Frauen als Pionierinnen neuer sozialer Umverteilung
und gesellschaftlicher Solidarität

Von Dörthe Jung

1. Aktuelles Szenario

Ein Charakteristikum des aktuellen gesellschaftlichen Szenario ist die Dominanz des ökonomischen Diskurses, dem sich alles andere zur Zeit unterzuordnen hat. Fragen nach den Instrumenten sozialer Sicherung, nach sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit werden unter der Perspektive der zu hohen Kosten für den 'Wirtschaftsstandort Deutschland' relevant. Auch frauenpolitische Ansätze geraten unter diesen ökonomischen Handlungs- und Legitimationszwang. In Verwaltungsreformbestrebungen des öffentlichen Dienstes etwa wird das Recht von Frauen an gleichwertiger Beteiligung und politischer Repräsentanz mit dem moderaten Verkaufs- und Marketingargument "Frauenpolitik rechnet sich" angepriesen. Dabei ist es durchaus legitim, frauenpolitische Forderungen mit ökonomischen Gewinninteressen klug und gewitzt zu verknüpfen. Aber eine neue politische Strategie, die längerfristig mehr Erfolgschancen für die Durchsetzung von Fraueninteressen verspricht als eine Politik, die BürgerInnenrechte und soziale Gerechtigkeit ins Zentrum feministischer Überlegungen stellen, wird sie wohl nicht taugen. Auch bezweifele ich, daß sie vor weiterer politischer Stagnation zu retten vermag. Und zwar aus einem einfachen Grund: Wenn die Nachhaltigkeit von gesellschaftlicher Entwicklung in den Blickwinkel gerät, dann wird es zukünftig weniger um die anhaltende Dominanz des Ökonomischen als um seine Relativierung gehen.

Die bestehende Marginalisierung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen wird sich nicht strukturell durch das Einfädeln in den ökonomischen Diskurs verändern, sondern durch einen gesellschaftlichen Perspektivenwechsel, in dem nachhaltiges Wirtschaften, neue Formen des Wohlstandes und Arbeitens zentral sind. Aus einer solchen Perspektive erscheinen dann die Frauen mit ihren gesellschaftlichen Lebensformen eher als Modernisiererinnen, wenigstens jedoch als Pionierinnen (Christel Eckart) in Anbetracht der zu bewältigenden zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen.

2. Individualität und soziale Verantwortung.

Als Anfang der achtziger Jahre André Gorz und andere die damalige Prognose, der Gesellschaft gehe in naher Zukunft die Arbeit aus, zum Anlaß für die Entwicklung neuer Umverteilungsmodelle nahmen, schalteten sich Feministinnen in diese Debatte ein. Ihre ersten Fragen lauteten: Wem geht die Arbeit aus und welche Arbeit geht aus? Gegen die damals kursierenden romatisierenden Zukunftsmodelle gesellschaftlicher Existenzweisen, die sich an der Muse des alten Adels orientierten, setzten die Frauen den anderen Teil gesellschaftlicher Arbeit, der auch bei sich verringender Erwerbsarbeit bestehen bleibt: die Reproduktionsarbeit. Fragen der Umverteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen wurden in dieser Debatte von feministischer Seite aufgegriffen und dabei die Veränderungsmöglichkeiten geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung ins Zentrum gestellt. Wenn auch viele der heutigen Diskussionen auf Ansätze aus der damaligen Debatte zurückgreifen (meistens ohne sich auf diese zu beziehen, wie z.B. bei der Arbeitszeitdiskussion), so haben sich doch zwei Rahmenbedingungen im Vergleich zu den der 80.Jahre grundlegend verändert: zum einen die mit Globalisierung einhergehende elementare Umstrukturierung der Erwerbsarbeit, zum anderen die tiefen Einschnitte in das bestehende Sozialsystem, die dessen Fragmentierung zur Folge haben werden. Die in den achtziger Jahren entworfenen Umverteilungsmodelle gingen noch von wirtschaftlichem Wachstum als unveränderlicher Größe aus. Von dieser Grundannahme her kann heute keine soziale Vision mehr entwickelt werden. Am Ende dieses Jahrhunderts geht es um die Gestaltung des Weniger.

Ob hierbei nun eher Kriterien der Nachhaltigkeit zugrunde gelegt werden oder ökonomisches Gewinnstreben zum Allheilmittel erklärt wird - davon wird die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten entscheidend bestimmt. Der mainstream votiert zur Zeit auf Ökonomie pur. Visionäre Perspektiven sind hier jedoch nicht zu finden, wenn soziale Leitbilder noch eine Rolle spielen sollen. Bei einer solchen Orientierung müssen wir den Blickwinkel wechseln.

Die im mainstream eingenommene Perspektive, in der das bestehende Sozialsystem zum Kostenfaktor mutiert, den es tunlichst zu minimieren gilt, übersieht, daß das soziale Sicherungssystem schon lange vor der Entwicklung zur Globalisierung in eine Krise geraten ist. Die Gründe hierzu liegen in seiner Erwerbsarbeitszentrierung und in den Strukturen des Geschlechterverhältnisses, die es implizit zugrundelegt. Wie dysfunktional die Zentrierung auf Erwerbsarbeit in den bestehenden sozialen Sicherungssystemen ist, ist mittlerweile mit zunehmender Männerarbeitslosigkeit nicht nur für Frauenpolitikerinnen eklatant. Frauen hat diese Struktur schon immer Nachteile eingebracht, weil sich ihre Biographien und Arbeitsformen nicht in das Normalarbeitsverhältnis einpassen. Aber auch die Strukturen des Geschlechterverhältnisses mit Ehe und Kleinfamilie als einer weiteren Kerninstitution, auf die das bestehende Sozialsystem aufbaut, haben eine tiefe Erosion erfahren. So zeigt die Krise des Sozialsystems einerseits, daß Vollzeitarbeitsverhältnisse und kontinuierliche Erwerbsbiographien zunehmend auch für Männer immer weniger Gültigkeit haben. Andererseits wird deutlich, wie die Ehe als Versorgungsinstitut für eine gestiegene Anzahl von Frauen nicht mehr Gültigkeit hat und staatliche Sozialleistungen hier kompensatorisch einspringen müssen.

Dieser soziale Wandel wird in der gesellschaftlichen Diskussion als ein gestiegenener Individualisierungsprozeß der Gesellschaft beschrieben. Bei differenzierterer Betrachtung handelt es sich um eine Verschiebung des im traditionellen Geschlechterverhältnis eingeschriebenen Verhältnisses von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, von Bindung und Freiheit, wobei der weiblichen Rolle der erste Part, der männlichen der letztere Part zugeschrieben wird. Frauen haben in den vergangenen zwanzig Jahren diese Zuschreibungen in ihren eigenen Lebensformen neu ausbalanciert. Sie haben mehr Ansprüche an Individualität und an die Wahrnehmung von sozialen Rechten in ihre Lebensweisen integriert. Ihre Optionen für individuelle Wahlfreiheiten sind gestiegen, was sich in der Pluralisierung von Lebensstilen und in dem Bedeutungsverlust traditioneller Familienformen niederschlägt. In der gesellschaftlichen Diskussion zu diesem sozialen Wandel wird immer wieder interessanterweise ausgeklammert, daß Frauen die Entwicklung hin zu gestiegener Individualisierung nicht auf Kosten der Übernahme von sozialer Verantwortung realisiert haben. Sie sind noch immer in der überwältigenden Mehrheit die Trägerinnen von Erziehungsarbeit, Alten- und Krankenpflege sowie von ehrenamtlicher sozialer Arbeit. In dem sie jedoch die einseitige gesellschaftliche Zuschreibung auf Bindung und Regelungskompetenz für soziale Fürsorge durch eine stärkere Wahrnehmung individueller Rechte aufgebrochen haben, stehen sie der Gesellschaft nicht mehr in gleichem Maße als Naturressource zur Verfügung. So stellen sie zunehmend auch ihre Forderung an gesellschaftliche Solidarität (Kindergartenplätze) und an eine veränderte Umverteilung von sozialer Verantwortung (Frauenbewegung).

Nun sind die sozialen Wandlungsprozesse innerhalb des Geschlechterverhältnisses im wesentlich von seiten der Frauen erfolgt. Männer bestehen weiterhin auf ihrer institutionalisierten Verantwortungslosigkeit (Barbara Holland-Cunz) und hängen einem Individualitätskonzept an, das sie frei von Bindung und Fürsorge wähnt. Sie drängen die größten Anteile von sozialer Verantwortung auf das andere Geschlecht und in den privaten Bereich ab. Die für das Überleben einer Gesellschaft notwendigen Aspekte von Fürsorge und Bindung sind auch im heutigen Lebenskonzept der Männer abgespalten und auf's Weibliche projiziert. Deshalb gehen die modernen Lebensformen der Frauen, die eine neue Balance von gestiegener Individualität bei gleichzeitiger Übernahme von sozialer Verantwortung für die Erziehungsarbeit zu leben versuchen, häufig mit noch mehr Arbeit einher. Außerdem bedeutet der zunehmende Verzicht auf die Versorgungsinstitution Ehe, daß neuen soziale Risiken für Frauen entstehen. Der enorme Anstieg von alleinerziehenden Müttern, die fast auschließliche weibliche Teilzeitarbeit und die für die nächste Frauengeneration durchaus nicht strukturell verbesserte Altersversorgung sind hierfür nur die gravierendsten Anzeichen. Aber auch in den männlichen Lebenskonzepten hat dieser Wandel neue soziale Risiken hervorgerufen, die sich nicht zuletzt in dem Anstieg an männlichen Sozialhilfeempfänger und wachsender Obdachlosigkeit von Männern ausdrücken.

Beide gesellschaftliche Entwicklungsstränge, die Umstrukturierungen in der Erwerbsarbeit, die zusehends die Strukturen des Normalarbeitsverhältnisses auch für Männer porös werden lassen, wie die Erosion um die traditionelle Familie und die Zuschreibungen im Geschlechterverhältnis zeigen die Notwendigkeit, das bestehende Sozialsystem in seinen Grundlagen zu verändern. Im Moment erfolgt ein Abbau des Sozialstaates nach der Logik ökonomischer Prioritätensetzung, während gleichzeitig seine erwerbsarbeitszentrierte Grundstruktur beibehalten wird. Die Konsequenzen dieser Politik sind schon vielfach aufgezeigt worden. Absehbar und schon heute spürbar ist, daß soziale Ungleichheiten sich vergrößern und die Probleme sozialer Integration anwachsen. Einige ExpertInnen sprechen von der Entstehung einer neuen sozialen underclass und einer neuen sozialen Frage (Martin Kronauer). Aller bisherigen historischen Erfahrung spricht wenig dafür, daß Frauen aus einer solchen Entwicklung als Gewinnerinnen hervorgehen.

Die Globalisierung der Ökonomie, die eine Globalisierung der sozialen Probleme nach sich ziehen wird, und die Zuspitzung regionaler Disparitäten in den Nationalsstaaten lassen einen enormen Regelungsbedarf für die sozialen Sicherungssystemen entstehen. Wenn die oben skizzierten Szenarien verhindert oder zumindestens abgemildert werden sollen, dann müssen diese neuen Regelungen an Kriterien nachhaltiger Entwicklung orientiert sein. Diese lassen sich mit Optionen von Frauen verzahnen.

3. Veränderung der sozialen Sicherungsssteme nach Kriterien nachhaltiger Entwicklung

Welche Kriterien sind aber bei der Betrachtung von Nachhaltigkeit im Kontext des Sozialstaates von Bedeutung? Im Konzept der Nachhaltigkeit sind die ökonomischen, sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen mitgedacht - und zwar aus einer Perspektive, die die Lebensgrundlagen der nachfolgenden Generation nicht zerstören will. So stehen etwa in einer durch soziale Ungleichheiten tief gespaltenen Gesellschaft für eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen nicht mehr ausreichend Ressourcen zur Verfügung, die diese zur Entfaltung ihres Entwicklungspotential benötigen. Bei einer Umgestaltung des bestehenden Sozialsystems sind aus einer solchen Betrachtungsweise drei Bedingungen von entscheidender Bedeutung:

Erstens kann bei der Frage der ökonomischen Existenzabsicherung nicht mehr von einem homogenisierten Lebens- und Arbeitsentwurf einer spezifischen sozialen Gruppierung als Basis für alle Bevölkerungsgruppen ausgegangen werden. Unterschiedliche Lebenszeitphasen und die Gefahren sozialer Risiken zu verschiedenen Zeiten werden Maßstab sein müssen. Im zukünftigen Normalarbeitsverhältnis sind die Strukturen der Lebens- und Erwerbsbiographien der Frauen verallgemeinert, so daß auch die ausschließliche Erwerbsarbeitszentrierung heutiger Systeme entfallen wird. Zweitens muß sich an den Rahmenbedingungen einer menschenwürdigen Existenz orientiert werden. Existenzsicherung in Zeiten sozialer Risiken oder der Kindererziehung etwa darf nicht überwiegend ein Training in Überlebensstrategien erzwingen, sondern auch Partizipation an gesellschaftlichen und öffentlichen Leben ermöglichen und zivilgesellschaftliche Potentiale erschließen. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist, daß der teilweise paternalistische Charaker des heutigen Systems zugunsten der Wahrnehmung von sozialen Rechten verändern muß. Und drittens wird die Relativierung des bisherigen Maßstabes Erwerbsarbeit einhergehen müssen mit einer höheren Bewertung all jener Arbeiten, die die psychischen, physischen und sozialen Lebensgrundlagen der nachfolgenden Generation, aber auch der Alten und Kranken sichern helfen.

In der aktuellen Diskussion um die zu verändernden Grundlagen des bestehenden Sozialstaates ist aus sozialer Perspektive eine zentrale Grundfrage, ob Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich gestaltete Verhältnis von Individualität und sozialer Verantwortungsübernahme für beide Geschlechter in solidarischer und demokratischer Weise lebbar machen.

Nun werden mit der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung beide Kompetenzen in den nächsten Jahrzehnten von einer großen Mehrheit der Bevölkerung abverlangt. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten wird die Fähigkeiten von Menschen, eine gleichwertige Integration von Sozialität und Individualität in die Lebenskonzepte zu erreichen, eine entscheidende Rolle spielen. So steigen in der Erwerbsarbeit die Erwartungen an Flexibilität. Die einmal erworbene berufliche Qualifikation und der eine Beruf für das ganze Leben sind Vergangenheitsmodelle. Wenn die Menschen sich nicht im hire and fire 'versklaven' lassen wollen, wird viel individuelle Entscheidungskompetenz abgefordert. Unabhängig davon wird es mehr Menschen mit diskontinuierlichen Erwerbsverläufe geben, die sowohl individuell gemeistert werden müssen, aber auch soziale Zeit für andere, nicht lohnmäßig strukturierte Arbeit eröffnen. Darüber hinaus wird sich soziale Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität nicht mehr in Beitragszahlungen und Spendenüberweisungen erschöpfen können, da ein Umbau des Sozialstaates auch dessen paternalistische Züge beseitigt und bislang sozialstaatlich geregelte Aufgaben in Eigenverantwortung oder von anderen sozialen Netzen übernommen werden müssen. Die in den heutigen Lebensstilen von Frauen neu austarierte Balance zwischen der Wahrnehmung individueller Rechte und der Übernahme von Fürsorge ist dann ein Zukunftsmodell für beide Geschlechter: aller Voraussicht nach wachsen zukünftig die Anforderungen an soziale Handlungskompetenz, während gleichzeitig wachsende Individualität subjektiv gewünscht und objektiv erwartet werden.

Frauen sind deshalb Pionierinnen, weil sie nicht nur die immer größer werdenen Anforderungen an individuelle Entscheidungen etwa im Erwerbsleben, sondern auch hohe soziale Verantwortlichkeitskompetenzen schon heute in ihren Lebensbiographien integriert haben. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten müssen jedoch egalitäre Gesichtspunkte angelegt werden: Pionierinnen sind Frauen nur, wenn ihre Lebens- und Arbeitsbiographien auch für männliche verbindlich werden. Die Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung sind im Umbau des Sozialstaates nie eingelöst, wenn die bestehenden Strukturen des Geschlechterverhältnisses unverändert bleiben, so daß die Lasten sozialer Verantwortlichkeiten für Kindererziehung, Pflege und vieler anderen sozialen Diensten weiterhin allein auf den Schulter der Frauen liegen, während sie gleichzeitig alle Risiken und Nachteile zu verbuchen haben.

4. Kommunitarismus - eine Alternative?

Die aktuelle Debatte zu dem Umbau des Sozialstaates zeichnet sich nicht nur im mainstream sondern auch im Kontext von Reformgruppierungen eher durch Mutlosigkeit und Resignation als durch visionäre Konzepte aus. Alle sehen die Probleme aber keine/r wagt sich so recht an Gestaltungskonzepte, die alternative Perspektiven eröffnen. Die Gewerkschaft, Kirchen und Wohlfahrtsverbände halten in ihrer sogenannten 'Sozialstaatscharta ' weiterhin an ihren traditionellen Identitäten fest - allen vorneweg die Gewerkschaften mit ihrer einseitigen Interessenpolitik für männliche Lohnarbeit. Die SPD fühlt sich weiter verantwortlich für das Soziale, auf den zukünftigen Wegbruch der bisherigen Strukturen der Erwerbsarbeit kann sie jedoch politisch-konzeptionell nicht reagieren. Die Grünen haben immerhin auf verschiedenen Ebenen Vorschläge für alternative Finanzierungs- und Bemessungsmaßstäbe im Sozialsystem erarbeitet. Aber auch hier fehlt der visionäre Zugriff, der Sozialstaatskonzepte mit anderen Reformansätzen in der Wirtschafts-, Bildungs- und Frauenpolitik hin zu einem gesellschaftlichen Perspektivenwechsel miteinander verzahnt. Die Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung erfordert jedoch eine komplexe Betrachtungsweise, die die immer stärkere Vernetzung von Problem- und Lösungsansätzen berücksichtigt. Gerade aus frauenpolitischer Sicht ist eine solche vernetzte Betrachtungsweise unabdingbar. So ist die Vorgabe, die bestehenden sozialen Sicherungssysteme aus ihrer ausschließlichen Erwerbsarbeitszentrierung herauszulösen dann eine zweischneidige Strategie, wenn nicht entsprechende Strukturveränderungen im Erwerbsarbeitssystem erfolgen und zivilgesellschaftliche Potentiale neu erschlossen werden. Dazu gehören vorrangig eine Umverteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen durch eine entsprechende Arbeitszeitpolitik, die von beiden Geschlechter wahrgenommen wird, aber auch demokratische Möglichkeiten, am gesellschaftlich Öffentlichen zu partizipieren.

Aufgrund der herrschenden Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern besteht nämlich bei großen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen für Frauen immer ein strukturelles Risiko, einerseits verstärkt von Ausgrenzung an Macht, Status und Einkommen betroffen zu sein, andererseits weiterhin für die soziale Bindungsflüssigkeit der Gesellschaft zu sorgen und verantwortlich zu sein. Ohne eine gesellschaftliche Thematisierung und Skandalisierung dieses sozialen Risikos der Frauen sind alle noch so gut gemeinten Reformvorschläge nur halbe Wahrheiten. In der derzeitigen Reformdiskussion zur Veränderungen des Sozialstaates gibt es einen wie auch immer dünnen Konsens, weitere soziale Ausgrenzungsprozesse durch Umverteilungsmechanismen zu verhindern. Eine Debatte, geschweige denn eine Art Reformkonsens, daß diese Umverteilungsinstrumente neue soziale Verantwortlichkeiten und Lebensperspektiven für Männer zur Folge haben müssen, ist nicht in Sicht. In den aktuellen Diskussionen um eine Grundsicherung (in welcher Form auch immer), um die Individualisierung steuerpolitischer Instrumente, der Regelung (nicht Deregulierung) flexibilisierter Arbeitszeitmodelle müssen aber die positiven und negativen Effekte analysiert werden, die diese Instrumente für die Chance haben, in die männlichen Individualitätskonzepte soziale Verantwortungsübernahme stärker zu integrieren. Eine Einmischung von Frauen in diese Diskussionen wird diese Zusammenhänge focusieren und Reformansätze im Hinblick auf deren Gestaltungspotenz für eine soziale und gerechte Umverteilung von Arbeit, Zeit, Wohlstand und Einkommen zwischen den Geschlechtern politisch bewerten.

Neben der Diskussion zum Sozialstaat wird insbesondere in sozial-libertären Zusammenhängen die aus den USA kommende Kommunitarismusdebatte geführt. Sie wird häufig dort zitiert, wo in der notwendig gewordenen Gestaltung des Weniger eine Chance gesehen wird, die defizitären Sozialbeziehungen in der Gesellschaft qualitativ neu zu gestalten und die Logik ökonomischen Egohandelns zurückzudrängen. Diese eher intellektuelle Debatte ist bislang in Deutschland weniger auf ihre politische Umsetzbarkeit diskutiert worden. Neuerdings wird dies m. Eindruck nach verstärkt bei Bündnis90/Die Grünen versucht. Die Diskussion um Kommunitarismus und Liberalismus richtet sich im Kern gegen die zunehmenden gesellschaftliche Individualisierungstendenzen, denen mit qualitativ neuen Sozialbeziehungen und Gemeinschaften entgegengesteuert werden soll. Interessanterweise wird auch diese Debatte fast ausschließlich von Männern geführt. Es ist dies wohl ein Grund dafür, daß niemand nach den Subjekten fragt, die für die Konstitutierung und Aufrechterhaltung von sozialer Bindung und Gemeinschaften im täglichen Leben schon heute verantwortlich sind bzw. zukünftig sein werden. In den USA wird der Kommunitarismus politisch von den Wertkonservativen vereinnahmt. Eine Tendenz, die nicht von ungefähr ist. Eine Dekonstruktion kommunitaristischen Gedankenguts macht deutlich, wie sich implizit auf traditionelle Strukturen des Geschlechterverhältnisses bezogen wird und Familie als zentraler Ort von sozialer Gemeinschaft im Mittelpunkt steht - Frauen mithin auch hier die primären Trägerinnen der Verantwortung für die Gemeinschaft bleiben.

Enthält aber trotzdem jenseits dieser Kritik der Kommunitarismus nicht doch Elemente einer sozialen Utopie, die frauenpolitisch von Interesse ist?

Die Schnittstelle von Kommunitarismus und feminististischen Ansätzen liegt in der Focusierung von sozialen Beziehungen und Bindungen. Im Zuge des sozialen Wandels innerhalb der Lebensformen, dem Geschlechterverhältnis sowie dem verstärkten Wegbrechen herkömmlicher Strukturen der Erwerbsarbeit ist zu erwarten, daß sich in den nächsten Jahren Fragen der sozialen Integration der Gesellschaft zuspitzen werden. Da die traditionellen Strukturen des Geschlechterverhältnisses an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen sind, ist die quasi-natürliche Konfliktlösungsstrategie, die entstehenden Versorgungslücken durch familiale Leistungen aufzufangen, begrenzter als sie es je war. Darüber hinaus klagen Frauen vermehrt Solidarität bei der gesellschaftlichen Arbeit ein, für die sie bislang immer allein die Kosten zu zahlen haben. Die Diskussion um Kinderbetreuungseinrichtungen und Renten sind hierfür nur Beispiele. In einer aufgeklärten Version des Kommunitarismus wird in der Notwendigkeit, andere Formen von sozialer Gemeinschaft jenseits traditioneller Bindungen zu stärken und zu entwickeln, große Chancen gesehen, soziale Aufgaben und Lasten umzuverteilen. Weniger Erwerbsarbeit schafft eine neue Zeitsouveränität, die gesellschaftlich sinnvoll von den einzelnen genutzt und als "soziale Zeit" in die Lebensplanung integriert werden kann. Ein solcher Ansatz trifft durchaus auf feministische Überlegungen. Allerdings ist es auch hier - wie immer im frauenpolitischen Kontext - vorrangig eine Frage der politischen Gestaltung: schafft doch die traditionelle Nähe und Zuständigkeit der Frauen für's Soziale die bekannten Risiken.

Wenn aktuell überall von Subsidiarität die Rede ist, so wird gerne verschwiegen, daß schon heute viele sozialintegrative Aufgaben ehrenamtlich erledigt werden. Hier sind Frauen traditionell bei den sozialen Arbeiten wieder Vorreiterinnen, übernehmen sie immerhin an die 90% auch der ehrenamtlichen Arbeit in diesem Bereich. Männer arbeiten hingegen ehrenamtlich in anderen als in den sozialen Bereichen. Sie leisten ihr Ehrenamt lieber in Sportvereinen und übernnehmen bevorzugt Aufgaben, die mit mehr sozialen Prestige verbunden sind, etwa im Rahmen von Vorstandstätigkeiten. Nun zeigen neue Untersuchungen, daß sich die Muster ehrenamtlichen Engagements ebenfalls in einem großen Wandlungsprozeß befinden. So wird zunehmend das Muster des selbstlosen Handelns durch Erwartungen an gegenseitige Hilfe abgelöst (z.B. Dienstleistungstauschbörsen; Qualifikationsgewinn;) und das traditionelle Dauerengagement nimmt mehr und mehr die Form eines lebensphasenabhängigen Motivs ein. Die Tatsache, daß nach diesen Untersuchungen zudem der Kreis der Bevölkerung sich verändert, der sich für ehrenamtliche Arbeit interessiert, eine Pluralisierung des sozialen Engagements stattfindet (nicht nur die finanziell abgesicherte Frau in der empty-nest Phase, sondern auch Arbeitslose, Jugendliche, Rentner, Mütter mit kleinen Kindern), deutet darauf hin, daß offensichtlich mehr Solidaritätspotentiale in der Gesellschaft liegen als gemeinhin angenommen wird (Krüger, Zeitschrift für Frauenforschung, Heft 3/93). Eine politische Gestaltung dieses Potentials muß an diesen neuen Mustern von Engagement für "soziale Zeit" ansetzen und entsprechende Anreiszsysteme für seine Entfaltung entwickeln.

Für unseren Kontext interessant ist, daß die neuen Muster ehrenamtlichen Engagements eine vergleichbare Struktur mit den veränderten Lebensstile von Frauen aufweisen: auch sie drücken eine neue Balance aus zwischen der Bereitschaft, soziale Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig individuelle Interessen gewahrt zu sehen. Wenn also die Zeiten einseitiger Versorgungsleistungen im Schwinden zu sein scheinen und Gegenseitigkeit, Komplementarität angesagt ist, dann ist es aus frauenpolitischer Sicht notwendig, diese gesellschaftliche Entwicklung auch für Umbaukonzepte des Sozialstaates nutzbar zu machen und das Potential für neue Formen des Geschlechterverhältnis zu eruieren. Für eine politische Focusierung auf Gegenseitigkeit bedarf es allerdings eines neuen gesellschaftlichen Konsens und einer Debatte über gesellschaftliche Solidarität jenseits traditioneller Gewißheiten.

Eine solche Debatte initiativ anzuzetteln - das erscheint mir eine wichtige frauenpolitische Aufgabe der nächsten Zukunft.

Vortrag auf dem frauenpolitischen Kongreß in Hamburg "Globale Gerechtigkeit? Feministische Debatte zur Krise des Sozialstaats" am 8. - 10. November 1996.Veranstaltet von: FrauenAnstiftung, Hamburg, und dem Büro für frauenpolitische Forschung & Beratung e.V., Frankfurt.

Adresse der Autorin:

Dörthe Jung
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