Kultur und
Kunst in der Agenda 21?
Anmerkungen
zu einem schwierigen Verhältnis
Von Hildegart Kurt
Vortrag, gehalten
am 3.6.1999 am Frauensee (Reutte/Tirol), auf der von der Hessischen Gesell-schaft
für Demokratie und Ökologie und der Münchner Pädagogischen
Aktion/SPIELkultur e.V. veranstalteten Tagung „Natur, Kunst, Ästhetik,
Ökologie“.
Auch wenn man noch
so gerne das Gegenteil glauben möchte: Die Agenda 21 misst den Berei-chen
Kultur und Kunst keinerlei maßgebliche Rolle für die Verwirklichung
nachhaltiger Entwicklung bei.
Wohlgemerkt zähle
ich selbst zu jener Schar Unverdrossener, die das Fehlen kultureller Bezüge
in dem Aktionsprogramm gemeinhin mit der wohlmeinenden Erklärung rechtfertigen,
Kunst und Kultur seien, obzwar nicht explizit hervorgehoben, auf indirekte
Weise, etwa als Medien der Sen-sibilisierung einbezogen. Inzwischen jedoch
legen es die Erfahrungen der letzten Jahre nahe, in dieser Frage einmal
etwas genauer hinzusehen. Und tut man das, so offenbart sich eine ernüch-ternde,
wenn nicht gar erschütternde Sachlage. Denn in der Tat enthält
die immerhin knapp 300 Seiten starke Agenda 21 keinen einzigen Passus mit
auch nur annähernd aussagekräftigen Ausführungen zu Kultur
und Kunst.
Hatte noch der
Umweltgipfel 1972 in Stockholm gleich in den Artikeln 1 und 2 der Abschlussdeklaration
gefordert, die Menschheit dürfe, um die natürlichen Lebensgrundlagen
zu erhalten, nicht müde werden, „zu entdecken, zu erfinden, schöpferisch
tätig zu sein“, taucht auf dem Erdgipfel zwanzig Jahre danach die
geistig-schöpferische Dimension menschlichen Handelns erst in Artikel
21 der Rio-Deklaration auf, wo es heißt, die „Kreativität, die
Ideale und der Mut der jungen Menschen auf der ganzen Welt müssen
mobilisiert werden.“ Nur der jungen Menschen? Das Wort „Kultur“ findet
sich in der ganzen Rio-Deklaration ein einziges Mal und zwar in Artikel
22 im Zusammenhang mit eingeborenen Bevölkerungsgruppen.
In ihrem Teil III
zählt die Agenda 21, das Aktionsprogramm des Erdgipfels, diejenigen
gesell-schaftlichen Gruppen auf, denen man eine besondere Rolle für
die Umsetzung von Nachhaltigkeit beimisst, nämlich: die Frauen, Kinder
und Jugendliche, eingeborene Bevölkerungsgruppen, nichtstaatliche
Organisationen, die Kommunen, die Arbeitnehmer, die Privatwirtschaft, die
Wis-senschaft – in einem Atemzug mit der Technik – und die Bauern. Nach
den Intellektuellen, den Künstlern, den Kulturschaffenden sucht man
vergebens. Sind diese Gruppen für die Verwirklichung nachhaltiger
Entwicklung unbedeutend? Teil IV der Agenda befasst sich mit Möglichkeiten
der Umsetzung und geht vor diesem Hintergrund in seinem der Wissenschaft
gewidmeten Kapitel auf die Zusammenführung verschiedenster Wissensgebiete
ein. Gemeint ist dabei jedoch lediglich, „die Verklammerung von Natur-,
Wirt-schafts- und Sozialwissenschaften“ (1). Weder die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften
noch die Kunst – unzweifelhaft ebenfalls ein Wissensgebiet – werden auch
nur erwähnt.
Und wo wir nun
einmal dabei sind, sei noch etwas offen gesagt: Entgegen aller An-nahme
haben in dem Dokument Begriffe wie Fantasie, Imagination oder Kreativität
gleichfalls einen absoluten Seltenheitswert. Sodass man am Ende tatsächlich,
falls man guten Willens ist, mit Halbsätzen wie diesem aus dem Kapitel
„Förder-ung der öffentlichen Bewusstseinsbildung“ vorlieb nehmen
muss, wo es heißt, Grundlage des gesamten Unterrichtsmaterials zur
Bewusstseinsbildung solle stets die beste verfügbare wissenschaftliche
Information sein, wobei „ästhetische und ethische Aspekte zu berücksichtigen
sind“. Oder, im nächsten Abschnitt: Die Länder und die UNO sollen
„eine kooperative Beziehung zu den Medien, populären Theatergruppen
sowie der Unterhaltungs- und der Werbebranche pflegen, indem sie im Rahmen
von Gesprächen deren Erfahrungen mit der Beeinflussung von öffentlichen
Verhaltens- und Verbrauchsmustern zu ergründen versuchen und von deren
Methoden umfassenden Gebrauch machen“ (2). Wirkt das Aufzählen von
„populä-ren Theatergruppen“ in einer Reihe mit der „Unterhal-tungs-
und der Werbebranche“ nicht, als ge-he es bei dieser Handlungsanleitung
lediglich darum, an das Know-how von Kommunikationspro-fis heranzukommen?
Was war passiert?
Woher rührt das wahrhaft eklatante und, wie sich bald zeigen sollte,
folgenschwere Fehlen der Dimensionen Kultur und Kunst in der von mehr als
170 Staaten, also nahezu allen Nationen dieser Erde unterzeichneten Agenda
21? In einem Aktionsprogramm, das den vorläufig weitreichendsten Versuch
darstellt, den ökologischen und sozialen Verwerfungen der globalisierten
Industriemoderne eine zivilgesellschaftlich verankerte Antwort entgegenzusetzen?
Oder anders gefragt: Wie will man die Grundl-age eines postkonsumistischen
Zivilisationsmodells legen, ohne jene Akteure einzubeziehen, die über
das Vermögen verfügen, Ideen, Visionen und existentielle Erfahrungen
in einer universal verständlichen Sprache, in Symbolen, Ritualen,
sinnenhaften Zeichen und Praktiken lebendig werden zu lassen?
Als wahrscheinlich
erste haben sich die Franzosen Laville und Leenhardt 1996 in ihrem „Manifest
für die Umwelt im 21. Jahrhundert“ (3) mit diesem Defizit befasst.
Bettina Laville, selbst Koordinatorin der französischen Delegation
in Rio und Jacques Leenhardt, Philosoph und Soziologe, führen die
beim Erdgipfel bekundete Abstinenz in Sachen Kultur auf die tiefgreifenden
ethischen und religiösen Spannungen zurück, die sich während
der letzten beiden Dekaden im Zuge einer hauptsächlich vom ökonomischen
Feld vorangetriebenen Globalisierung weltweit verschärft haben – und
sich nicht zuletzt in einem zunehmenden Terrorismus manifestieren. In den
Ländern der Dritten Welt empfinde man die Proklamierung so genannter
universeller Werte als weiteren Versuch des Westens, über die ökonomische
Vorherrschaft hinaus auch eine kulturelle Welthe-gemonie zu erlangen. Vor
diesem Hintergrund habe der unter den UN-Mitglied-staaten erzielte Konsens,
als Bewohner dieses Planeten ein gemeinsames Geschick zu teilen und partnerschaftlich
Verantwortung für den Erhalt der Lebensgrundlagen zu tragen, nicht
ausgereicht, um die kulturellen Klüfte zu überwinden und in weitergehenden
Fragen der Wertorientierung, dem Roh-stoff von und für jedwede Kultur,
mit einer Stimme zu sprechen.
Aber es gibt einen
zweiten, nicht weniger schwerwiegenden Um-stand: Wiewohl die Agenda 21
antritt, das linear quantitative Fortschrittsmodell abzulösen, spiegelt
ihr Duktus jene technisch-ökonomische Vernunft, die dem zu überwindenden
Fortschrittsverständnis zugrunde liegt. Erkennt doch auch sie den
Natur- und Ingenieurwissenschaften die Hauptrolle für die Gestaltung
gesellschaftlicher Zukunft zu. Indem das Aktionsprogramm Wissenschaft in
einem Atem-zug mit Technik nennt und die Geistes- und Kulturwissenschaften
übergeht, argumentiert es im Rahmen eben jenes Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizonts,
den es zu überschreiten antritt in Richtung auf mehr pflegende, bewahrende
Seins- und Handlungsweisen. Denkbar indes ist ein solches Überschreiten
nur von einem Wissensbegriff her, der nicht allein der Ratio, sondern auch
dem sinnenhaften, emotionalen, intuitiven Erleben Erkenntniskraft zugesteht.
Und hier, auf einer Ebene quasi jenseits des argumentativen Duktus, öffnet
sich schließlich die eminent kulturelle und zugleich ungemein anspruchsvolle
Dimension des Aktionsprogramms: nämlich im Ziel der Agenda, in dem
Versuch, die technische Zivilisation in eine humanisierte und ökologisierte
Moderne zu überführen – und damit überhaupt erst zu einer
Kultur zu machen.
Denn erinnern wir
uns: Das lateinische cultura – es entstammt dem Ackerbau – bedeutet „bebauen“
und „pflegen“ zugleich. Cultura ist oder war somit, wie Jürgen Habermas
es formuliert, das „wahrende und wartende, bauende und pflegende Gedeihenlassen“
(4). Diese Balance jedoch zwischen verfügenden und vernehmenden, bewältigenden
und bewahrenden Seins- und Handlungsweisen wur-de, wie uns inzwischen bewusst,
seit der Neuzeit im Zuge rasanter naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen
immer massiver gestört, bis sie schließlich zugunsten einer
einseitigen Dominanz des Bebauens über das Pflegen, des Nutzens über
das Bewahren verloren ging und zwar in allen Bereichen menschlichen Lebens
und Arbeitens. Die technische Zivilisation kulturalisieren meint demnach
das Wiederherstellen dieser verlorenen Balance auf einer neuen Ebene; meint
den Übergang zu Wirtschafts- und Lebensformen, die Natur, außermenschliche
und menschliche, nicht mehr nur einseitig verbrauchen, sondern sie zugleich
wiederherstellen und zur Entfaltung bringen.
Dass im Blick auf
die neuerliche Schaffung eines solchen Gleichgewichts – für Habermas
die Essenz des Begriffes „Stil“ – dem Medium Kunst eine besondere Kompetenz
zufällt, liegt nahe. Gründet doch das spezifische Vermögen
von Kunst darin, alte Fragen neu zu stellen; anders zu fragen; scheinbar
Vertrautes in seinem Eigensinn erkennbar zu machen; scheinbar Stummes zum
Sprechen zu bringen; sehen zu lehren; Erfah-rung zu vermitteln; sich über
die Ratio hinaus sinnenhaft mit Materie, mit Welt ins Vernehmen zu setzen.
Und ist nicht die Umorientierung von primär quantitativ zu primär
qualitativ ausgerichteten Lebensformen, von „schneller, mehr, größer,
neuer“ zu „langsa-mer, weniger, besser, schöner“ im Kern eine Suche
nach rech-ten Proportionen, dem rechten Maß? Wie ein Künstler
nach der Form und dem Stil für den treffenden Ausdruck einer Wahrnehmung
oder eines Gedankens sucht, stellt die Agenda 21 die Weltgemeinschaft vor
die Aufgabe, Formen, Muster, Modelle, Stile gelingenden Lebens, Wirtschaftens
und gelingender Gemeinschaft zu erkunden. Dieses ebenso großartige
wie leise innere Pochen jedoch, dieses Zukunftspotential in roher Substanz,
kraft dessen das Aktionsprogramm wahrhaftig einen Menschheitsaufbruch beinhaltet,
wird in dem Dokument gleichsam erstickt unter dem kompakten Firnis einer
ihrer selbst nur zu gewissen instrumentellen Vernunft: Wie-wohl die Agenda
21 ohne jeden Zweifel eine kulturelle Leistung und Herausforderung ersten
Ranges darstellt, verhandelt sie ihre Konkretionen tatsächlich, so
widersinnig es ist, allein in naturwissenschaftlichen, ökonomischen,
sozialwissenschaftlichen und politischen Systemkategorien, unter nahezu
vollständigem Ausschluss der Arbeitsfelder Kunst und Kultur.
Fassen wir zusammen:
Das im Wortlaut der Agenda 21 unleugbare Defizit in Sachen Kultur liegt,
wie wir gesehen haben, in dreifacher Hinsicht vor: Einmal in bezug auf
das heikle Terrain ethisch-religiöser Differenz; zum zweiten in dem
tendenziell technoiden Wissens- bzw. Wissenschaftsverständnis und
schließlich in der faktischen Nichteinbeziehung der Akteure aus den
Bereichen Kulturarbeit und Kunst-produktion.
Wie kaum anders
zu erwarten, setzt sich die Nichteinbeziehung von Kulturschaffenden auch
in der Rezeption der Agenda 21 bis auf den heutigen Tag fort. Beispielhaft
abzulesen ist dies an dem von Birgit Breuel als Band 1 der Buchreihe zur
EXPO 2000 herausgegebenen Reader Agenda 21, der laut Umschlagtext „erstmals“
diskutiert, was Nachhaltigkeit konkret bedeutet – bitter genug für
so manche, die dieses Feld seit inzwischen etlichen Jahren beackern. Eingeleitet
von der Ankündigung Breuels, die EXPO wolle der Agenda 21 neue Schubkraft
verleihen, findet man bei aller Vielfalt der behandelten Themen – Arbeit,
Energie, Ernährung, Gesundheit, Klima, Mobilität, Umwelt, Wissen
und andere – unter den 19 Autorinnen und Autoren des Sammelbandes wiederum
keinen einzigen Akteur aus den Bereichen Kulturarbeit und künstlerische
Praxis. Und in der Tat will es acht Jahre nach Rio scheinen, als sei die
in dem Aktionsprogramm niedergelegte postkonsumistische Gesellschaftsutopie
auf dem künstlerisch-kulturellen Feld, abgesehen von punktuellen,
meist umweltpädagogisch initiierten Ansätzen, nirgendwo auf wirklich
fruchtbaren Boden gestoßen. Oder schlimmer noch: Man hat die Denkfigur
Nachhaltigkeit gewogen und offenbar für zu leicht befunden.
Symptomatisch hierfür
dürfte die Entwicklung sein, die sich während der letzten zehn
Jahre am Bauhaus in Dessau vollzog. Dort hatte man Anfang der neunziger
vor dem Hintergrund gravie-render ökologischer Krisen und eines massiven
Deindustrialisierungsprozesses mit dem „Industriellen Gartenreich Dessau
- Bitterfeld - Wittenberg“ (5) das erste Konzept nachhaltiger Regio-nalentwicklung
in den neuen Bundesländern initiiert – damals ein kühner Aufbruch
mit einem lebhaften Echo bis in die internationale Diskussion hinein. Kern
des Programmes war der Versuch, aus einer Rückbesinnung auf die reiche
Reformtradition vor Ort Orientierung für eine nachhaltige Zukunft
zu gewinnen. Wie das „Wörlitzer Gartenreich“ zwei Jahrhunderte zuvor
erkundete das „Industrielle Gartenreich“ Wege der Neuschaffung von Natur
im Rahmen einer umfassenden Erneuerung der Region. Aus den Extremen, Gegensätzen,
Widersprüchen und Spannungen, die die Industriemoderne vor Ort erzeugt
und hinterlassen hatte, suchte man konkrete Utopien dafür zu de-stillieren,
wie Öko-nomie, Natur und Kultur in zukunftsfähiger Weise ineinan-der
greifen können. Bemerkenswert dabei war nicht zuletzt der Transformationsprozess
gewesen, zu dem das Bauhaus selbst – längst so etwas wie eine Ikone
der Industriemoderne – gegen Ende des Jahrhunderts ansetzte: Hatte es bis
zu seiner Schlie-ßung durch die Nationalsozialisten an einer funktionalen
Erweiterung der Kunst hin zur modernen Technik und zum industriellen Design
gearbeitet, wirkte es nun, indem es die destruktiven Auswirkungen der Industriemoderne
aufarbeitete, mit an deren sozio-ökologischen Revision.
Inzwischen indes
scheint es, als habe man den Aufbruch in die Nachhaltigkeit als jüngstes
Kapitel der Bauhaus-Geschichte in den Archiven dort abgelegt. Der Versuch,
den Ansatz des „Industriellen Gartenreichs“ fortzuführen in einem
Kunst-programm, das den Bauhaus-Gedanken, die Moderne vom kulturellen Feld
aus zu reformieren, mit der Entwicklung von Lebenskunst und zukunftsfähigen
Lebensstilen verbindet, ist gescheitert. Geradezu programmatisch kehrt
sich das derzeitige Bauhaus vom Ansatz der frühen neunziger Jahre
wieder ab. Und selbst wenn dabei auch interne, personelle Umstrukturierungen
eine Rolle spielen mögen, äußert sich in dieser Ab-kehr
unzweifelhaft ein tiefer reichendes und weiter um sich greifendes Rollback:
Die Rede von Nachhaltigkeit sei, so heißt es heute mancherorts, über-holt
und ausgereizt, oder: Nachhaltigkeit sei letztendlich eine moralische Kategorie,
mit der man weder wissenschaftlich noch künstlerisch wirklich arbeiten
könne.
Ja, es wäre
unredlich, den gegen-wärtigen Stand der Beziehungen zwischen dem Dis--kursfeld
Nachhaltigkeit und dem Diskursfeld Kunst und Kultur schönreden zu
wollen. Drängt sich nicht gar schon der Eindruck auf, hier habe man
eine historisch zu nennende Chance in kürzester Zeit unwiederbringlich
verwirkt? Nun, allzu willfähriger Pessimismus wäre gewiss
eine nicht weniger unredliche Haltung. Was, wenn die nächste Etappe
des Weges, wie so manches Mal im Leben, hinter einem Paradox verborgen
läge?
Ein Paradox ist
es schon zu nennen, wenn auf der einen Seite der berühmte „Geist von
Rio“ längst verflogen und das Thema Umwelt in Politik und Öffentlichkeit
absolut „out“ zu sein scheint, während sich das Kunstfeld seit inzwischen
geraumer Zeit mit dem gesellschaftlichen Verhältnis zur Natur auseinandersetzt
und zwar in einer Intensität und Differenziertheit, wie man sie in
den Anfängen der künstlerischen Moderne zu Beginn des Jahrhunderts
und lange Jahrzehnte danach kaum je für möglich gehalten hätte.
Jüngste Indizien hierfür lieferte u.a. das Kunstforum, das diesen
Tendenzen im letzten Jahr gleich zwei aufeinanderfolgende Themenbände
widmete. Von den größeren Ausstellungen zum Thema seien nur
die drei letzten genannt: „Post naturam - nach der Natur“, 1998 in Münster
und Darmstadt zu sehen, wo man den Wandel des Naturbegriffes auf der Schwelle
zum Zeitalter der Biotechniken untersuchte; 1999 die Ausstellung „trans-PLANT
- Lebende Vegetation in der zeitgenössischen Kunst“, mit der sich
das mehrjährige Projekt „Künstler-Gärten Weimar“ erstmals
der Öffentlichkeit präsentierte; und schließlich ebenfalls
1999 die vielbeachtete Schau „Natural Reality“ des Ludwig Forums für
Internationale Kunst in Aachen, die mit 32 Künstlerinnen und Künstlern
aus 8 Ländern Positionen zwischen Natur und Kultur vorstellte. Im
Unterschied zu den Weimarer „Künstler-Gär--ten“, wo man im wesentlichen
einem kunstimmanenten Interesse folgt – etwa der Frage, was die Spezifik
der Pflanze als künstlerisches Medium ist –, überwogen in Aachen
bei aller Vielfalt der künstlerischen Beiträge kulturkritische
Erwägungen. „Natural Reality“ beabsichtigte die gegenseitige Abhängigkeit
zwischen Natur und Kultur zu Bewusstsein führen und ging der Frage
nach, wie nicht-zerstörerische Formen von Kultur aussehen könnten.
Künstlerinnen und Künstler wie Helen und Newton Harrison, Mel
Chin, Eve-Andrée Laramée oder Alan Sonfist, die den Gegensatz
von Natur und Kultur, den das technologische Zeitalter ausgebaut und sich
zunutze gemacht hat, abzuarbeiten suchen, sind bereits einer recht breiten
Öffentlichkeit bekannt.
Bedenken wir ferner,
wie viele Kunstpraktiken heute den Anspruch vertreten, öffentlichen
Raum, ob Stadt- oder Landschaftsraum oder medialen, virtuellen Raum mitzugestalten
und in Lebenswelten zu intervenieren. Und bedenken wir auch, wie souverän
man inzwischen dort, wo es dem jeweiligen künstlerischen Anliegen
angemessen erscheint, sowohl das Autonomiegebot als auch den Objektstatus
des Kunstwerkes relativiert, um prozess- und projektorientiert zu arbeiten,
wobei die Kooperation mit oft außerkünstlerischen Partnern zu
einem integralen Bestandteil des Werkes wird.
Deutlich genug
führt dies alles zusammengenommen eines vor Augen: Die inhaltlichen
und in-tentionalen Entsprechungen zwischen diesem sich ständig erweiternden
Spektrum einer kritisch gesellschaftsorientierten Gegenwartskunst und der
Agenda 21 sind frappierend. Wiewohl in ihren theoretischen Herleitungen
und Diskursen größ-tenteils gänzlich verschieden, bearbeiten
beide Bezugssysteme, vielfach nach wie vor ohne Kommunikation, ohne Austausch
miteinander, immer wieder ein und dieselben Herausforderungen, die, wenn
überhaupt, nur im Modus des Mit-gestaltens, eines Mehr an kreativer
gesellschaftlicher Teilhabe bewältigt werden können.
Kommen wir zum
Schluss: Was wäre zu tun, um den Firnis einer insgesamt allzu instrumentellen
Vernunft, der die Agenda 21 überzieht, besser zu durchdringen? Wie
ließe sich erfolgreicher als bisher der Lebensfunken aus dem Aktionsprogramm
schlagen? Diese Fragen stellt sich heute für jedes Arbeitsfeld und
werden zu jeweils anderen Antworten führen. Im Blick auf die Kunst
zeichnet sich unter anderem die folgende große Aufgabe ab: Angesichts
der inzwischen unübersehbaren Verwandtschaftsbeziehungen zwischen
den Intentionen der Agenda 21 und den Er-kundungen der kritisch gesellschaftsorientierten
Gegenwartskunst käme es entscheidend darauf an, das derzeitige Nebeneinander
und Aneinandervorbei beider Bezugsysteme so engzuführen, dass sich
verstärkt Synergien einstellen. Ansätze dazu wie etwa die Achener
Ausstellung „Natural Reality“ gibt es bereits, doch reichen die bisherigen
Anstrengungen noch bei weitem nicht aus. Was fehlt, sind Strukturen, die
einen nicht mehr nur punktuellen, sondern einen kontinuierlichen Dialog
zwischen künstlerischen Gestaltungsmodi auf der einen und der querschnitthaften
Suche nach einer zukunftsfähigen Moderne auf der anderen Seite inszenieren.
An Schnittstellen zwischen dem Kunstfeld und den verschiedenen Lebenswelten
müssen Rahmen entstehen, innerhalb derer über längere Zeiträume
hinweg in künstlerischen und zugleich wissenschaftlichen und zugleich
sozialen Versuchsanordnungen an einer Kulturalisierung der technischen
Zivilisation gearbeitet wird. Die Zeit ist reif, dergleichen verstärkt
zu erproben.
(1) Bundesumweltministerium
(Hg.), Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Ent-wicklung
im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Dokumente, Agenda 21, Bonn: Köllen,
o.J.:256.
(2) ebda:264 und
265.
(3) Bettina Laville,
Jacques Leenhardt, Villette-Amazone. Manifeste pour l´en-vi-ronnement
au XXIe siècle, Arles: Actes Sud, 1996.
(4) Jürgen
Habermas, „Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum“,
in: Merkur, X. Jahrgang, März 1956:213-228.
(5) vgl. Stiftung
Bauhaus Dessau (Hg.), Industrielles Gartenreich, Berlin: ex pose, 1999.
Zur Autorin
Dr. Hildegard Kurt,
freischaffende Kulturwissenschaftlerin und Autorin.