Die Welt der direkten Demokratie
In immer mehr Staaten wollen und können die Bürger in der Politik mitmischen

Von Bruno Kaufmann
 

Jean-Jacques Rousseaus Idee war denkbar einfach und machbar schwierig: Die Menschen sollen frei und gleich sein; aber für ihr staatliches Zusammenleben braucht es Gesetze, die Freiheiten einschränken. Wenn jeder am Erlass dieser Gesetze mitwirken kann, muss im Ergebnis jeder nur sich selber gehorchen.

In der südbrasilianischen Millionenstadt Porto Alegre sind die Bürger dieser Idee von Demokratie ein mutiges Stück nähergekommen. Seit sieben Jahren können sie in städtischen Haushaltsfragen kräftig mitmischen. ”Partizipatives Budget” heisst das Mitbestimmungsmodell von Porto Alegre: ”Die Bürger entscheiden über die Höhe der Einnahmen, der Ausgaben und den Zeitpunkt von Investitionen”, berichtet Ademar Becker, von der städtischen Finanzabteilung, und fügt hinzu: ”Die direkte Demokratie, wie wir sie hier praktizieren, hat das Selbstbewusstsein und den Wissensstand der Einwohner gestärkt, jetzt sind sie Agenten ihrer eigenen Zukunft”. Fast zwei Drittel der 1,2 Millionen Einwohner von Porto Alegre haben sich am ”partizipativen Budget” beteiligt - und über den Einsatz von mehr als einer Milliarde Mark entschieden. In der Finanzabteilung ist man zufrieden: ”Die Bürgerentscheide haben entegegen der ursprünglichen Befürchtungen in der Verwaltung zu einer effizienteren Ausgabenpolitik geführt”, betont Jose Ademar Becker: ”Die Mittel landen dort, wo sie am meisten gebraucht werden”.

In Brasilien, wo noch vor nicht allzu vielen Jahren die Militärs das alleinige Sagen hatte, hat Porto Alegre Schule gemacht: im fünftgrössten Staat der Welt haben bereits 70 weitere Städte den ”partizipativen Budgetprozess” übernommen. Das UN-Stadtentwicklungsprogramm ”Habitat”  hat die direktdemokratische Gemeindeordnung Porto Alegres unlängst mit der Höchstnote ”Beste Praxis” ausgezeichnet. Ausgelernt ist damit in der schmucken Hafenstadt am Südatlantik aber noch nicht: für Mitte November haben die Behörden von Porto Alegre Vertreter von städtischen Exekutiven und Fachleute der direkten Demokratie aus der ganzen Welt zu einer grossen Konferenz eingeladen. ”Nur wenn wir auch voneinander lernen,kann die Mitbestimmung der Bürger auf der kommunalen Ebene aufrechterhalten und gestärkt werden”, betont Ademar Jose Becker.

An spannenden Erfahrungen lokaler Demokratieentwicklung fehlt es nicht. Porto Alegre ist schon längst kein Einzelfall mehr. In der ”Habitat”-Datenbank im Internet werden 122 Gemeinden vorgestellt, in welchen die Mitsprache der Bürger in den vergangenen Jahren erfolgreich gestärkt werden konnte. Damit wird nun auch von der Weltorganisation anerkannt, dass die direkte Demokratie einen politischen Wert an sich darstellt. In Europa rief die wichtigste Organisation für Menschenrechte und Demokratie, der Europarat, schon 1995 sämtliche Mitgliedsstaaten dazu auf, direktdemokratische Instrumente auf der kommunalen Ebene zuzulassen.

Die Zahl der kommunalen Volksentscheide in der Welt ist in den vergangenen Jahren massiv angewachsen: in den US-Gemeinden sind für 1998 fast 10’000 Volksentscheide registriert worden; im Freistaat Bayern ist es nach der Einführung des kommunalen Bürgerentscheides vor vier Jahren zu über 400 lokalen Abstimmungen gekommen. Porto Alegre, Portland oder München: überall möchten die Bürgerinnen und Bürger bei der Ausgestaltung von Verkehrsprojekten, bei Flächenutzungsplänen und in Fragen der Abfallsentsorgung mitreden. Die wachsende Praxis zeigt: weder fehlt es an konkreten Themen, noch an engagierten Bürgern. Vielmehr ist ”die Kommunalpolitik lebendiger geworden”, wie der Münchner SPD-Abgeordnete im Bayrischen Landtag Klaus Hahnzog im kürzlich erschienenen Sammelband ”Mehr direkte Demokratie wagen” (Olzog-Verlag) bilanziert.

Mobiltelefon und Internet

”Einer der wichtigsten neuen Trends”, so schreibt die Weltbank in ihrem ”Weltentwicklungsbericht 1999/2000”, ist die Stärkung der lokalen und regionalen politischen Ebene durch Bürgerbewegungen für mehr Demokratie. ”In Anbetracht populärer Forderungen nach grösserer Selbstbestimmung treten nationale Regierungen von Afrika bis Lateinamerika und von Europa bis Südostasien mehr und mehr Rechte an die lokale und regionale Ebene ab”, heisst es in der Weltbank-Studie. Laptop und PC, Mobiltelefon und Internet stärken das Bewusstsein der Bürger und erleichtern die Dezentralisierung.

”Der Siegeszug der direkten Demokratie” (Hans-Jochen Vogel) beschränkt sich freilich nicht auf diese, dem Bürger näherstehenden politischen Ebenen. ”Auch auf der staatlichen Ebene haben wir einen globalen Trend zur direkten Demokratie festgestellt ”, sagt Professor Andreas Auer. Als Direktor des Genfer ”Forschungs- und Dokumentationszentrums Direkte Demokratie” muss es Auer wissen: mit der Unterstützung von elf Mitarbeitern hat er die Daten von fast 1000 Volksentscheiden in über 200 Staaten und Teilstaaten seit 1791 zusammengetragen und analysiert.

”In den Jahren 1989 bis 1998 hat sich Zahl der nationalen Volksabstimmungen gegenüber dem vorhergehenden Jahrzehnt mehr als verdoppelt”, betont Andreas Auer. ”Der schnellste Wachstum hat im ehemaligen Ostblock, in Westeuropa, Lateinamerika und Afrika stattgefunden”. Der grosse Umbruch in Osteuropa hat zu nicht weniger als 27 neuen staatlichen Verfassungen geführt. Die meisten von ihnen sind direkt durch das Volk verabschiedet worden. Nur gerade in den Grundgesetzen von Jugoslawien und Bosnien sind keine Mitwirkungsrechte der Bürger vorgesehen. Im Osten haben sich die Litauerinnen und Litauer dieser - zu Sowjetzeiten noch völlig undenkbaren - Möglichkeiten zur Mitbestimmung am meisten bedient: sie haben auf nationaler Ebene in den Jahren 1991 bis 1996 zu 17 Sachthemen Stellung bezogen - dazu gehörte die Zustimmung zur Eigenstaatlichkeit, zum Abzug der russischen Truppen und zu einer neuen Verfassung.

In Westeuropa löste die beschleunigte Integrationspolitik der Europäischen Union eine direktdemokratische Welle mit transnationaler Wirkung aus. So führte das knappe ”Nei” der Dänen zum Maastrichter Unionvertrages vom 2. Juni 1992 zu einer grossen öffentlichen Debatte in ganz Europa über das Integrationsprojekt. Eine Debatte, so macht die Entwicklung deutlich, welche der EU weitergeholfen hat. In Westeuropa gibt es dazu Staaten, in denen die direkte Demokratie als Ergänzung zum Parlament eine starke Stellung hat: die Schweiz, Liechtenstein, Italien, Irland und Portugal.

Saddam lässt zustimmen

In Afrika haben in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Staaten erste Erfahrungen mit der direkten Demokratie gemacht. Zuletzt nun auch das kriegsgeplagte Algerien, wo am 16. September bei einem überraschend friedlichen Urnengang 99 Prozent der Stimmenden dem Friedensplan von Präsident Abdelaziz Bouteflika zustimmten. In Lateinamerika sind nationale Volksentscheide bis auf wenige Ausnahmen in nur zwei Staaten bekannt: Ecuador und Uruguay. Die Genfer Dokumentalisten haben schliesslich auch noch nationale Abstimmungen in Australien, Neuseeland, Mikronesien, den Philipinen und im Irak registriert.

Gerade der Fall Irak macht jedoch deutlich, dass ein Volksentscheid als solcher noch nichts über die Qualität der jeweiligen Erfahrung mit der direkten Demokratie besagt:  Am 15. Oktober 1995 liess der irakische Diktator Saddam Hussein sein Volk darüber abstimmen, ob es ihn auch weiterhin als Staatspräsidenten haben möchte. Bei einer Stimmbeteiligung von 99,47% sprachen sich 99,99% für Saddam Hussein aus. Um einen Volksentscheid handelt es sich dabei freilich nicht: vielmehr gibt es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele von sogenannten ”Plebisziten”, mit welchen autokratische Präsidenten wie Saddam Hussein versucht haben, ihrem Regime einen Anschein demokratischer Berechtigung zu verleihen.

Mit einem Mausklick lässt sich das vom Genfer Dokumentationszentrum gesammelte Wissen über die Praxis der direkten Demokratie im Internet einsehen. Der globale Quervergleich macht deutlich: der Erfolg der direkten Demokratie hängt vom politischen Umfeld, der Einrichtung der Volksrechte und deren Ausgestaltung ab. In Osttimor war das politische (indonesische) Umfeld für den eindeutigen Volksentscheid vom 30. August - 78,5 % stimmten für die Unabhängigkeit - ganz offensichtlich nicht günstig. Die Folge: ein schlimmes Blutbad und schliesslich die Intervention einer UN-Friedenstruppe. Der weltweite Trend zeigt aber beim politischen Umfeld in die richtige Richtung:  so zählte die New Yorker Menschenrechtsorganisation ”Freedom House” im Jahre 1972 gerade einmal 43 Staaten weltweit, in denen für eine lebendige Demokratie entscheidende Voraussetzungen wie die Meinungsfreiheit, das allgemeine Wahlrecht und ein Mehrparteiensystem respektiert wurden. Bis zum Beginn dieses Jahres hatte sich diese Zahl fast verdreifacht und beträgt nun 118 Staaten. 40 Länder - z.B. Weissrussland und Mexico - werden vom US-Institut als ”Scheindemokratien” bezeichnet, weitere 34 Staaten - z.B. Serbien und Nordkorea - haben ”autoritäre Regimes”, welche die grundlegenden Menschenrechte missachten.

Bei der Einrichtung von direktdemokratischen Instrumenten geht es um die Frage, ob ein Volksentscheid für die herrschende Regierungs- und Parlamentsmehrheit verbindlich ist. Falls er dies nämlich nicht ist, kann es passieren, dass zwar eine klare Mehrheit der Stimmenden einer Vorlage zustimmt, die Regierenden dann aber genau das Gegenteil davon tun. So geschehen in Schweden im Jahre 1980: eine komfortable Dreiviertelsmehrheit der Schweden sprach sich damals für den Ausstieg aus der Atomenergie aus. Doch weil der Volksentscheid nur konsultativen Charakter hatte, konnte es sich die sozialdemokratische Regierung unter Olof Palme leisten, stattdessen neue Reaktoren ans Netz zu hängen. Die Ironie der Geschichte: die schwedischen Sozialdemokraten benutzen den ”Betrug am Volk” von 1980 heute als Argument gegen die Einführung direktdemokratischer Elemente in Schweden. In Gesellschaften wie der schweizerischen und der amerikanischen, wo die Volksgesetzgebung seit über einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielt, ist jedoch die Verbindlichkeit von Volksentscheiden die Regel.

25 Millionen verlorene Stimmen

Beim Stichwort ”Ausgestaltung” geht es schliesslich um die - gerade in Deutschland - heissdiskutierte Frage, ob die Gültigkeit von Volksentscheide von Zustimmungs- und/oder Beteiligungsquoren abhängig gemacht werden sollen. Die Praxis mit Quoren mahnt zur Vorsicht: so wanderten zum Beispiel dieses Frühjahr 25 Millionen Stimmen in Italien in den Papierkorb, obwohl sich 91 Prozent der Stimmen für ein neues Mehrheitswahlrecht ausgesprochen hatten. Der Grund: mit einer Stimmbeteiligung von 49,6 Prozent war das geltende Beteiligungsquorum von 50 Prozent haarscharf verpasst worden. Siegerin des gescheiterten Urnenganges war schliesslich die süditalienische Mafia, welche zu einem Boykott der Abstimmung aufgerufen hatte.

Irak, Osttimor, Schweden und Italien. So verschieden diese Länder aus einer demokratischen Perspektive auch sind, zeigen sie doch, was alles schief gehen kann, wenn es nicht richtig gemacht wird. Vor allem dies: dass die Bürger durch  einen ”Volksentscheid” sich noch mehr von der Politik entfremden. Umgekehrt beweist die direktdemokratische Praxis in immer zahlreicheren Städten, Regionen und Staaten, dass es tatsächlich Wege zu einer wirkungsvollen Ergänzung der Parteien und Parlamente gibt.

Zu einem spannenden Austausch von negativen und positiven Erfahrungen mit der direkten Demokratie lud diesen Sommer das in Washington beheimatete ”Initiativ- und Referendumsinstitut” ein. Über 200 Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der US-Abstimmungsindustrie folgten der Einladung zum ersten Treffen dieser Art auf der nationalen amerikanischen Ebene. ”Ich bin hier, weil ich vor kurzem entdeckt habe, welche gesellschaftlichen Energien die direkte Demokratie in diesem Land freisetzen kann”, erklärte der Kolumnist David S. Broder. Diese kleine  Bermerkung des grossen Journalisten von der Washington Post zeigt, dass die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur die Reform- und Innovationspotentiale der direkten Demokratie unterschätzt haben.

Das war nicht immer so: am Ende des 19. Jahrhunderts kämpften starke Bürgerbewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks für eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie. In der Schweiz gelang der ”Demokratischen Bewegung” von Bauern, Handwerkern und Arbeitern der Durchbruch zuerst in den Kantonen - die Verfassung des Kantons Zürich wurde 1869 als erste reformiert - und dann 1891 durch die Einführung der Volksinitiative auch auf der nationalen Ebene. In den USA gehörte die Volksgesetzgebung ab 1890 zu den Hauptforderungen der ”Progressive Movement” und der Gewerkschaften. Als erster Bundesstaat führte South Dakota 1898 Inititiative und Referendum ein. Es folgten bis heute 23 weitere Staaten. Vereinzelte Anläufe die direkte Demokratie auch auf der nationalen Ebene einzuführen scheiterten aber bis heute an der fehlenden Unterstützung im Senat und dem Kongress.

Globale Politik vor 100 Jahren

Der Blick über die eigenen staatlichen Grenzen hinaus war schon für die Reformer von damals von grosser Bedeutung: Der in Marburg lehrende Politologe Andreas Gross hat kürzlich in einem Artikel in der ”Neuen Zürcher Zeitung” gezeigt, wie intensiv sich die demokratische Bewegung in den USA mit den schweizerischen Erfahrungen auseinandersetzte. Auch bei den Motiven gibt es einen räumlichen und zeitlichen Bogen. ”Die Menschen spüren, dass die Politik immer abgehobener funktioniert, und sie wollen mehr direkten Einfluss, sowohl was die Ausarbeitung der Gesetze betrifft als auch deren Durchsetzung”, schrieb der Oregoner Journalist J.N. Teal kurz nach der Jahrhundertwende. Die erfolgreiche Einführung der Volksgesetzgebung in den US-Bundesstaaten und der Schweiz wurde damals selbst auf der anderen Seite der Welt mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt: in der 1901 angenommenen australische Bundesverfassung werden schweizerische und amerikanische Elemente der direkten Demokratie berücksichtigt. Australien ist nach der Schweiz das Land mit den meisten nationalen Volksentscheiden.

Geschichte und Gegenwart zeigen: in föderalistischen Staaten haben es direktdemokratische Reformen einfacher. Föderalistische Gesellschaften kennen eine feinere Gewaltenteilung und sind sich Initiativen ”von unten” gewohnter, als  zentralistische. Deshalb überrascht es auch nicht, dass es die aktivisten Bewegungen für (mehr) direkte Demokratie heute in den USA, der Schweiz, Australien, Deutschland, Kanada, Italien und Belgien gibt. Im Cyperspace befürworten zudem viele Einzelkämpfer die Verwirklichung von Rousseaus gesetzgeberischen Idealen in Form von Teledemokratie. Doch so einfach, wie sich das die Interneteuphoriker vorstellen, geht es nicht. ”Bevor über das Internet abgestimmt werden kann, muss das Vertrauen der Öffentlichkeit in die neue Technologie aufgebaut werden”, sagt Professor Ueli Maurer, der am Departement Informatik der ETH Zürich an einem elektronischen Abstimmungsverfahren tüfelt. Mit ersten richtigen Abstimmungen übers Netz der Netze rechnet Maurer ”frühestens in zehn Jahren”.Von grösserer Bedeutung als für den eigentlichen Abstimmungsakt ist das Internet aber schon heute als Kanal zum Austausch von Ideen, Argumenten und Informationen. Die digitale Revolution stärkt die Stärke der (direkten) Demokratie: das gemeinsame Lernen und Handeln.

Letzlich aber lebt die Demokratie seit über 2500 Jahren wegen ihren Schwächen: sie garantiert keiner bestimmten Seite bestimmte Resultate. Die Demokratie ist kein System mit festen Planvorgaben, sondern ein ständiges Wagnis mit offenem Ausgang. Das passte vielen Mächtigen des blutigen und systemfixierten 20. Jahrhunderts nicht ins Konzept: die Weltkriege setzten den Reformbestrebungen ein Ende; im Kalten Krieg blieb die Demokratie östlich des Eisernen Vorhanges im Gefrierschrank, westlich davon im Kühlfach - zur Jahrtausendwende steht sie jetzt aber plötzlich in der wärmenden Sonne und will ernst genommen werden.