlich die internationalen Gewässer entlang der südkretanischen Küsten keine operativen Kontrollräume von Schengen sind, dafür aber unter den Observationsbereich der NATO fallen und gleichzeitig als Passage nach Italien gelten, fungiert die griechische Marinenpolizei als Vollstreckungsorgan des NATO-Liaisonofficers. Sie wiederum bekommt von der kretanischen NATO-Basis ihre Informationen über verdächtige Frachter aus Ägypten oder dem Libanon. Im Bereich der Anti-Trafficking-Politik sind die imperialen Konturen dieser Arbeitsteilung in Griechenland als im fortgeschrittenen Stadium zu charakterisieren (Panagiotidis/ Tsianos 2004). Obwohl Griechenland im Jahre 1998 das EUROPOL-Protokoll zur Bekämpfung von Menschenhandel ratifizierte und damit offiziell eine Zusammenarbeit auf EU-Ebene begann, entwickelte es erst auf den Druck von USA und NATO unter diskursiver Schützenhilfe der IOM einen eigenen Regulationskomplex zu Trafficking. Dieser trug eindeutige Signaturen der NATO-Präsenz im Kosovo und wurde parallel zur EU-Direktive "implementiert". Leitend war hierbei die Gruppe mit dem Kürzel SECI. SECI ist eine transnationale Organisation mit Sitz in Bukarest, die im Jahre 2000 auf Initiative und mittels Finanzierung durch USA, NATO und FBI gegründet worden war (6). Im gleichen Zeitraum sorgte auch die Veröffentlichung des State-Department-Reports zu Trafficking für Aufruhr in der damaligen Regierung, weil damit Griechenland auf die Schwarze Liste derjenigen Länder gesetzt wurde, die nicht ausreichend gegen Trafficking vorgingen. Interessant in diesem Bericht war, dass der strenge Grenzschutz - ein zentraler Bestandteil des Schengener Abkommens - lakonisch zur Kenntnis genommen wurde, vor allem aber die mangelnde griechische Finanzierung der IOM gerügt wurde (http://www.state.gov/g/tip/rls/tiprpt/2004/33186.htm). Ein Jahr danach gab es ein Traffickinggesetz und eine umfassende Transformation der operativen Schwerpunktsetzung innerhalb der Aufgabenbereiche der griechischen Polizeiführung (http://www.ydt.gr/main/Section.jsp?SectionID=10101).
Auch wenn die neue Migrations- und Grenzkontrollpolitik einen Informatisierungs- und Vernetzungsschub der Administrationen, verschiedener nationalstaatlicher Behörden und Exekutivorgane bedeutet, ist das Bild eines informationstechnologischen Repressionsapparates doch fern der Realität - zumindest noch (Koslowsky 2002). Dass der Informationsaustausch und die operative Kooperation trotz des Schengener Informationssystems, des Frühwarnsystems oder diverser Institutionen immer noch defizitär sind - nicht zuletzt aufgrund der nationalstaatlichen Inkompatibilitäten oder Egoismen -, zeigen die immer wiederkehrenden Appelle in Kommissionstexten, diese zu intensivieren. So kommt eine Studie der Kommission über illegale Migration 2004 zu dem Ergebnis, dass ein Mangel an zuverlässigen und vergleichbaren Daten vorliegt, welcher eine vergemeinschaftete Politikstrategie eigentlich unmöglich macht (Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europ. Parlament: "Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration" 4.6.2004). Auch der "Migrationsbericht 2004 des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration" der Bundesregierung bestätigt diesen Befund. Damit kommen wir zum dritten genannten Grundzug "gouvermental - menschrechtlich.
Dieses Begriffspaar bestimmt zum einen die argumentativ-legitimatorische Diskursebene, zum anderen findet der Diskurs seine praktische Umsetzung im gouvermentalen Versuch der EU, über internationale Institutionen zu regieren und zivilgesellschaftliche Gruppen einzuspannen. Die Kritik an der Aktion von "Cap Anamur" und die Diskussion um die Errichtung von Auffanglagern in den Maghrebstaaten war diesbezüglich ein unübertroffenes Lehrstück: So konnte Otto Schily seine Offerte als humanistisch gebotene Maßnahme als Alternative zum Ertrinken deklarieren und sein italienischer Amtskollege die Migration aus Afrika sogar als eine Frage an das "europäische Gewissen" instrumentalisieren. "Gutmenschen" wie die ehemalige Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU) oder der Vorsitzende des Roten Kreuzes stimmten dann auch in diesen Chor ein. Wolfgang Schäuble (CDU) sprach sich indes gegen "Internierungslager in der Sahara" aus.
Einen menschenrechtlich-gouvermentalen Politikstil praktiziert auch die EU,
wenn es darum geht, in den Anrainerstaaten ihre Migrationspolitik durchzusetzen.
Man könnte fast sagen, dass sie sie - im Sinne eines Aufoktroyierens -
gar nicht durchzusetzen braucht. Vielmehr hat die EU eine Governance-Strategie
entwickelt, die auf der Mitwirkung und dem diskursiven Druck internationaler
Organisationen wie dem UNHCR und der IOM, sowie von NGOs basiert. Das Weißbuch
über Europäisches Regieren von 2001 (Kommission 25.7.2001), das von
der Debatte um den die Europäische Verfassung stark in den Hintergrund
gedrängt und deshalb kaum in einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis
genommen wurde, liest sich hinsichtlich der strategischen Partizipation der
Zivilgesellschaft, der stärkeren Nutzung von "Experten-Wissen",
der dezentralisierten Durchführung von Maßnamen mittels "Agenturen"
oder der Forderung nach einem "multi-level governance", um nationale,
regionale und lokale Akteure stärker in die EU-Politiken miteinzubeziehen,
wie das dazu passende Drehbuch (vgl. http://europa.eu.int/comm/governance/governance-eu.htm).
Die Vorbeitrittsphase zur EU, in der sich die Türkei seit 2001 befindet,
war für uns eine gute Gelegenheit, dies im Konkreten studieren zu können
(vgl. Hess/ Karakajali 2004). Obwohl die Türkei aufgrund ihrer geografischen
Lage und anderer Faktoren schon immer ein Transitland für Migrations- und
Fluchtbewegungen in den Nord-Westen gewesen ist, war dies bis vor kurzem kein
Thema in Politik und Öffentlichkeit. Die wenigen Versuche, das Thema Ende
der 90er Jahre rechtspopulistisch zu lancieren, schlugen aufgrund zu schwacher
Resonanzen fehl. Seit 2001 befindet sich die Türkei in der sog. Vorbeitrittsphase,
in der sie schon die politischen Kriterien des acquis zu übernehmen hat,
ohne jedoch den Status eines Beitrittskandidaten inne zu haben. Die EU-Migrationspolitik,
der sog. Schengen-Acquis, bildet einen Teil der politischen Beitrittsbedingungen.
Dabei stand die EU vor dem Problem, welches sich in etwa so formulieren lässt:
Wie vorgehen in einem Land, in dem Migration gar nicht als politisch zu regulierendes
Phänomen verhandelt wird? Dabei handelt es sich um ein Problem, mit dem
die EU in den meisten Beitrittsländern konfrontiert war. Darüber hinaus
entspricht die Übernahme der EU-Migrationspolitiken eigentlich nicht den
Interessen der Türkei, der es bislang ganz recht war, dass das Gros der
MigrantInnen TransitmigrantInnen waren und weiterwandern wollten. Andererseits
basiert auch der Boom der türkischen Textilindustrie auf dem unerschöpflichen
Reservoir billiger, undokumentierter Arbeitskraft, welches sich nicht nur aus
Hunderttausenden BinnenmigrantInnen aus dem Osten und Tausenden ImmigrantInnen
aus den benachbarten russischen und nah-östlichen Ländern speist.
Auch viele MigrantInnen im Transit müssen für ihre Weiterwanderung
arbeiten und schließen sich den informellen Ökonomien an.
Hier greift die Governancestrategie: So kritisierten schon seit Jahren der UNHCR und die Menschenrechtsorganisationen wie auch der IHD, der türkische Menschenrechtsverein, das Fehlen einer konsistenten Asylpolitik. Diese Konstitution des Diskursfeldes macht sich nun die EU zunutze, was man erst mal nicht den Akteuren vorwerfen kann. So argumentiert die EU-Kommissarin für Inneres und Justiz in der Türkei, dass der Flüchtlingsschutz ausgebaut und dementsprechende Institutionen errichtet werden müssten. Dies bedeute zu allererst, die wirklichen Flüchtlinge von den illegalen MigrantInnen zu trennen. Allerdings - und ab hier wird es fraglich - bekommt sie hierfür Applaus nicht nur vom UNHCR, sondern auch von den NGOs. Denn unthematisiert bleibt hierbei, dass im Schlepptau eines stringenten Asylsystems auch ein stringentes Selektionsverfahren und Abschiebesystem eingeführt wird. Hierbei lässt sich empirisch bestens demonstrieren, dass das Phänomen der "irregulären Migration" erst in politischen Akten des Namings und der Verrechtlichung als "Gegenstand" erzeugt wird. Ist der Topos der "irregulären Migration" gesetzt, kommt die IOM mit ihrer Anti-Trafficking-Kampagne diskursiv ins Spiel und bearbeitet den Diskurs in einer spezifischen Weise. Dabei ähnelt der Anti-Trafficking-Diskurs dem Diskurs des Flüchtlingsschutzes, der vor allem vom UNHCR vorgebracht wird, und zeitigt ähnliche Effekte. Denn so wie die Behauptung, Flüchtlinge schützen zu wollen erst eine staatliche Migrationspolitik auf den Plan ruft, so verhilft der Anti-Trafficking-Diskurs, das verschärfte Vorgehen gegen die illegale Migration als menschenrechtliche Schutzmaßnahme für die Opfer des Menschenschmuggels zu legitimieren. Darüber hinaus sind sowohl die IOM als auch der UNHCR über Auftragsvergaben in der Lage, die junge Migrationsforschung in der Türkei mitzukonstituieren, NGOs zu initiieren und zu unterstützen und auf diese Weise Agenda-Setting zu betreiben. Beide Organisationen sind darüber hinaus auch gegenüber den staatlichen Apparaten als Vorfeldorganisationen der EU tätig. Die IOM führt Seminare für Vollzugsbeamte zum Thema Menschen- und Frauenhandel durch (Hess 2004) (7). Der UNHCR veranstaltet bereits seit Ende der 90er Jahre für türkische Vollzugsbeamte Seminare im Bereich Asyl. Beide üben damit außerhalb der EU praktisch und diskursiv EU-Standards ein. Das deutsche Bundesamt zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) baut darauf mit seinen Seminaren für das türkische Innenministerium auf, in denen es unterschiedliche best-practice Ansätze vorstellt. Die EU kann sich dabei vornehm zurück halten und die Rolle eines Wissensvermittlers und Mediators einnehmen. Den Rest erledigt die transnationale öffentliche Meinung. Doch diese Rechnung geht nicht ganz auf, denn die EU und ihre Implementierungs-Diskurse produzieren nicht nur willige Vollstrecker, sondern auch ihre Kritiker, die sie an ihren eigenen Maßstäben zu messen lernen.
Im folgendem Abschnitt wollen wir der Frage nachgehen, wie diese gesamte Maßnahmenpalette
zu verstehen ist. Laufen sie, wie es seit Jahren postuliert wird, auf eine "Festung"
hinaus? Oder anders gesagt, was lässt uns die Figur der "Festung"
sehen und verstehen und was verunmöglicht es?!
Angesichts unserer bisherigen Ausführungen ist die Metapher der "Festung
Europa" zum einen zu kurzgreifend, andererseits aber auch zu generalisierend.
Sie verfehlt, sowohl die neuen Grenzpolitiken und deren Akteure, als auch deren
Funktion und damit das Migrationsgeschehen insgesamt und dessen politischen
Gehalt zu verstehen. Die vier nachfolgenden, von uns entwickelten Arbeitshypothesen
sollen dies konkretisieren.
Angesichts des weit gefächerten und äußerst selektiven Arsenals von Kontrollpolitiken von den Botschaften in den Herkunftsländern, über den Einsatz der Flugunternehmen als Grenzkontrollinstanzen bis hin zur Definition von Bahnhöfen als Grenzräume im Innern lässt sich längst nicht mehr von Grenze als territorialer Linie sprechen. Die territoriale Grenze wurde transformiert in höchst flexible und differenzierte, nicht markierte Grenzräume nach innen und - wie gezeigt - weit nach außen, die die erstaunliche Fähigkeit haben, je nach Charakteristika von Personen bzw. Bevölkerungsgruppen in die Praxis umgesetzt zu werden oder inexistent zu sein. Kritische Forscher/innen sprechen von einer Deterritorialisierung von Grenzen und damit von Staatlichkeit (Walters 2002; Anderson 2000; Lahav/ Guivandon 2000). Viele der neuen Grenzzonen sind höchst technologisiert, ja militarisiert (mit Nachtsichtgeräten, Wärmebildkameras, Röntgenapparaturen, speziellen Hubschraubern und Booten). Andererseits treten sie aber auch höchst informatisiert und virtualisiert auf. Vor allem werden sie outgesourcet und privatisiert an Sicherheits- und Fluggesellschaften oder Institutionen wie die IOM oder die AWO - die beide in der Rückführung aktiv sind - bis hinunter zu kleinen NGOs. Sie manifestieren sich zudem in Staatsbürgerschafts-, Arbeitsmarkt- oder Sozialgesetzen. Doch um letztlich wirksam zu sein, müssen Grenzpraktiken bis weit in den Alltag hineinreichen und konsensual geteilt werden, wie es die aktive Fahndungshilfe der deutschen Bevölkerung an der Ostgrenze oder - anders gelagert - die gesellschaftlichen Grenzerfahrungen und -praktiken an der griechisch-türkischen Landesgrenze zeigen. Denn im Unterschied zur technologisch aufgerüsteten Ostgrenze (Dietrich 2000) funktionieren dort Grenzkrontrollen vor allem über soziale Kontrolle und das Weitergeben aufgelesener MigrantInnen an die Polizei bzw. sie funktionieren gerade aus diesem Grund auch nicht. Denn für die Menschen am Evros gehören Grenzübertritte und Migration zum eigenen historischen Erfahrungsraum. Angesichts dieser Diffusion von Grenze in den Raum und angesichts des nötigen Ensembles aus Technologien, Politiken, Institutionen und sozialen Praktiken sprechen wir vom Grenzregime.
Aber auch das Lager als die evidenteste Vergegenständlichung der Metapher
der "Festung Europa" scheint dieser deterritorialisierenden Dynamik
zu unterliegen.
Auf einem Kartographisierungsversuch der europäischen Lagerpolitik der
französischen Gruppe "migreurop" sind die "detention centres"
durch schwarze dicke Punkte dargestellt, die am südöstlichen Rand
der Europäischen Union beinahe eine Linie bilden, welche deckungsgleich
mit der äußersten südosteuropäischen Schengengrenze ist
(www.migreurop.org).
In der Ägäis scheint demnach die höchste Konzentrationsdichte
von Lagern in Europa zu existieren (Karakayali/ Tsianos 2004). Wenn aber Grenze
nicht gleich Grenze ist, sind Lager gleich Lager? Als wir uns empirisch auf
die Suche nach diesen schwarzen dicken Punkten machten, erwarteten wir infame
Festungen der Immobilität - gefunden haben wir Verhältnisse.
Für die Routen des border-crossings an der griechisch-albanischen Landesgrenze gab es und gibt es keine Lager, auch nicht in der Zeit des Massenexodus' aus Albanien (Marvakis/ Parsanoglou/ Psaroudakis 2004). Albaner, die z. B. auf Korfu gefasst werden, werden innerhalb von einer Stunde zurückgeführt. Dafür sorgt das griechisch-albanische Rückführungsprotokoll von 1998, das kein Asylrecht vorsieht und Massenabschiebungen zur Folge hatte. Zum anderen gibt es das staatliche Wissen um die faktische Nicht-Kontrollierbarkeit der Landesgrenze und die Verrechtlichung der Einwanderung durch Familienzusammenführung und Legalisierung (Baldwin-Edwards 2004). Für alle anderen, die über die Südrouten kommen, gibt es mittlerweile auf fast jeder Insel ein Lager (Panagiotidis/ Tsianos 2004). Doch die Lager sind nicht etwa eine Blockade. Vielmehr können sie als Eintrittstor zur Weiterwanderung bezeichnet werden - wobei dies den meisten Festgesetzten nicht wirklich klar ist. Da die zuständige Polizei die Asylverfahren in den Lagern jedoch nicht gewährleisten kann, jedoch die illegal Eingereisten aufgrund der Asylvermutung auch nicht direkt zurückweisen darf, bekommen sie nach dreimonatigem Aufenthalt ein quasi-Reiseticket nach Athen (als Registrierungszentrum ihres Antrags auf Asyl), um dort einen Asylantrag zu stellen. Wer einen solchen Antrag dann nicht stellt, ist verpflichtet, das Land innerhalb von zwei Wochen "freiwillig" zu verlassen. Entscheidend ist der Nebensatz, der auf dem "Freilassungsdokument" steht: "in einer Richtung Ihrer Wahl". Für diejenigen, bei denen angenommen wird, dass sie über die Türkei gekommen sind und nicht Asyl beantragen können oder wollen, bedeutet das eine sofortige und zwar quasi klandestine "Rückführung" nachts über die Gewässer des Grenzflusses Evros. Für diejenigen, die es schaffen mit dem "Freilassungsdokument" das Lager zu verlassen, bedeutet es in der Regel entweder ein Untertauchen in die Produktionsstätten der "Schattenwirtschaft", um die Kosten für die weitere "Reise" zu finanzieren und Schulden bei Fluchthelfern abzuarbeiten oder ganz einfach ein sukzessives Einleben als "undokumentierte ArbeiterInnen" in die Lebens-/ und Arbeitswelten ihrer community z. B. in Athen (Jordan/ Sträth/ Triandafyllidou 2003). In Athen residieren zwar alle Kontrollinstanzen, zugleich ist Athen aber auch der große urbane Raum, in dem Kontrollzugriffe nicht selten scheitern. Während einerseits die griechische Asyl- bzw. Migrationspolitik zunächst wie ein unkoordinierter, selektiver Zugriff seitens der Grenzschutzpolizei erscheint, stellt sie eine eigenartige Institutionalisierung von Transitmigration im Regulationsmodus der griechischen Migrationspolitik und der ihr zugrunde liegenden Maxime dar: Griechenland ist ein Transit-Einwanderungsland. Die Transitlager stellen deren zentrales Element dar. Bei einer kürzlich von der Grenzschutzpolizei durchgeführten Razzia in zwei Wohnungen in der Nähe der Stadt Mytilini auf der Insel Lesbos stellte sich folgendes heraus: Vier "Fluchthelfer" aus der Türkei und Griechenland hielten 40 MigrantInnen als "Garanten" dafür fest, dass deren sich in Athen aufhaltenden Familienangehörigen die Reisekosten erstatten werden. Bei einigen der Festgenommenen konnte, so der Bericht eines UNHCR-Mitarbeiters, nachgewiesen werden, dass sie mindestens schon zwei mal in die Türkei abgeschoben wurden.
Während die Story geradezu nahe legt, diese Fälle als den Beweis für das inhumane Gesicht des "Traffickings" zu stilisieren, lesen wir sie als Dokument der Praktiken des transnationalen, sozialen Grenzraumes um die Ägäis, was uns zur zweiten These bringt.
Der Regime-Begriff verweist vor allem darauf, dass Grenzen nichts Statisches sind, sondern sozialen Dynamiken und Kräfteverhältnissen unterliegen - wobei die Migration, wie dargestellt, selbst eine maßgebliche Kraft für das Grenzgeschehen darstellt. Doch auch die Technologien und Programmatiken, die halbjährlich auf den Ministerratstreffen im Kampf gegen die illegale Migration verabschiedet werden, müssen zur Praxis gebracht werden. Und da weisen nicht nur die Kommissionspapiere auf erhebliche Kooperations- und Koordinationsmängel hin. Auch alle Grenzforschungen vor Ort demonstrieren, dass zwischen Brüssel und dem Evros-Gebiet doch ein erheblicher Unterschied besteht. Und dies nicht nur, weil sich nationalstaatliche Politiken an unterschiedlichen Interessen orientieren , wie beispielsweise im Falle der Wirtschaftspolitiken der Türkei und Griechenlands, die beide in großem Stil auf illegalisierter Arbeitskraft aufbaut. So kamen No-Border-AktivistInnen auf ihrer diesjährigen Tour entlang der neuen osteuropäischen Außengrenze zu der Auffassung, dass die EU sich mit ihrer Vorverlagerungspolitik einen Bärendienst erwiesen habe. Denn die sozioökonomischen Verhältnisse, sprich die Armut, führten zu einer Korruption der Grenzkontrollen in einem ungeahnten Ausmaß (Dietrich 2004). Während einmal in der Woche MigrantInnen abgefangen und in das ukrainische Lager Userod verfrachtet würden, beteiligten sich die Grenzpolizisten die anderen sechs Tage am Transportgeschäft. Dasselbe treffe für die Türkei wie auch für den Grenzverkehr in die nordafrikanischen Staaten zu, ganz zu schweigen von historisch tief verwurzelten, grenzüberschreitenden Schmugglernetzwerken - insbesondere entlang kolonialer Grenzziehungen (vgl. FR 17.11.2004).
Selbst die Programmatiken der EU-Kommission sprechen schon lange nicht mehr die Sprache der Abschottung, das scheinen nur noch einzelne nationalstaatliche Innenminister zu machen. Zu fragen ist allerdings, ob diese Abschottungs-Verlautbarungen nicht einfach nur den Sinn haben, die jeweils "eigenen" Bevölkerungen glauben zu machen, dass sie trotz Globalisierung alles im Griff haben. Die neuen Schlagwörter auf europäischer Ebene lauten mittlerweile Steuerung und Management, wie führende think tanks wie beispielsweise die IOM in die Debatte eingebracht haben (vgl. die Texte führender think tanks im Sammelband von Steffen Angenendt 1997). Sie stellen alle fest, dass eine Zero-Einwanderungspolitik, wie sie Deutschland die letzten 30 Jahre umzusetzen versucht hat, angesichts des Strategiereichtums und des Drucks der Migration nicht möglich, aber auch angesichts der ökonomischen und demographischen Prozesse nicht wünschenswert ist. Es sei endlich zu akzeptieren, dass Migrationen weiterhin stattfinden werden, die Frage sei nur: wie? Plädiert wird für eine Regulationspolitik, um deren positive Effekte für alle zu maximieren. Auch Studien über die hochgerüstetste Grenze der Welt, die mexikanisch-US-amerikanische, die oftmals als Vorbild für die "Festung Europa" galt, kommen zu dem Ergebnis, dass die Mobilität gerade nicht unterbunden werden soll (De Genova 2002). Das Grenzregime soll den Preis für die Überquerung in materiellem, psychisch und physischem hochschrauben und eine Hierarchisierung von Rechtslagen bis hinunter zur Illegalisierung etablieren. Dies ist auch als eine wirtschafts- und innenpolitische Strategie der Kontrolle eines Arbeitskraftsegments, welches ökonomisch nachgefragt, doch dessen soziale Reproduktion und politische Artikulation ausgelagert bleiben sollen, zu verstehen. Der Blick auf die Mauern der "Festung Europa" - so notwendig er historisch war, um eine neue Entwicklung der Migrationspolitiken zu skandalisieren - reproduziert in letzter Instanz den Mythos der Zero-Einwanderung, den er eigentlich vorgibt zu kritisieren. Er verstellt den Blick dafür, dass Migrationen tagtäglich stattfinden. Auch wenn die Zahlen von Asylbewerbern auf einen Tiefstand gesunken sind, heißt dies noch lange nicht, dass sich keine Flüchtlinge mehr auf den Weg machen. Heute sind sie in sozialen Räumen zu finden, die weitestgehend durch Illegalisierung gekennzeichnet sind und nicht in Deutschland liegen.
Auch wenn die neoliberalen Steuerungsansätze von der Faktizität der Migration ausgehen, verkennen sie - wie auch weite Teile der europäischen Linken - die Materialität und Subjektivität der Migration. Sie lässt sich nicht aus Kosten-Nutzen-Rechnungen ableiten und im Sinne einer Reservearmee steuern. Das Motivspektrum der meisten MigrantInnen und Flüchtlinge hat noch nie in die vom Staat vorgegebenen Kategorisierungen gepasst. Vielmehr lässt sich durch Interviews, die mit Flüchtlingen und Migrant/inn/en während des Transits geführt wurden, zeigen, wie geschickt und bewusst migrations- und asylpolitische Kategorisierungen ausprobiert, Biographien umgeschrieben und notwendige Beweismaterialien beschafft werden, um irgendwie dem Traum eines besseren Lebens näher zu kommen. Letztendlich könnte man auch den Spieß umdrehen und die Geschichte anders herum schreiben, wenn man den Exodus, die Flucht, die Migration als kraftvolle Abstimmung mit den Füßen und als Selbstermächtigungsstrategie für ein besseres Leben in den Mittelpunkt der Analyse stellen würde. Dies soll nicht heißen, Migration zu romantisieren und das Elend und Leid wegzuretuschieren. Doch es würde bedeuten, Migration als soziale Bewegung, als soziale Kraft anzuerkennen, die Geschichte macht und tendenziell, im Begehren nach einem guten Leben, welches in ihren grenzüberschreitenden Schritten manifest wird, die Verfasstheit dieser Gesellschaft tagtäglich herausfordert. Dann würde deutlich, dass die Migrationspolitiken hinterherhinkend, nachvollziehend Migration und deren Routen zu kontrollieren versuchen. Auch die zu mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln zu kritisierende Exterritorialisierung von Lagern, beispielsweise in Libyen ließe sich anders lesen: als Definitionsmächtigkeit der Migration über politische Steuerungsversuche. So hat - etwas frech gesagt - die Migration geschafft, was Gaddaffi lange nicht bewerkstelligen konnte, nämlich den Dialog zwischen Libyen und der EU wieder initiiert. Dieser Perspektivenwechsel ändert freilich nichts an den miserablen Lebensbedingungen in Folge der Entrechtungspolitik in Form von Lagern, Abschiebungen, Arbeits-, Wohn-, Bildungs- und Gesundheitspolitik. Vielmehr stellt er gerade das Moment der Entrechtung als zentrale Funktionsweise des Grenzregimes in den Mittelpunkt. Allerdings mit einem weiteren Unterschied zum Akteurskonzept der "Festung Europa". Denn der Perspektivenwechsel beruht auf dem Wissen, dass MigrantInnen tagtäglich in ihren grenzüberschreitenden Schritten dieser Entrechtung trotzen, sie unterwandern und in alltäglichen kleinen Taktiken sich Rechte aneignen. In diesem Sinne ist es an uns, daran anzuknüpfen und das Recht auf Flucht, das Recht auf Mobilität wie generell das Recht auf Rechte einzufordern und z. B. in die europäische Verfassungsdebatte einzubetten. Wenn also das europäische Migrations- und Grenzregime weniger die Abschottung und vielmehr die flexible Kontrolle der unterschiedlichen Formen der migrierenden Arbeitskraft zum Ziel hat, sollte man daraus auch politische Konsequenzen für die Destabilisierung dieser Elendsmaschinerie ziehen. So versucht Etienne Balibar in seinem Buch "Sind wir Bürger Europas?" (Balibar 2003) die Dynamik der transnationalen Migration in die Debatte um die Demokratisierung Europas einzuschreiben. Balibar betont, dass die Schaffung eines "Raumes der Gerechtigkeit und der Sicherheit" für die EU-europäische Bevölkerung zugleich die Institutionalisierung einer "europäischen Apartheid" für alle MigrantInnen aus sog. Drittländern bedeutet. In Abgrenzung zu einem positivistischen Verfassungsdenken, welches von einer stufenweisen Evolution von Partizipationsrechten ausgeht, sieht er das Interventionspotenzial der illegalisierten Migration darin bestehen, die Institution der Grenze an sich mit einer demokratischen Offensive zu konfrontieren. Das Ziel wäre demnach eine für Immigranten offene "Bürgerschaft in Europa" (im Gegensatz zu einer "europäischen Staatsbürgerschaft" der EU-StaatsbürgerInnen), eine Veränderung also des historischen Verhältnisses der Bevölkerung zum Territorium (8). Das bedeutet eine Artikulation der Kämpfe der grenzüberschreitenden MigrantInnen zusammen mit einem unaufhörlichen Kampf für das Recht auf Grenzübertritt und eine mehrfache Staatsangehörigkeit (Balibar 2003, 187).
1) Der Beitrag geht auf einen Vortrag bei der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e. V. in Frankfurt/ M. am 7.12.2004 zurück. Er basiert auf Diskussionen und Feldforschungen, die wir zusammen mit Serhat Karakayli, Efthimia Panagiotidis und Manuela Bojadzijev im Rahmen des Forschungsprojekts TRANSIT MIGRATION, einem Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes, durchgeführt haben (siehe www.transitmigration.org). Ferner gibt die Zeitung Movements of Migration, die von einem europäischen Netzwerk von ForscherInnen, TheoretikerInnen und BorderaktivistInnen anlässlich des Europäischen Sozialforums 2004 in London produziert wurde, Aufschluss über unsere praktische und theoretische Arbeit (www.noborder.org/esf04/display.php?id=318).
2) Vgl. Deutschland: Schily schlägt Asyllager in Afrika vor, in: Migration und Bevölkerung. 06/04 (August 2004); kritisch dazu PRO ASYL: Mit neokolonialer Attitüde an den Problemen der Flüchtlinge und der Staate Afrikas vorbei; in: www.proasyl.de/presse04/aug02.htm (Stand: 2. August 2004) und Christoph Marischka: Inszenierter Alltag; in: Ausdruck - Das IMI-Magazin, August 2004, S. 19 f.
3) Vgl. exemplarisch dazu : Christoph Marischka: Festung Europa?, in: AUSDRUCK-Das IMI-Magazin, Juni 2004 und für den Einzug dieses Topos' in die etablierte Migrationssoziologie siehe Steffen Angenendt (Hg.): Migration und Flucht, München 1997.
4) Im Jahre 1985 das erste davon mit Polen.
5) Um die Verbesserung der Kooperation, des Austauschs und der Vermittlung von EU-Beschlüssen in nationale Politikpraktiken geht es auch der sog. Agentur, die anstelle der auf EU-Ebene nicht durchsetzbaren gemeinschaftlichen Grenzschutztruppen 2004 installiert wurde. Sie soll die Koordination von Return-Operationen und Abschiebungen übernehmen, bei der Erlangung von Reisedokumenten helfen und Ausbildungsprogramme und Guidelines entwickeln.
6) In diesem Kontext ist es kaum überraschend, dass Griechenland als NATO-Mitglied 20 Prozent der Regelfinanzierung übernimmt.
7) In diesem Sinne ist auch folgendes Ereignis aussagekräftig: Während des NATO-Gipfels 2004 in Istanbul unterzeichneten im Beisein des amerikanischen Außenministers die türkische Regierung und die einzige Frauenorganisation gegen Frauenhandel in der Türkei ein Abkommen, in dem beide Seiten sich verpflichteten, in Zukunft besser zusammen zu arbeiten.
8) Vgl. dazu auch Bojadziejev/ Karakayli/ Tsianos (2003).
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