KRISE DES REPRÄSENTATIVSYSTEMS UND

(GROß)-STÄDTISCHE REFORMPOLITIK

Von Joscha Schmierer

Wenn
man Kohl und seine Regierung trotz Finanzkrise, Verschuldung und Steuerausfällen selbstsicher auf Bundesebene herumturnen sieht, kann man tatsächlich zu der Meinung kommen, wir hätten es gegenwärtig in erster Linie mit einem Desaster der SPD und infolgedessen mit einem Zerfall rotgrüner Mehrheitsfähigkeit zu tun. Schaut man allerdings genauer hin, dann zeigt sich eher ein Zerfall jeder Mehrheitsfähigkeit der gegebenen politischen Formationen in der bisherigen Konstellation.

Sicher war die Niederlage von Andreas von Schoeler und der Wahlsieg von Frau Roth das auffallendste, weil allein sofort sichtbare Ergebnis der Frankfurter Oberbürgermeisterwahlen, wichtiger aber ist doch, daß sie im Frankfurter Stadtparlament faktisch die Weichen für eine große Koalition gestellt zu haben scheinen. Nach den Bremer Wahlen gab es das gleiche Ergebnis und in Berlin hat nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch die CDU Stimmen verloren und ist gleichzeitig die FDP aus dem Parlament verschwunden, so daß wie die die Dinge liegen, erneut nur die große Koalition in Frage zu kommen scheint. Die kommt inzwischen allerdings gerade noch an die 60 Prozent heran, einen Anteil den früher die SPD in Berlin fast allein erreichte. Und in all diesen Fällen ist die Wahlbeteiligung so sehr gesunken, daß zumindest in Berlin noch nicht einmal eine große Koalition die Mehrheit der Wahlberechtigten repräsentieren könnte.

Es funktioniert also oft nicht nur nicht mehr das bisherige Spiel von Regierung und Opposition in den alten Lagern, sondern es beginnt sich eine Krise des Repäsentativsystems selbst abzuzeichnen. Denn wenn die beiden bisherigen Hauptparteien des Parlaments nicht einmal zusammengenommen die Mehrheit der Wahlberechtigten vertreten, kann man doch wohl von einer Krise der repräsentativen Demokratie sprechen.

Dieser Krise voraus ging eine Krise der Parteien, die innerhalb der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik ja der entscheidende Filter sind, um die Repräsentativität des Parlaments überhaupt zu ermöglichen. Sie treffen die notwendige Vorauswahl der Kandidatinnen und Kandidaten. Das Parlament kann also nur solange einigermaßen repräsentativ sein, solange die Parteien repräsentative Lager bilden und präsentable Kandidatinnen und Kandidaten stellen., die dann als Abgeordnete auch repräsentativ wirken. Wenn aber die Parteien schrumpfen, ihre Lagerbildung mit den gesellschaftlichen Strömungen nur noch wenig zu tun haben, wenn sie zunehmend im eigenen Saft schmoren, hauptsächlich aus Leuten des Staatsapparates bestehen und aus diesem Kreis auch ihre Kandidatinnen und Kandidaten ziehen, dann repräsentieren die Parteien zunehmend nur noch sich selbst beziehungsweise Seilschaften innerhalb des Staatsapparates. Das wiederum aber macht sie einerseits öffentlichkeitsscheu und liefert sie andererseits um so mehr nicht öffentlichen Pressionen konzentrierter gesellschaftlicher Macht aus. Was also jetzt verspätet als Zerfall rot-grüner Mehrheitsfähigkeit erscheint, ist im wesentlichen Ausdruck einer Krise der Parteien und des Repräsentativsystems selber, das durch den Aufstieg der Grünen, die ja viele tatsächliche oder potentielle Nichtwähler in der Konstellation der 7oer Jahre in den achtziger und neunziger Jahren an die Urnen gebracht haben und nicht umsonst als vergleichsweise neue politische Kraft vor allem unter den jungen Wählerinnen und Wählern Zulauf finden. Indem die Grünen also die Fünf-Prozenthürde einmal übersprungen hatten und sich nach ihrem Reinfall 1990 wieder erholen konnten, haben sie der repräsentativen Demokratie noch einmal frische Luft und Repräsentierte zugeführt. Indem sie sich dann prinzipiell und nicht nur nolens volens auf das "rot-grüne Projekt", das es ja tatsächlich nicht gibt (dazu später) festlegten, haben sie zugleich die Parteilager neubelebt, die in die Krise gekommen waren. So haben die Grünen im wesentlichen die Regierungsfähigkeit der SPD wiederhergestellt, die diese in den achtziger Jahren zu verlieren drohte, und die Krise des Repräsentativsystems daran gehindert, sichtbar zu werden. Über den drohenden Kollaps der SPD werden sie von beiden Krisen selbst eingeholt.

Die Krise des Repräsentativsystems hat ihre Ursache nicht nur in der schwindenden und selbstverschuldeten Repräsentativität der Parteien, sondern auch in der Herausbildung einer Gesellschaft, die sich in den letzten zwanzig Jahren immer weniger durch Lager und Parteien repräsentieren ließ. Parteien in Europa sind ihrer Entstehung und ihrem Wesen nach Klassenparteien, Parteien die Klasseninteressen vertreten. Die klassischen Parteien sind die Konservativen, die Liberalen und die Sozialisten, die jeweils den Grundbesitz, die Bourgeoisie und die Arbeiter vertreten. Ihre klassische Zeit hatten sie jeweils, als es darum ging, die Interessen der von ihnen vertretenen Klassen zur Geltung und zur Anerkennung zu bringen. Dabei gab es Bündnisse. Die Liberalen und die Sozialisten konnten zusammengehen, solange es die politische Vorherrschaft des Grundbesitzes zu brechen galt, die Konservativen und die Liberalen konnten zusammengehen, als es galt die Arbeiterpartei von der politischen Macht fernzuhalten. Sobald diese Kämpfe einmal ausgefochten sind und alle klassischen Parteien in der repräsentativen Demokratie zu repräsentativen Parteien wurden und sich gleichzeitig die Gesellschaft auf kapitalistischer Grundlage herausgebildet hat, in der sich die Lohnabhängigkeit verallgemeinert und an die Stelle von qualitativen Standesunterschiede quantititative Einkommensunterschiede in Geld treten, ist die Zeit der klassischen Parteien als Klassenparteien vorbei, wie sie in den USA von vornherein nie gegeben war.

In einer Situation wie der Weimarer Republik, in der die Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit mit schroffen Abstieg und allgemeiner Auflösung bestehender Verhältnisse verbunden war, kann dann die Stunde der Nazis und der Volksgemeinschaft kommen. Nach der Zerschlagung des Faschismus kam die Stunde der Union oder Volkspartei, die die Sozialdemokratie zunächst verpaßte. Damit ist die Geschichte aber nicht zu Ende. Gerade unter der Regierung Kohl erreichte die Individualisierung, die ja nur die andere Seite der Verallgemeinerung der Lohnabhängigkeit ist, ihren Höhepunkt, damit aber auch die Unmöglichkeit die Gesellschaft in Parteilagern zu repräsentieren und diese gegeneinander ins Feld zu führen. Kohl mußte dies vor 1989 drastisch erfahren. Es kann ja wohl wenig Zweifel sein, daß er ohne die Wiedervereinigung und seine Fähigkeit, diese cäsaristisch zu meistern, die Tage seiner Regierung vorbei gewesen wären. Das Potential für eine cäsaristische Mobilisierung, oder anders gesagt, für den plebiszitären Gebrauch der parlamenatischen Demokratie gewann er aber nur durch die Wiedervereinigung. Daß über die Wiedervereinigung dann in der Bundesrepublik wieder der Boden für eine ostdeutsche Volksgemeinschaftspartei entstand, ist eine kleine Ironie der Geschichte, die noch einige Auswirkungen auf das Repräsentativsystem der Bundesrepublik haben kann und in den neuen Ländern (Sachsen-Anhalt) und jetzt Berlin ja auch hat.

In meinem Zusammenhang hier ist nur von Bedeutung, daß es Kohl über die Wiedervereinigung und seinen plebiszitären Gebrauch der parlamentarischen Demokratie es zwar gelungen ist, den Riß zwischen Repäsentierten und repräsentativen Parteien für sich selbst noch einmal zu kitten, daß das aber nicht dazu geführt hat, die Kluft zwischen einer der abhängigen Lage nach qualitativ weitgehend homogenisierten Gesellschaft, die sich entsprechend individuellen Einkommensverhältnissen quantitativ extrem differenziert, und einem formell nach Lagern funktionierenden Parteienmechanismus der repräsentativen Demokratie zu verringern und seine Partei erneut als Bindemittel zwischen Staat und Gesellschaft zu etablieren.

Im Ergebnis haben wir eine der Lage nach durch allgemeine Lohnabhängigkeit stark homogenisierte Gesellschaft, die durch aktuelle Einkommensverhältnisse extrem differenziert ist, also durch gleichartige Abhängigkeitsverhältnisse prinzipiell zusammengehalten und durch unterschiedliche Einkommensverhältnisse atomisiert wird, und ein politisches Repräsentativsystem, das sich in entgegengesetzten Lagern artikuliert, und doch nur den gleichen statistischen Durchschnitt repräsentiert. Das läuft daraus hinaus, daß die Gesellschaft über keine handlungsfähigen Institutionen verfügt und die Parteien über keine Handlungsfähigkeit. Die Gesellschaft kommt nicht über ihren Pluralismus hinaus und die Parteien nicht über ihre formelle Polarisierung. Und eben daraus ergeben sich erzwungene große Koalitionen einerseits und das Gefühl, doch nicht gefragt zu werden andererseits.

"Strategien großstädtischer Reformpolitik" sind gegenwärtig nicht zu haben. Überhaupt ist die Frage nach Strategien verfehlt. Strategien setzen den Strategen voraus oder wenigstens einen Generalstab. Waren oder hatten die Parteien sowas jemals, dann sind diese Zeiten jetzt jedenfalls vorbei. Strategien verlangen für ihre Umsetzung eine Avantgarde die nach Befehl und Gehorsam funktioniert und eine Gesellschaft, die in dieser Weise ansprechbar ist. Mit beidem kann heute nicht gerechnet werden.

Wir können deshalb nur nach Formen und Formulierungen fragen, in denen Reformvorschläge eine Chance hätten. Eben nach diesen wenig zu fragen, hat die Grünen zu einer Partei unter anderen gemacht. Eines der Ziele der Grünen vor ihrer ersten Regierungsbeteiligung in Frankfurt war die autofreie Innenstadt. Nach ihrer Regierungsbeteiligung hat man nicht mehr viel davon gehört und wenn ich es recht sehe, sind die autofreien Sektoren der Innenstadt, wo inzwischen sogar Bäume wachsen, Ergebnis früherer Entscheidungen. Ich denke, daß das politische Ziel autofreie Innenstadt einerseits zu konkretistisch formuliert wurde und daß andererseits überhaupt nicht überlegt wurde, in welchen politischen Formen mit den unvermeidlichen Widerständen gegen dieses Ziel hätte umgegangen werden können. Die Formulierung des Ziels allgemeiner zu fassen, z.B. eine Reduzierung des individuellen Nahverkehrs um 30 Prozent in vier Jahren zu verfechten und gleichzeitig die Formen für die Verwirklichung eines solchen Vorhabens zu benennen, halte ich für angemessener. Der Widerspruch bei all solchen Vorhaben liegt nicht zwischen politischer Avantgarde und träger Bevölkerung, sondern zwischen allgemeiner Meinung und individueller Betroffenheit sowie der mangelnden politischen Vermittlung zwischen beiden. Will rot-grün eine autofreie Innenstadt muß schwarz-gelb dagegen sein und alle Kräfte mobilisieren, die in diesem Vorhaben ein Haar finden. Rot aber wird dann Angst bekommen, zumal Teile seiner eigenen Klientel dagegen Sturm laufen. Plötzlich gibt es keine allgemeine Meinung und keinen allgemeinen Willen mehr, sondern nur noch das Geschrei von Betroffenen.

Will Grün eine Verminderung des Autoverkehrs in Frankfurt um dreißig Prozent, werden alle dafür sein und danach wird es Streit darum geben, wie dieser allgemeine Wille umgesetzt werden kann. Wer sich durch eine konkrete Maßnahme betroffen fühlt, wird erklären müssen, wie ohne sie das allgemeine Ziel dennoch zu erreichen ist. Kommunen und erst recht Großstädte erscheinen heute einerseits als reiner Menschenhaufen und andererseits als Clans betroffener Parzellenbauern. In beiden Formen an sich genommen sind Städte reformunfähig. Es sind Formen zu suchen, in denen sich die abstrakten Bürgerinnen und Bürger der Stadt und die konkreten Anwohnerinnen und Anwohner einer Straße - das sind zwei Seiten der gleichen Personen - sich verständigen, aber auch überstimmen können. Referenden und große Hearings sind also notwendige Formen der Politik, um allgemeine politische Ziele in konkrete Maßnahmen umsetzen zu können.

Viel zu sagen haben die Kommunen ohnehin nicht. Auch von daher kann es keine Strategien großstädtischer Reformpolitik geben. Wohl aber kann es (groß-)städtische Reformpolitik geben, die sich an die Allgemeinheit und den Bund richtet. Warum unternehmen die Städte nichts in der Einbürgerungsfrage von Ausländerinnen und Ausländern? Es ist doch offensichtlich, daß Frankfurt als Stadt nur lebensfähig ist, weil seine fast 30 Prozent Ausländerinnen und Ausländer in die Stadt mehr oder weniger integriert sind. Für die Stadt ist es entwürdigend, daß ihre Bürger, weil keine Staatsbürger, auch keine Stadtbürger sind. Dagegen kann die Stadt doch etwas tun. Sie kann zum Beispiel den Nachweis ermutigen, daß sie ohne die ausländischen MitbürgerInnen nicht funktioniert. Die Stadt könnte zum Beispiel einen Werktag zum Tag der ausländischen Bürgerinnen und Bürger ausrufen und ihn feiern. Für all das gäbe es eine Mehrheit in der Stadt, aber dazu braucht die Stadt ihre Repräsentanten. Die haben aber anderes im Kopf.

Parteien mögen Strategien haben, sicher auch Reformstrategien. Es können nicht viel mehr als Wahlstrategien sein, für die das Wahlvolk Material ist. Es käme aber darauf an, nach politischen Formulierungen und Formen zu suchen, in denen die Gesellschaft nicht nur über Reformvorhaben entscheiden, sondern sie auch in Angriff nehmen kann. Einstweilen werfe ich meinen Biomüll in die schwarze Tonne.