„Von harten Mädchen und zarten Jungs“  -
Über Geschlechterverhältnisse und Erziehung am Beginn des 21. Jahrhunderts

Von Margitta Kunert-Zier

Wer angesichts des Titel erwartet hat, neue Geschlechterklischees präsentiert zu bekommen, muss enttäuscht werden. Dies ist nicht beabsichtigt. Aber: Was löst der Titel bei uns aus? Welche Bilder von "harten Mädchen" und "zarten Jungs" entstehen spontan? Welche Gefühle werden geweckt? Wohlwollen? Zufriedenheit? Abwehr? Widerspruch? Wollen wir Mädchen so und Jungen so? Wird da etwas auf den Kopf gestellt oder richtiggerückt? Stimmt da etwas nicht, oder ist es ganz in Ordnung so?

Diese Irritationen finden sich heute bei vielen Erwachsenen wieder, die Mädchen und Jungen erziehen, bei den Eltern ebenso wie den professionell Erziehenden in Kindertagesstätten, in Freizeiteinrichtungen und in den Schulen.

Seit nunmehr 30 Jahren sind die Geschlechterbilder ins Wanken geraten. Ausgelöst durch die Studentenbewegung formierte sich die zweite Frauenbewegung, die Fragen der Emanzipation auch in Bereiche der Erziehung trug. Mädchen und Frauen wurden in der feministischen Pädagogik, aber auch in den Anfängen der  Frauenforschung lange Zeit vor allem als Opfer patriarchalischer Verhältnisse wahrgenommen. Im Vordergrund der Mädchenarbeit stand also, dass Mädchen ermutigt werden sollten, sich zu wehren und Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten.

Erste Ansätze feministischer Mädchenarbeit wurden in der außerschulischen Bildungsarbeit erprobt. Das Wannseeheim für Jugendarbeit Berlin (Naundorf, Wetzel o. J., vermutlich 1976)  dokumentierte erstmalig die Erfahrungen mit geschlechtsbezogener Jugendbildungsarbeit. Mädchen und Jungen wurden bei einwöchigen Bildungsseminaren ihrer Schulklassen getrennt und präsentierten sich am Ende der Woche gegenseitig ihre Ergebnisse. Mädchen wurden von Pädagoginnen, Jungen von Pädagogen betreut. Die Vorstellungen über das, was in den Mädchengruppen geschehen sollte, war stark an Inhalten und Zielen der Frauenbewegung orientiert, für die männliche Seite gab es nur vage Ideen. Jungengruppen sollten zunächst einmal eine störungsfreie Mädchengruppenarbeit gewährleisten.

 
Die Anfänge der Mädchenarbeit waren noch stark von einem Defizitblick auf Mädchen begleitet, Mädchen sollten alles lernen, was Jungen können. Dieser an männlichen Wertmaßstäben orientierte Blick wich schon bald der Prämisse „an den Stärken der Mädchen ansetzen.“ ( )
Der Perspektivenwechsel auf die Aufwertung des weiblichen Lebenszusammenhangs wurde vollzogen. ( ) Das Sichtbarmachen und Neubewerten weiblicher Lebensweisen wurde zum erklärten Ziel von Mädchenarbeit. Das Anerkennen von Differenzen der Geschlechter rückte dabei stärker in den Vordergrund. Differenz sollte dabei allerdings nicht hierarchisch, sondern demokratisch gedacht werden. Die Verwirklichung der Gleichheit der Geschlechter in Anerkennung ihrer Differenzen wurde als politisches Ziel formuliert (Prengel 1995).
Parallel zur Ausdifferenzierung der Praxiskonzepte entfaltete sich auch innerhalb der feministischen Theorie eine kritische Auseinandersetzung über den Umgang mit der Kategorie „Geschlecht“. Während sich die geschlechtsbezogene Praxis aus ihrer Tradition heraus an der Theorie der Zweigeschlechtlichkeit als soziale Konstruktion orientiert und sich das Stärken von Mädchen und Jungen in ihrer Geschlechtsidentität jenseits der Geschlechterklischees zum Ziel macht, entwerfen VertreterInnen einer vom Konstruktivismus beeinflussten Richtung die Vorstellung von der Aufhebung der Zweigeschlechtlichkeit und fordern eine Dekonstruktion der sozialen Kategorien Frau, Mann und Geschlecht (Bilden 1991, Wetterer 1992). Den Vertreterinnen der Theorie der Zweigeschlechtlichkeit wird nun der Vorwurf gemacht,  „zur Naturalisierung von Herrschaftszusammenhängen“ beizutragen (Gildemeister/ Wetterer 1992). Diese Debatte wird aber mit einer gewissen Realitätsferne vor allem an den Hochschulen geführt und berührt die pädagogische Praxis bislang kaum.

Unstrittig ist, dass die Individuen nicht umhin kommen, sich mit ihrer Geschlechtlichkeit auseinander zu setzen und in der aktiven Auseinandersetzung mit  ihrer Umwelt eine eigene Geschlechtsidentität herausbilden, auch wenn diese sich jenseits gängiger Klischees darstellen kann. In Zeiten zunehmender Verunsicherung über die Geschlechter wird es dabei immer auch um Grenzgänge zwischen den bekannten Geschlechterwelten gehen, die für die Pädagogik von besonderem Interesse sind.

 
Professionell Erziehende nehmen in diesem Kontext eine bedeutende Rolle ein: Sie können Mädchen und Jungen in ihrer individuellen Selbstdefinition des Weiblichen oder Männlichen bestärken oder im Sinne einer „Initiation der Geschlechter in entgegengesetzte Welten„ (Neutzling 1995) erziehen, wenn unreflektiert traditionelle Geschlechterbilder übernommen oder neue Feindbilder geschaffen werden. Die Erziehenden konstruieren Geschlechterverhältnisse, ob sie wollen oder nicht. ( )
 
Das breite Spektrum von Zugängen  und Perspektiven auf die Geschlechter in der Erziehung spiegelt sich sowohl in Theorie und Praxis wieder. So ist es nicht unproblematisch, von der Mädchenarbeit oder der Jungenarbeit zu sprechen, was ich aber dennoch im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit tun werde.
Von harten und anderen Mädchen – Mädchenarbeit

Die Mädchenarbeit verfolgte vor allem das Ziel, Mädchen in ihrer Identität so zu stärken, dass sie sich auch verteidigen lernen. ( ) In Selbstverteidigungskursen sollen sie lernen sich gegen körperliche Übergriffe und sexualisierte Gewalt zu wehren.( ) Aber die psychischen Barrieren, die es Mädchen oftmals so schwer machen, sich bereits in ganz alltäglichen Situationen gegen Fremdbestimmung und Diskriminierung zu behaupten, können durch diese Kurse nur teilweise überwunden werden. So zählt das Stärken der Mädchen in ihren Autonomiebestrebungen inzwischen zum zentralen Anliegen von Mädchenarbeit.

Mädchenarbeit heute umfasst eine Vielfalt von autonomen Mädchentreffs, Projekten gegen Gewalt, Zufluchtsstätten, über Mädchenkulturzentren, Projekten zur beruflichen Orientierung, bis hin zu Mädchengruppen in Kindertageseinrichtungen, Jugendzentren sowie in Schulen. Mädchenarbeit ist seit ihren Anfängen immer mehr zur interkulturellen Arbeit geworden, was eine zunehmende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und auch mit Rassismus bedeutet. Fragen gesellschaftlicher Partizipation spielen in Projekten zur Mädchengerechten Jugendhilfeplanung eine Rolle sowie in Projekten zur Aneignung des öffentlichen Raums durch Mädchen.

In den neunziger Jahren bildeten sich Ansätze von Mädchenpolitik heraus, die sich mit der strukturellen Verankerung von Mädchenarbeit in kommunalen Leitlinien (z. B. Frankfurt 1995), in der Jugendhilfeplanung und in Landesbestimmungen zur Gleichberechtigung in Schulen, befassten. Das gesellschaftliche Sichtbarmachen von Mädchen steht dabei im Vordergrund.

 Ein Ergebnis feministischen Pädagogik und der Frauenforschung ist es, dass Kindheit und Jugend auch geschlechterdifferent betrachtet werden. Trotzdem hat sich dies alltagssprachlich und im Fachjargon keineswegs durchgesetzt.

Immer noch scheint es sich um geschlechtsneutrale Zielgruppen zu handeln, wenn von Kindheit und Jugend die Rede ist. Besonders wenn es um Jugendgewalt oder Jugendkriminalität geht, sind meist die Jungen gemeint. Diese überwiegend männlichen Phänomene werden nicht als solche bezeichnet und analysiert. Die Chance auf offenkundig geschlechtsbedingte Erscheinungen auch gezielt reagieren zu können, bleibt ungenutzt. Hier will eine geschlechtsbezogene Jungenarbeit ansetzen.
 

Von zarten und anderen Jungs – Jungenarbeit

Geschlechtsbezogene Jungenarbeit wurde durch die Pädagoginnen in der Mädchenarbeit angestoßen. ( ) Pädagogen wurden mit der Betreuung von Jungen konfrontiert, häufig ohne Vorstellungen über Inhalte und Methoden. Es gab eben keine der Frauenbewegung vergleichbare "Männerbewegung" auf die zurückgegriffen werden konnte. So glich der Start in die Jungenarbeit häufig einem „Sprung ins kalte Wasser“(Frankfurter Jungenarbeitsstudie 1992).

Eine Vielzahl von Jungenarbeitsansätzen wurden seither kreiert. Die wesentlichen sind neben der antisexistischen die emanzipatorische, die bewusste und die geschlechtsreflektierende Jungenarbeit. Im Gegensatz zur Mädchenarbeit gab es von Anbeginn intensive Abgrenzungsversuche der Akteure untereinander. Die antisexistische Jungenarbeit verfolgt vor allem das Ziel, Jungen ihr abwertendes Verhalten gegenüber Mädchen als frauenfeindlich und patriarchalisch zu verdeutlichen, wobei Jungen vor allem als Nutznießer des Patriarchats gesehen werden. Sie sollen Macht abgeben lernen und sich gegenüber Mädchen zurücknehmen.

Die übrigen Ansätze betrachten demgegenüber Jungen auch als Opfer der männlichen Sozialisation und gehen davon aus, dass Jungen vor allem ihre emotionalen Seiten entwickeln, Sozialverhalten intensivieren sollten, aber auch in ihrer Jungenidentität gestützt werden müssen, ohne sich zwanghaft gegenüber Mädchen und schwächeren Jungen abwertend zu verhalten. KritikerInnen nennen diese Ansätze auch maskulinistisch und werfen ihnen vor, die Gewinnseiten der männlichen Identität nicht genügend zu berücksichtigen (Prengel, Ottemeier-Glücks 1993).

Als schwierig wird insgesamt in der Jungenarbeit beschrieben, dass die Erweiterung ihrer Kompetenzen den Jungen als Gewinn dargelegt werden muss, obwohl sie gleichzeitig immer wieder erfahren, dass gesellschaftlich gerade soziale und emotionale Kompetenzen nur gering geschätzt werden.

Erst in den neunziger Jahren begannen Pädagogen eigenständig Jungenarbeit zu initiieren. Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Jungenarbeit war zunächst die Arbeit der Pädagogen an ihrem eigenen Männerbild. Selbstreflexion und Austausch über das eigene Junge-Sein werden dabei für notwendig erachtet.

Quer durch alle Ansätze der Jungenarbeit gehen die Themen, wie der Umgang mit Aggressionen, Gewalt,  Angst und Schwächegefühlen. Jungen lernen aber auch, füreinander zu sorgen, gemeinsam zu kochen, sich zuzuhören, Gefühle zu äußern, eigene Grenzen zu erkennen und überzogene Rollenbilder zu durchbrechen.

Jungenarbeit findet heute in der Jugendbildungsarbeit, in Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, an Schulen, in Pfadfindergruppen und in Sportverbänden statt.
Geschlechterpädagogik, Geschlechterverhältnisse und Professionalität

Mädchen- und Jungenarbeit sind also pädagogische Ansätze geworden, die nach neuen Wegen in der Geschlechtererziehung suchen, Mädchen und Jungen befähigen wollen, einengende Geschlechtsrollenklischees in Frage zu stellen und ihr Spektrum zu erweitern.

Auch wenn beide Ansätze eine gemeinsame Geschichte haben und beide Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen der Auflösung traditioneller Geschlechtsrollen, also letztlich Ergebnisse von Modernisierungsprozessen sind, ist festzustellen, dass in der pädagogischen Diskussion diese Ansätze keineswegs zum Standard geworden sind.

Sie existieren nebeneinander, ein gemeinsamer wissenschaftlicher Diskurs oder fachlicher Austausch zwischen Vertreterinnen beider Ansätze findet kaum statt. Im Gegenteil. Nur selten arbeiten männliche und weibliche Geschlechterpädagogen zusammen. Skepsis und kritische Distanz bestimmen eher das Verhältnis zwischen Mädchen- und Jungenarbeit.
Es wird in der pädagogischen Diskussion nicht nach einem Sinnzusammenhang zwischen den Ansätzen von Mädchen- und Jungenarbeit gefragt. Im Zweifel wird die Auseinandersetzung über beide Bereiche politisch geführt, wenn es beispielsweise um die Frage antisexistischer oder maskulinistischer Arbeit geht.
Eine pädagogische Diskussion müsste von einer gemeinsam definierten Aufgabe der Pädagogik in der Geschlechtererziehung ausgehen. Auch wenn sich historisch die Mädchenarbeit an die Frauenbewegung anlehnt, die ja eine politische Bewegung ist, ist es m. E. notwendig, für die Pädagogik einen professionellen Zugang zur Geschlechterfrage zu entwickeln. Das Vermischen politischer Anliegen, wie die Abschaffung patriarchalischer Machtverhältnisse, mit einem sozialpädagogischen Ansatz scheint mir dabei äußerst problematisch.

Weil auch die PädagogInnen persönlich, im Privaten, ExpertInnen ihrer eigenen Geschlechterbeziehungen sind, besteht außerdem die Gefahr, dies ungefiltert in die pädagogischen Interaktionen zu übernehmen. Eine tendenzielle Vermischung der persönlichen Geschlechtererfahrungen mit dem Professionellen scheint die Transformation dieses Wissens in pädagogisch-professio-nelles Handeln zu erschweren.

Bei genauer Betrachtung entsteht der Eindruck, dass das Verhältnis zwischen Mädchen -und Jungenarbeit sowie der Status geschlechtsbezogener Ansätze im pädagogischen Diskurs mehr von einem latenten Geschlechterkampf als von einer professionell geführten Diskussion geprägt sind.
Geschlechterpädagogik thematisiert Fragen der Benachteiligung und gesellschaftlichen Ungleichheit und ist dem gesellschaftlichen Wandel verpflichtet. Sofern dies aber in einem unkollegialen Geschlechterkampf ausgetragen wird, läuft sie Gefahr, sich ins Gegenteil zu verkehren.
Der Kunstgriff müsse gerade darin bestehen, zunächst Formen von Geschlechterdemokratie auch unter den Teams zu entwickeln, die für die Kinder und Jugendli-chen Vorbildcharakter haben können. Offenheit und Toleranz und eine Bereitschaft zur kritisch-solidarischen Reflexion des eigenen und des fremden Verhaltens, zunächst einmal zwischen den pädagogischen Fachkräften, sind dafür unverzichtbare Voraussetzungen.

Neben dem hier beschriebenen Mainstream von Geschlechterpädagogik hat es seit den achtziger Jahren Versuche der Verbindung von Mädchen- und Jungenarbeit gegeben, die auf Möglichkeiten einer produktiven Weiterentwicklung verweisen.
 

Grenzgänge zwischen den Geschlechterwelten

Eine Auswahl an Projekten soll vorgestellt werden, die versuchen, neue Wege in der Geschlechterpädagogik  zu beschreiten und dies auch erfolgreich umsetzen konnten.
 

1. Mädchen und Jungen im Kindergarten (Köln 1983-1986)

In diesem Projekt wurde ein Modell des genauen Hinschauens auf die Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen einerseits, den ErzieherInnen und den Mädchen wie Jungen andererseits sowie Wegen eines neuen Umgangs mit beiden Geschlechtern entwickelt (Verlinden 1995).

Ausgehend von der Frage, welches Vorbild die Erziehenden für partnerschaftliches und gleichberechtigtes Verhalten darstellen, wurden Beobachtungen aufgezeichnet und auch unter Einbeziehung von Eltern analysiert. Momente und Situationen, in denen Mädchen und Jungen gern und kooperativ zusammen spielten und ihre Konflikte lösten, standen im Mittelpunkt.

Ein Ergebnis war, dass die Geschlechter eher trennenden und traditionelles Geschlechterverhalten fördernden Spielarrangements umstrukturiert wurden. So verwandelte sich die Puppenecke in einen attraktiven Wohnbereich, der Jungen und Mädchen zu neuen Spielformen animierte. Die Bauecke wich gezielt angebotenen Bauprojekten mit ungewöhnlichen und  „belebten“ Materialien wie Tier- und Menschenfiguren, an denen sich Mädchen gleichermaßen wie Jungen beteiligten.

Das Spiel- und Sozialverhalten zwischen Mädchen und Jungen entwickelte sich deutlich hin zu einem egalitären Umgang. Die Sensibilisierung für geschlechtsbedingte Vorurteile und Verhaltensweisen schlug sich bei den Erzieherinnen nachhaltig nieder.
 

2. Neuplanung  und Gestaltung eines Spielgeländes durch Mädchen und Jungen  unter der Leitung eines Mädchenprojekts (Gießen 1995)

Zur Neuplanung eines Spielgeländes in einem sozialen Brennpunkt in Gießen wurde das Mädchenprojekt des bsj Marburg hinzugezogen, das bereits über Erfahrungen bei einer Spielplatzgestaltung verfügte.

Im Zeitraum von zwei Wochen sollten Mädchen und Jungen in einer Vielzahl von Teilprojekten mit ihren So-zialarbeiterinnen und Sozialarbeitern Spiel- und Bewegungsgeräte auf einem Wiesen-gelände in Gießen herstellen sollten. Zentral war dabei, zu vermeiden, dass das Unternehmen nicht unter der Hand wieder zu einem "Jungenprojekt " werden würde. Aufgrund der üblichen Zuordnung von handwerklichen Arbeiten zum männlichen Geschlecht konnte befürchtet werden, dass Mädchen nur schwer zum Zuge kommen würden.

Das selber Hand anlegen sollte der größeren Identifikation dienen, öffentliche sicht-bare Spuren der Mädchen und Jungen hinterlassen und war mit der Hoffnung ver-bunden, dass umsichtiger mit den Geräten umgegangen werden würde.

Klar war, dass das Mädchenprojekt federführend sein sollte. Das bedeutete eine deutliche Dominanz weiblicher Fachkräfte, d. h. es gab drei ausgebildete Schreine-rinnen sowie weitere Mitarbeiterinnen, die erfahren waren im Umgang mit Werkzeug und Baumaterialien. Erstmalig wurde in einem Mädchenprojekt koedukativ gearbeitet, was die Chance beinhaltete zu überprüfen, wie mädchenparteiliche Grundsätze auch in koedukativen Kontexten umsetzbar sein könnten.

Das Projektziel, Mädchen in die Bauprozesse gleichberechtigt zu integrieren, wurde erreicht. „Sie engagierten sich in glei-cher Weise wie die Jungen und schickten Jungen, wenn sie denn manchmal auch aufdringlich wurden, weg " (bsj marburg 1995).  Das Ausgangsverhalten der Jungen zum Bauen war anders als das der Mädchen: "Sie gingen eher mit einiger Selbstüberschätzung an das als männlich definierte Feld heran, was sich aber bald relativierte. Auch den gleichaltrigen Mädchen gegenüber entwickelten sie Akzeptanz, was sich aus deren deutlichen Kompetenzen, aber auch aus der Vorbild-Funktion der weiblichen Fachkräfte heraus, ergab.“ Die Jungen, so die Pädagoginnen, fügten sich relativ reibungslos in die ungewohnte Ge-schlechterhierarchie auf dem Bauplatz ein. Diskriminierungen und Angriffe gegen-über Mädchen blieben weitestgehend aus. In diesem Setting war es ihnen möglich, nicht nur den Mädchen ihren Raum zu lassen, sondern auch deren Produkte an zu-erkennen.

Ein halbes Jahr später resümieren die Autorinnen, dass ein attraktives Spielgelände entstanden war und geblieben, bislang von Van-dalismus keine Spur und gleichermaßen eine starke Identifikation der Mädchen und Jungen mit ihrem Platz zu verzeichnen ist. Gleichzeitig hat eine Aufwertung der Siedlung stattgefunden. „Die Motivation der Mädchen und Jungen an der weiteren Gestaltung und dem Bau weiterer Objekte ist geblieben.“
 

3. Jungen im Mädchentreff (Berlin 1997)

Ein weiteres Mädchenprojekt, der Mädchentreff MaDonna in Berlin-Neukölln experimentiert- seit 1997 ebenfalls mit der Koedukation, d. h. an zwei von sechs Öffnungstagen dürfen auf Wunsch der Mädchen Jungen den Mädchentreff besuchen. Mädchen machten Ende 1996 dies zur Bedingung ihrer weiteren Anwesenheit im Mädchentreff.

Auch hier wird konstatiert, dass "nach 20 Jahren feministischer Pädagogik ein anderer Blick auf die Koedukation möglich ist.... Wie kann das festgefahrene Nebeneinan-der der verschiedenen Ansätze (Mädchenarbeit, Jungenarbeit, Koedukation) in eine fruchtbare Bewegung und Kooperation der verschiedenen Ansätze gebracht wer-den?" (Heinemann 1998)  Gerade in der Adoleszenz  brauchen  Mädchen Begleitung und Unterstützung.

" Die Mädchen machen einen ersten Entwurf ins zukünftige Leben und dabei ist das streben nach Freundschaft, Liebe und Partnerschaft nicht immer an der Tür der Mädcheneinrichtung einfach abzugeben." (Heinemann 1998)
Trotz der Teilnahme an Selbstbehauptungstrainings und jahrelanger Begleitung in Mädcheneinrichtungen fallen Mädchen in der Pubertät oftmals wieder in traditionelles Rollenverhalten: ( ) „Fehlendes Selbstwertgefühl lässt viele von ihnen entweder ihre Weiblichkeit verleug-nen und sie versuchen den Jungen "ein guter Kumpel" zu sein, oder sie machen sich ab der Pubertät von Jungen völlig abhängig und verleugnen jeden eigenen Wunsch. Wie können die Mädchen lernen, sich ernst zunehmen und sich auszudrücken, ihre Grenzen zu respektieren und sich durchzusetzen?“
In diesem entwicklungsbegleitenden, beziehungsorientierten, koedukativen Ansatz lernen die Mädchen Schritt für Schritt , was Freundschaft und Partnerschaft positiv bedeuten können.  Dies wird auch als Teil geschlechtsspezifischer Ge-waltprävention für die Bereiche sexuelle und häusliche Gewalt gesehen. ( )

Der Besuch der Jungen findet unter strikten Regeln statt. Mädchen sind an den „Jungentagen“ mindestens die Hälfte. Jedes Mädchen lädt jeweils einen Jungen ein. Die Mädchen treffen die Entscheidungen über die Gestaltung des Nachmittags. Jungen müssen sich an die Regeln halten. Sofern sie diese brechen, sind sie gefordert, sich zu entschuldigen und etwas für den Treff sinnvolles zu tun, wie kochen oder etwas reparieren.

Für die Mitarbeiterinnen erfordert dieses Konzept ein hohes Maß an Konfliktfähig-keit und ständiges Aushandeln der Regeln. Anfängliche Erfahrungen, dass die Jungen nach einiger Zeit auch zerstörerisch und dominant auftraten, führten zur Resignation der Mädchen.

Entscheidend war aber, dass die Mitarbeiterinnen dieses Verhalten nicht tolerierten. Sie forderten die Mädchen auf, sich zu wehren und zu behaupten. Die Mädchen lernten mit der Hilfe der Mitarbeiterinnen, sich den Konflikten zu stellen. Ihre Lernbewegungen mit den Jungen werden als zyklisch be-schrieben. Mal wollen sie mehr von ihnen, mal den Treff lieber möglichst viel für sich.

 
Für die Jungen waren die Erfahrungen im Mädchentreff durchaus bereichernd.
Die Mädchen vermitteln ihnen, welches partnerschaftliche Verhalten gewünscht wird. „Solange die Jungen die Bedingungen im Mädchentreff akzeptierten, wirkte sich der weibliche Einfluss auf sie auffallend positiv aus. Die Jungen waren entspannter, freundlicher im Tonfall und Auftreten und ge-nossen das entspannte Miteinander“ (Heinemann 1998).
Ergebnis der zeitweiligen Integration der Jungen ist, dass das Durchsetzungsvermö-gen der Mädchen gegenüber Jungen und im öffentlichen Raum gewachsen ist. Die Mädchen bringen sich mutiger, persönlicher und aktiver ein. Auch die Zahl der Be-sucherinnen hat sich vermehrt.
 Gestiegen ist ebenso die Zahl der öffentlich bekannt gewordenen Fälle von Gewalt in der Familie und auf der Straße, so dass gezielte Hilfestellung möglich werden konnte. Attacken und Einbrü-che von Jungen im Mädchentreff sind seither nicht mehr vorgekommen.

 

Ausblick

Mädchen- und Jungenarbeit haben die Pädagogik in den letzten Jahrzehnten des ausgehenden Jahrhunderts bereichert. Sie sind die pädagogische Antwort auf den Wandel der Geschlechterverhältnisse. Dennoch mangelt es an öffentlicher Würdigung und Anerkennung. Der Weg der Kooperation beider Ansätze könnte ein Gewinn für die Pädagogik insgesamt sein.
 
 

Die Versuche zeigen, dass geschlechtsbezogene Mädchen- und Jungenarbeit unter einer gemeinsamen Konzeption funktionieren kann. Wenn Pädagogen und Pädagoginnen bereit sind, ihr Verhalten, ihre Inhalte und Methoden dahingehend zu überprüfen, ob sie das gleichberechtigte, gleichrangige, gleichwertige Miteinander der Geschlechter stützen, kann eine egalitäre Qualität im Miteinander der Geschlechter entstehen.
Gerade die aus der Perspektive von Mädchen entstandenen Projekte zeigen, dass sich die Horizonte für beide Geschlechter geweitet haben. Das innovative Potential dieser Projekte verweist auf neue Möglichkeiten einer Geschlechtererziehung und gibt für die Zukunft interessante Impulse.
Der geschlechtsbewusste Blick auf beide Geschlechter als Standard, als Grundqualifikation ( ) einer zeitgemäßen Pädagogik ist nicht nur eine Vision, sondern  auch ein echter Beitrag der Erziehung zur Verwirklichung von Geschlechterdemokratie.

Und etwas bescheidener formuliert: Er ist auch ein Beitrag, um Mädchen und Jungen eben alle Möglichkeiten zu eröffnen, so hart und so zart sein zu können, wie sie es brauchen und wollen.
 

Literatur
 

Bilden, Helga (1991), Geschlechtsspezifische Sozialisation, in Hurrelmann, Ulich (Hg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim, Basel

*Biermann, Christine, Heuser, Christoph u. a., Abschlußbericht des Projekts  "Mädchen und Jungensozialisation an der Laborschule", Bielefeld 1993, kann telefonisch bestellt werden unter 0521/ 106 - 2881 oder Fax: 0521/ 106 6041 (Laborschule Bielefeld) *

*Biermann, Christine, Schütte, Marlene (1996) , Verknallt und so weiter...:Liebe,  Freundschaft, Sexualität im fächerübergreifenden Unterricht der Jahrgänge 5/6, Wuppertal

Büttner, Christian, Dittmann, Marianne (Hrsg.), Brave Mädchen, böse Buben? Erziehung zur Geschlechtsidentität in Kindergarten und Grundschule, Weinheim 1992

*bsj-Mädchenprojekt, Initiativgruppe Eulenkopf (Hg.)(1995), Mit eigener Hand... Mädchen und Jungen gestalten ein Spielgelände – Dokumentation eines Gemeinwesenprojektes, Marburg  zu bestellen bei: -bsj Mädchenprojekt Biegenstr. 40 35037 Marburg

Faulstich-Wieland, Hannelore, Horstkemper, Marianne, "Trennt uns bitte, bitte, nicht!", Koedukation aus Mädchen- und Jungensicht, Opladen, 1995

Frankfurter Leitlinien zur Förderung der Mädchenarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, in: Hessische Jugend 1/95

Gildemeister, Regine, Wetterer, Angelika, (1992), Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Knapp, Gudrun-Axeli, Wetterer, Angelika, (Hrsg), Traditionen und Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg/Brs.

*Heinemann, Gabriele, (1997/98) Heraus aus der Nische – hinein in den öffentlichen Raum, Aufbruch in unbekannte Welten – Koedukation im Mädchenprojekt?!, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin (Kontakt über MaDonna e. V. Berlin)Berlin 1997 od. 98, zu bestellen: MaDonna, Mädchenkultur e. V., Briesestr. 70, 12053 Berlin, Tel. 030 - 6212043

Klett, Alexander (1993), "Manchmal bin ich einfach ins kalte Wasser gesprungen." Eine Bestandsaufnahme der Frankfurter Jungenarbeit - unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt a. M.

*MaDonna, Mädchenkultur e. V., Jahresbericht 1997, Briesestr. 70, 12053 Berlin

*Naundorf/ Gabriele, Wetzel, S. (o. J. vermutl. 1976) , Wochenkurse für Hauptschüler/innen im  Wannseeheim für Jugendarbeit e. V. Berlin –unveröffentlichtes Manuskript

Neutzling, Rainer (1995) Sehnsucht, Fremdheit, Misstrauen. Die Initiation von Jungen und Mädchen in entgegengesetzte Welten, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Köln

*Ottemeier-Glücks, Franz Gerd u. Prengel, Annedore, (1993), Jungen suchen Männlichkeit? -Soziales Lernen als schwierige Aufgabe der Jungenerziehung, in: Pfister/Valtin, MädchenStärken, Frankfurt a. M.

*Pfister, Gertrud, Valtin, Renate (Hg), Zurück zur Mädchenschule ? Pfaffenweiler 1988

*Pfister Gertrud, Valtin, Renate (Hrsg.) MädchenStärken, Probleme der Koedukation in der Grundschule, Frankfurt, 1993*

Prengel, Annedore  (1993/1995), Pädagogik der Vielfalt , Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen

*Röhmer, Charlotte, Das starke und das schöne Geschlecht, Projekte zum Umgang mit Geschlechtsrollenstereotypen*, in: Pfister, G., Valtin, R., 1993

*Verlinden, Martin, Mädchen und Jungen im Kindergarten, Köln, 1995, zu bestellen über: SPI Köln, Tel. 0221 - 16052 - 0, Fax 0221 - 16052 50, enthält eine Vielzahl an Praxisanregungen die auch auf Kinder- und Jugendhilfe übertragbar sein können!!

*Welz, Eberhard u. Dussa, Ulla (1998), Mädchen sind besser – Jungen auch, Konfliktbewältigung für Mädchen und Jungen – Ein Beitrag zur Förderung sozialer Kompetenzen in der Grundschule,

Band 1, Dokumentation eines Modellversuch,
Band 2, Curriculum, Spiele und Übungen, Berlin
Winter, Reinhard (1998), Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen – Eine qualitiative Studie im Auftrag der BZgA v. Reinhard Winter u. Gunter Neubauer, Köln, darin besonders: Kap.4..3 „Balancierte Männlichkeit“

 

* Diese Beiträge wurden in der (ungekürzten) Fassung des Vortragsmanuskripts zitiert!
 
 

Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, der bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie in Frankfurt am Main gehalten wurde.
Er wurde auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau am 12. Mai 2000 abgedruckt.
Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet derzeit an einer Dissertation über „Geschlechtsbewusste Pädagogik und Professionalität“.
Kontakt:
Margitta Kunert-Zier
Kleiststr. 33
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E-Mail-Adresse: M.Kunert-Zier@gmx.de