Jochen Müller

Israel kann sich keine Niederlage leisten

Warum sind zwei Drittel der Israelis für den Abzug von Truppen und Siedlern aus den besetzten Gebieten und gleichzeitig für Scharons Militärpolitik? Die internationale Nahost-Politik muss die prekäre Situation Israels in der Region und die Angst vor palästinensischen Friedensgegnern ernster nehmen.

"Ich weiß so gut wie irgendwer und jedermann, dass Israel objektiv die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht trägt. Alles zu justifizieren, was die diversen Regierungen Israels unternehmen, fällt mir nicht ein. (...) Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen. Und hiermit gelangen wir an einen Punkt, wo es ein Ende hat mit jeder berichtenden oder analysierenden Objektivität und wo das Engagement keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit ist, sondern eine Sache der Existenz (...) Sieg, Sieg und nochmals Sieg: Es droht die Katastrophe. (...) Israels Bestand ist unerlässlich für alle Juden, wo immer sie wohnen mögen. (...) Es geht (also) unter allen Umständen darum, den Staat Israel zu erhalten, so lange, bis Frieden (und) wirtschaftlicher und technischer Vorausgang die Araber in einen allgemeinen Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels innerhalb gesicherter Grenzen gestattet."

Diese Zeilen schrieb Jean Améry, österreichischer Jude, Widerstandskämpfer und Auschwitzüberlebender, der nach dem Krieg in Belgien lebte und sich 1978 das Leben nahm. Die Zitate entstammen einem Text, den er 1969 mit dem Titel "Der ehrbare Antisemitismus" ganz offensichtlich unter dem Eindruck des Sechs-Tage-Krieges und des insbesondere in der 68er-Linken sich ausbreitenden Antizionismus verfasste. Die Zeilen haben indes von ihrer Aktualität nichts eingebüßt und vielleicht hätte Améry sie im Jahre 2002 in ähnlicher Form sogar erneut formuliert. Denn gleich wie man zur Nahostproblematik stehen mag: Zweifelsohne hat sich wie 1967 in den vergangenen zwei Jahren in Israel ein Gefühl existenzieller Bedrohung verbreitet, ohne dass dies in Europa hinreichend zur Kenntnis genommen worden wäre. Und zweifelsohne wendet sich insbesondere die Linke in Europa erneut nicht nur gegen Israels Politik, sondern lässt dabei auch die Besonderheit Israels als Staat der Juden in Vergessenheit geraten.

Ich möchte vor diesem Hintergrund an Amos Oz, den wohl bekanntesten israelischen Schriftsteller und Anhänger der Friedensbewegung Peace Now, anknüpfen. Oz forderte nämlich vor ein paar Monaten die deutsche und internationale Öffentlichkeit dazu auf, mehr Verständnis für die Kontrahenten im Nahost-Konflikt aufzubringen. Er erinnerte daran, dass beide Seiten für eine Friedenslösung große Opfer bringen müssen: So müssten die Palästinenser auf große Gebietsansprüche und das Rückkehrrecht der Flüchtlinge verzichten. Und Israel müsste nicht nur die Siedlungen aufgeben und damit innere Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten Siedlergruppen riskieren. Darüberhinaus müsste Israel einen Staat an seiner Seite akzeptieren, von dem klar ist, dass große Teile seiner Bevölkerung die Existenz des Nachbarn noch immer nicht anerkennen und ihn weiter gewaltsam bekämpfen wollen.

Dabei ist es doch gerade das Bedürfnis nach Sicherheit, das sich als konstituierendes Moment in die Geschichte des Staates Israel eingeschrieben hat - ein angesichts der Vorgeschichte der Staatsgründung allzu verständliches Bedürfnis. Und diese Sicherheit ist seit jeher - und in diesen Monaten um so mehr - gefährdet durch offene und latente Israelfeindschaft und Antisemitismus in Palästina und den umliegenden arabischen Staaten und Gesellschaften.


Wenn ich nun im Folgenden diese Gefährdungen israelischer Sicherheit skizziere, dann nicht aus dem Grund, weil ich Israel tatsächlich so akut und existenziell bedroht sehen würde, dass damit die israelische Militär- und Sicherheitspolitik in den besetzten Gebieten zu rechtfertigen wäre. Nein, da folge ich vielmehr der Argumentation von Moshe Zuckermann und denke wie er, dass die fortgesetzte Besatzung de facto die Sicherheit von Israel und Israelis eher gefährdet als schützen kann. Ich bin aber davon überzeugt, dass jegliche internationale Politik (und die deutsche ganz besonders) die Gefährdungen, denen sich Israel mit seinen Bürgern und Bürgerinnen ausgesetzt sieht, nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch viel deutlicher als bisher zu erkennen geben muss, dass diese ernst genommen werden. Tut die internationale Politik das nicht, hat sie keine Chance, die zunehmende Einigelung Israels zu durchbrechen und mehr Einfluss auf die israelische Politik zu nehmen.

 

Israel in der arabischen Welt

Israel ist auch nach Oslo von Staaten umgeben, deren politische Führungen entweder offen anti-israelisch sind oder für deren Bevölkerung aggressive antisemitische Ressentiments zum Alltagswissen gehören. Je brutaler die Diktatur (s. Syrien, Irak und Iran), so könnte eine Faustformel lauten, desto unversöhnlicher die Politik gegenüber Israel.

Aber der Reihe nach: Im Libanon stellt die Hizbollah, die den israelischen Rückzug als militärischen Sieg gefeiert hat, weiterhin eine permanente Gefahr dar. Bekannt für seine meist als anti-imperialistischer Antizionismus deklarierte Israelfeindlichkeit ist auch Syrien, wo Israel immer noch in Gänsefüßchen geschrieben wird. Syrien unterstützt zudem die friedensunwilligen palästinensischen Gruppen, die sich gegen die Oslo-Verträge ausgesprochen haben. Seinen Hass auf Israel instrumentalisiert desweiteren Saddam Hussein, auf der Suche nach ideologischen und politischem Rückhalt im Irak und der gesamten arabischen Welt. Er stellt eine permanente militärische Bedrohung Israels dar - nicht nur durch die finanzielle Unterstützung der Selbstmordattentate. Der Hass auf Israel fungierte auch für die Führung des Iran immer wieder als Ventil. Kaum eine staatlich organisierte Massenkundgebung kommt ohne Parolen wie "Tod den USA" und "Tod Israels" aus. Jordanien hat zwar einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen, bleibt aber auf Grund seiner überwiegend palästinensischen Bevölkerung aus israelischer Sicht ein Unsicherheitsfaktor. Und mit Ägypten wurde zwar ebenso ein Friedensvertrag geschlossen - in den Friedensjahren nach Oslo gehörten Israelis zu den größten Touristennationalitäten im Land der Pharaonen -, der Antisemitismus ist jedoch insbesondere während der Intifada und nach dem 11.9. zu einem dominierenden Faktor in der ägyptischen Gesellschaft geworden.

Eine besondere Rolle spielt in den arabischen Staaten dabei der Pan-Arabismus. Als nationalistische Ideologie der 50er und 60er Jahre stellt er noch immer den Kitt dar, der die so verschiedenen wie uneinigen arabischen Länder und Gesellschaften mit einer Vision gemeinsamer Stärke versieht - eine Stärke, die sich von Beginn an vor allem anderen gegen Israel richten sollte. Heute ist "die palästinensische Sache" vielleicht die einzige Frage, in der zumindest auf ideologischer Ebene noch von einer Gemeinsamkeit der arabischen Staatenwelt die Rede sein kann. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung der Palästinafrage für die Legitimation der arabischen Regime stellte der ägyptische Autor Amin al Mahdi jüngst in der Zeitung Al-Hayyat die Frage, ob es in Camp David überhaupt ein Angebot von Barak und Clinton hätte geben können, das für diese Regime akzeptabel gewesen wäre.

Die an Relikte des Panarabismus anknüpfende (und mit der zweiten Inifada sprunghaft angestiegenen) gemeinsame Empörung über die fortgesetzte israelische Besetzung arabischen Territoriums ist auch der Kern und Ausgangspunkt des arabischen Antisemitismus. Dieser ist in den vergangenen Jahren zu einer dominanten Ideologie in vielen arabischen Gesellschaften geworden. Einige Beispiele sollen das illustrieren: Immer wieder wird etwa in arabischen Zeitungen Israel mit Nazi-Deutschland und Scharon mit Hitler verglichen. Gleichzeitig wird der Holocaust mit absurdesten Behauptungen und Berechnungen infrage gestellt, relativiert und sogar gerechtfertigt. "Die Zionisten", so hieß es etwa im Frühjahr in der staatlichen ägyptischen Tageszeitung Al-Akhbar, hätten "ihr Gastland betrogen, um ihre Ziele zu verfolgen". Hitler hätte die Zionisten als Spione entlarvt und Rache für ihren "großen Betrug" genommen. Allerdings, so ein weiterer Beitrag in Al-Akhbar, sei für die Palästinenser Hitlers Rache an den Juden, "den niedrigsten Kriminellen auf der ganzen Erde", nicht ausreichend gewesen. Ein anderer Kolumnist fragt: "Wo bist du Hitler, so dass du Sharon eine Lektion erteilen könntest in einer von den Gaskammern, von denen wir gehört haben?" In Karikaturen, die direkt dem "Stürmer" entnommen sein könnten, wird Israel als Mörderstaat und Sharon als blutrünstiger Teufel dargestellt. Legion sind auch solche Beiträge, die eine vermeintliche jüdische Herrschaft über die Medien in den USA und der westlichen Welt behaupten. Immer wieder werden in diesem Zusammenhang die "Protokolle der Weisen von Zion" bemüht, um das jüdische Streben nach Weltherrschaft zu beweisen. Desweiteren kolportieren höchste Stellen, wie der syrische Außenminister, Geschichten von vermeintlichen jüdischen Ritualmorden aus Vergangenheit und Gegenwart ("Die Matzen von Zion"). In Moscheen werden die Juden als "Nachkommen von Affen und Schweinen" tituliert, mit denen es keinen Frieden geben könnte. Auch die Selbstmordattentate werden von großen Teilen der Bevölkerung in den arabischen Staaten gerechtfertigt. Eine Fatwa aus Kuwait ging so weit, explizit die Ermordung von israelischen Frauen und Kindern religiös zu rechtfertigen (Jerusalem Post). Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, dass am 11.9. die im WTC arbeitenden Juden vor dem Anschlag gewarnt worden und nicht zur Arbeit erschienen seien. In einer Umfrage der ägyptischen Zeitung Al Ahram Weekly aus dem September zeigten sich 39% der Befragten davon überzeugt, dass nicht islamistische Terroristen, sondern der israelische Geheimdienst für die Anschläge verantwortlich sei.

All diese antisemitischen und antiirsaelischen Ausfälle basieren in direkter Linie auf dem Palästinakonflikt. Ohne Zweifel fungieren der Hass auf Israel und das Mitgefühl für die "gedemütigten" Palästinenser für viele Menschen jedoch auch als ideologisches Ventil für Frustrationen und Erniedrigungen, die sie in ihren eigenen Ländern und Gesellschaften tagtäglich am eigenen Leib erfahren; dort wo eine Gegenwehr aufgrund der sozial und politisch repressiven Verhältnisse nicht möglich ist. In dieser Verdrängungsfunktion wird das Feindbild Israel von den arabischen Staatsführungen gerne gefördert. Nun heißt das aber alles nicht, dass die Masse der Bevölkerung in den arabischen Staaten Antisemiten sind - es gibt auch andere und warnende Stimmen. Unbestreitbar ist jedoch der zunehmende gegen Israel gerichtete aggressive Antisemitismus - eine Entwicklung, die in Israel registriert und deren Orientierung an europäischen Vorbildern der Vergangenheit notiert wird (s. etwa Haaretz, September 2002).

 

Kein Frieden in Palästina

All diese Stereotypen und Feindbilder, inclusive des Vergleichs der israelischen Besatzung mit Nazimethoden sowie der Leugnung oder Rechtfertigung des Holocausts finden sich auch in der plaästinensischen Gesellschaft und Öffentlichkeit - und führen dazu, dass die palästinensische Friedensfähigkeit in Israel bezweifelt wird. Bezweifelt wird zudem der Friedenswille. Und auch dafür gibt es genügend Hinweise: So unterstützten Umfragen zufolge im vergangenen Jahr über 80% der Palästinenser die Selbstmordanschläge in Israel. (Mittlerweile ist die Zahl auf etwa 50% gesunken. Haaretz).

Die israelische Skepsis beruht vor allem auf der Annahme, dass die Palästinenser trotz aller offizieller Verlautbarungen nie die Legitimität des Staates Israel als jüdischem Staat anerkannt hätten und dies auch nie tun werden. Tatsächlich bestätigt etwa die Weigerung der palästinensischen Seite, auf das Rückkehrrecht für die Flüchtlinge von 1948 zu verzichten, diese Sicht. Denn die Rückkehr der Millionen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen würde die Juden zur Minderheit in Israel machen - etwas, das aus Sicht der meisten Israelis nie geschehen darf. Tatasche ist auch, dass Arafat nach den Verhandlungen von Camp David gefeiert wurde, weil er dort (zumindest offiziell) keine Zugeständnisse gemacht hatte. Ein Kompromiss in der Flüchtlingsfrage, die für nahezu alle Palästinenser der Kern des "palästinensischen Problems" darstellt, würde Arafat politisch nicht überleben - zu viele Kräfte in der eigenen Gesellschaft halten daran fest. Nur ein, zwei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie Sari Nusseibeh, sind bisher dafür eingetreten. Die Gegenkräfte bestehen nicht nur in den Flüchtlingen selbst, die Umfragen zufolge zu 90% auf ihrer Rückkehr beharren. Es ist die Anti-Oslo-Fraktion, die radikal-nationalistischen Kräfte von PFLP, DFLP und vor allem den Islamisten von Hamas und Jihad, die sich mit ihrer kompromisslosen Haltung profilieren können. Denn wenn auf das Rückkehrrecht nicht verzichtet werden kann, gleichzeitig Israel dieses aber nie zulassen wird, gibt es für viele nur die eine Konsequenz: Israel muss weg!

An der Spitze dieser Kräfte stehen die Islamisten. Dass Arafat sie nie nachhaltig bekämpft hat, haben ihm israelische Regierungen immer wieder vorgeworfen. Ungeachtet aber, ob Arafat dies jemals gewollt hätte - de facto konnte er es bisher nicht, weil er aufgrund des Rückhalts, den die Islamisten mit ihrer militanten Haltung in der Bevölkerung genossen, wohl einen Bürgerkrieg riskiert hätte. Vielmehr hat er es selbst als seinen größten Wunsch bezeichnet, als "Märtyrer" zu sterben. Diesen Rang kann er den Radikalen jedoch nicht streitig machen. Es war der Hamas-Führer Ahmed Jassin, der 1998 erfolgreich durch die arabischen Länder zog, den Kampf gegen Oslo verkündete und etwa aus Saudi-Arabien mit 25 Millionen Dollar heimkehrte.

Und die Politik von Hamas richtet sich gegen jeden Versuch einer friedlichen, auf Kompromissen beruhenden, Lösung. Das erste Flugblatt der Hamas vom Januar 1988 beginnt mit den Sätzen: "Oh gesamtes Volk, Männer und Frauen, oh Kinder: Die Juden - Brüder der Affen, Mörder des Propheten, Blutsauger, Krieghetzer - ermorden euch und rauben euch das Leben, nachdem sie eure Heimat und eure Häuser geplündert haben. Nur der Islam kann die Juden zerbrechen und ihren Traum zerstören." Schärfer noch als die Forderung nach der Beseitigung Israels in der (mittlerweile ja revidierten) PLO-Charta von 1968 formuliert die Hamas ihr Ziel. Ihr Kampf gilt dem "Welt-Zionismus". Und: "Die Juden standen hinter der Französischen und hinter der kommunistischen Revolution" (...) Sie standen "hinter dem ersten Weltkrieg, um das islamische Kalifat auszuschalten (...) und hinter dem zweiten Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsmaterial zogen." Sie veranlassten "die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, (...) um die Welt durch ihre Mittelsmänner zu beherrschen. Es gab keinen Krieg an irgendeinem Ort, der nicht ihre Fingerabdrücke trüge." Die Schlussfolgerungen der Hamas sind eindeutig: Die Hamas werde "das Banner Allahs über jedem Zentimeter Palästinas hissen (...). Für das palästinensische Problem gibt es keine Lösung außer dem heiligen Krieg. Initiativen, Resolutionen und internationale Konferenzen sind reine Zeitverschwendung." (alle Zitate nach Matthias Küntzel, Djihad und Judenhaß, Freiburg 2002). "Tötet die Juden und Amerikaner, wo immer ihr sie trefft" hieß es in einer von der PA veröffentlichten Predigt aus einer Moschee in Gaza im Oktober 2000. "Die zynische Botschaft der ‚Märtyrer'", so formulierte es Josef Joffe in der ZEIT, "lautet: Weg mit euch nicht nur aus Hebron, sondern auch aus Haifa. Wir wollen euer Leben so lange vergiften, bis ihr es nicht mehr aushaltet." Als Motiv nennt Joffe - und bezieht sich dabei auf einen palästinensischen Psychiater - den Wunsch nach Rache und nach Beseitigung der Schande von 1948, die mit der Gründung des Staates Israel in jedem Araber schlummere.


Dieses Denken sitzt tief - und das offensichtlich auch bei liberaleren Strömungen in der palästinensischen Gesellschaft. Zu denken gibt etwa, dass auch ein Mann wie der als moderat geltende Faisal Husseini Anfang des vergangenen Jahres kurz vor seinem Tod in zwei Reden in Beirut und Teheran erklärt hatte, dass "Endziel der Palästinenser sei die Befreiung des historischen Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer." Und auch in den im Auftrag der PA neu konzipierten palästinensischen Schulbüchern taucht Israel, geschweige denn die Geschichte der Juden, nicht auf: Zwischen Jordan und Mittelmeer zeigen die Landkarten nur ein einheitliches Palästina in den Grenzen der britischen Mandatsmacht. Wie soll das in Israel interpretiert werden? Sicher ähnlich wie der Jubel in Palästina über den israelischen Rückzug aus dem Libanon, der als militärischer Sieg der Hizbollah und beinahe mythologisches Zeichen dafür gewertet wurde, dass Israel nur mit Gewalt zum Rückzug gezwungen werden könne: All dies dürfte dort berechtigten Zweifel am palästinensischen Friedenswillen hinterlassen haben.

Überhaupt hat sich die zweifellos im Vergleich zu anderen arabischen Gesellschaften agile und ausgeprägte Zivilgesellschaft Palästinas (zu der an dieser Stelle die radikalen Kräfte einmal nicht gerechnet werden) in den vergangenen zwei Jahren weggeduckt, den Radikalen das Feld überlassen und damit den Eindruck erweckt, diese dominierten eine homogen anti-israelische Gesellschaft. Erst in diesem Sommer rief ein öffentlicher Aufruf von Intellektuellen gegen die Selbstmordanschläge auf Zivilisten in Israel auf - und sah sich prompt heftigen Vorwürfen seitens der radikalen Gruppen ausgesetzt.

Nun trifft, was oben für die arabischen Gesellschaften gesagt wurde, auch für die palästinensische zu: Längst nicht alle Palästinenser sind Friedensgegner, geschweige denn Antisemiten. Der Blick auf die radikalen Kräfte liefert kein Abbild der palästinensischen Gesellschaft. Dennoch ist es vor dem Hintergrund der skizzierten Kräfte, die in der palästinensischen Gesellschaft systematisch die Suche nach Frieden sabotieren und immer dann mit neuen Anschlagserien aufwarten, wenn sich eine politische Annäherung zwischen beiden Seiten abzeichnet, kein Wunder wenn etwa nach der Anschlagserie im Frühjahr zwei Drittel der Israelis die Invasion der Armee in palästinensische Städte befürwortete. Kein Wunder, wenn viele Israelis in dem Vernichtungswillen der Selbstmordattentate von Hamas, Jihad, den Al Aksa-Brigaden oder auch Al Qaida (der Front gegen Juden und Kreuzfahrer) dieselbe eliminatorische Absicht wie bei den deutschen Nazis erkennen. Und wenn dann auch noch vermeintlich gemäßigte Kräfte erkennen lassen, dass ein palästinensischer Staat in Gaza und Westbank für sie nur eine Zwischenlösung ist, dann geht es für Israel wieder um die nackte Existenz. "Die Vorstellung", schreibt der israelische Publizist Natan Sznaider dazu, "künftig Nachbar eines Staates zu sein, der von einem Arafat oder seinesgleichen geführt wird, lässt mich ans Auswandern denken."

 

Wege zum Kompromiss

All das - und ich wiederhole meine These - rechtfertigt nicht die israelische Besatzungspolitik, da Israels Existenz trotz alledem nicht akut gefährdet ist. Aber all das sollte unbedingt in Rechnung gestellt werden wenn es um Lösungen geht, von deren Tauglichkeit die israelische Politik und die Mehrheit der Bevölkerung erst überzeugt werden muss. Es ist erstaunlich und erschreckend, dass dies in Deutschland so wenig geschieht und sich die Konstellation von 1967 zu wiederholen scheint. Denn abgesehen von einer Phase im Frühjahr als in Israel täglich Bomben explodierten, erfuhren die israelischen Bedenken, Sorgen und Nöte hierzulande wenig Beachtung geschweige denn Unterstützung. Der arabische Antisemitismus ist kein Thema und die palästinensische Gewalt wird meist einzig und allein auf die israelische Politik zurückgeführt. (Beispielhaft dafür waren auch viele Argumentationen nach dem 11.9., die den Anschlag allzu schnell durch die US-Politik und die Rolle Israels im Nahen Osten begründet sahen.) Für diese fanden Politiker wie Blüm und Möllemann Vokabeln wie "Vernichtung", Karikaturen in der SZ wiesen Nazi-Allegorien auf, linke Friedensgruppen setzten Jenin in eine Reihe mit Treblinka und fordern die EU auf, Israel in die Schranken zu weisen. "Israel ist das Problem" titelte die FAZ.

Und auch wenn Außenminister Fischer sich glaubhaft als "unerschütterlicher Freund Israels" (Jerusalem Post) präsentierte, so ging im Rahmen der EU, die mit Frankreich an der Spitze seit Jahren den Aufbau eines palästinensischen Staatswesens fördert und Israels Besatzungspolitik kritisiert, auch Berlin mehr und mehr auf Distanz zu Sharons Interpretation von Sicherheitspolitik. (So ist nach den Niederlanden und Österreich auch Deutschland im vergangenen Jahr von der für diese drei Länder lange geltenden Maxime abgerückt, EU-Entscheidungen abzulehnen, die sich gegen den Willen der israelischen Regierung richten und hat sich für die Entsendung internationaler Beobachter in das Konfliktgebiet stark gemacht). Die bis vor kurzem relativ bedingungslose Unterstützung der PA, die am Tropf der EU hängt, ohne die sie gar nicht existieren könnte, weckt schon lange israelischen Argwohn.

Zwar versucht sich die deutsche Politik als "ehrlicher Makler" ohne eigene Interessen und mit Äquidistanz zu installieren - davon zeugt etwa der Fischer-Plan. Aber was in Deutschland für Neutralität gehalten wird, dürfte in Israel oft schon als Parteinahme für palästinensische Interessen gelten. So wie die die überfraktionelle Grundsatzerklärung des Bundestages zu den "Eckpunkten einer neuen deutschen Nahostpolitik" im August, die davon spricht, eine "Rolle als Geburtshelfer und Pate des zukünftigen palästinensischen Staates" zu spielen. Und so wie die Initiative der Grünen vor der Wahl, die die israelische Friedensbewegung mit Einnahmen aus dem Verkauf von T-Shirts unterstützten, die den Aufdruck Peace Now trugen. Kerstin Müller hielt das für ein Zeichen "gegen schnelle und einseitige Parteinahmen". Viele Israelis dürften aber eben das für eine einseitige Parteinahme gehalten haben.

Es scheint jedenfalls, dass sich die israelische Politik von Europa abwendet - und mehr denn je auch von den UN, die in Resolutionen beide Seiten gleichermaßen für Gewalt und Terror verantwortlich machen, damit den Bombenterror gegen Zivilisten und Aktionen des israelischen Militärs auf eine Stufe stellen und beide Seiten zur sofortigen Einstellung ihrer Aktionen auffordert. Auch diese Äquidistanz wird von der israelischen Politik nicht akzeptiert und der UN wie der EU vorgeworfen, Partei gegen Israel zu sein und kein Verständnis für die israelische Situation aufzubringen. (Sehr empfindlich reagierte die Öffentlichkeit in Israel auch auf die Erklärung des NGO-Forums des UN-Rassismus-Kongresses von Durban, die das Ende eines "exklusiv jüdischen Staates" forderte und den Zionismus, die israelische Staatsideologie, der sich primär gegen Antisemitismus wendet, als Form des Rassismus angegriffen hat.)

Bleiben noch die USA. Tatsächlich gelten vielen in Israel nur noch die USA als verlässlicher Partner. Das heißt eine Friedenslösung kommt nur unter Federführung der USA zustande. Da kann Fischer hundert Pläne machen und das Quartett aus USA, UN, EU und Russland noch so lange versuchen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Dabei ist der Fischer-Plan, der mittlerweile in ein gemeinsames EU-Programm aufgegangen ist, nicht schlecht - allerdings sind es allein die USA, nicht Deutschland und die EU, die den Prozess anführen müssen. Bei Letzteren hat indes die Bush-Rede vom Sommer für Ernüchterung gesorgt. Arafat, hieß es da, wird auch dann als Gesprächspartner nicht akzeptiert, wenn er wieder gewählt werden sollte; und israelische Zugeständnisse, was die Besatzung angeht, gibt es nur, wenn es zuvor Verbesserungen der Sicherheitslage eingetreten sind. Fischer hatte dagegen die Idee stark gemacht, dass ein von Arafat ernannter Interims-Premierminister die Wahlen im Frühjahr vorbereiten und Arafat damit auf eine Repräsentationsfigur reduziert werden soll. Im weiteren bevorzugt Fischer und die EU das Prinzip des Mitchell-Plans aus dem vergangenen Jahr: Danach werden Politik und Sicherheit zeitgleich verhandelt. Seit dem Sommer liegen aber solche Pläne - zumindest offiziell - auf Eis.

Wenn nun Europa und vor allem Deutschland eine größere Rolle im Friedensprozess spielen will - und das ist allein deshalb unumgänglich, weil das palästinensische Gemeinwesen materiell völlig von der EU abhängt - dann sollte ein erster Schritt dafür sorgen, der israelischen Politik zu vermitteln, dass die Angst um die Existenz des Staates der Juden ernst genommen und eine Sicherheitsgarantie glaubhaft vermittelt wird. "Israel darf sich nicht eine einzige Niederlage erlauben", weiß jedenfalls Außenminister Fischer. Und: "Israel wird niemals eine Situation der Schwäche akzeptieren, weil dies eine existenzielle Gefahr für Staat und Bürger bedeutet." (Zeit, 11.4.02) (Auch Diskussionen um einen etwaigen Eintritt Israels in die EU könnten in diesem Zusammenhang sinnvoll sein; s.auch Champions League und Grand Prix d´Eurovision.) Erst danach kann Kritik etwa an der Besatzungspolitik auf fruchtbareren Boden fallen als es bisher der Fall ist.

Mehr Druck auf die palästinensische Seite auszuüben, wäre ein zweiter Weg. Auf diese Weise könnte Vertrauen in Israel entstehen und gleichzeitig die Abhängigkeit der PA von der EU genutzt werden, um von der Rolle des "payers" im Nahen Osten zum "player" zu werden. Für die palästinensische Seite müssen mehr und klarere politische Bedingungen an die finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung der PA geknüpft werden - wie das im Sommer schon geschehen ist. Viel zu lange hat wohl die deutsche und europäische Nahost-Politik allein auf Arafat und "seine" PA gesetzt und es versäumt, stärker auf dissidente, moderate und liberale Strömungen in Palästina zu setzen, bzw. diese dort stärker zu machen. Sicher besteht hier eine Zwickmühle, denn je offener die internationale Abwendung von Arafat formuliert wird, desto enger schließt sich die palästinensische Gesellschaft immer wieder hinter ihm zusammen. Parallel zu einer mittelfristigen Aufgabe der "Option Arafat" sollte daher Unterstützung für den Aufbau eines lebensfähigen Staates zugesichert werden. Dazu wäre z.B. die Garantie nennenswerter Reparationszahlungen für den Verzicht auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge zu zählen. Denn nur wenn eine politische Führung in Palästina etwas anzubieten hat, wird sie Opfer verlangen und die radikalen Kräfte im Zaume halten können.

Vor allem aber - und jenseits internationaler Bemühungen und Interventionen - müssen sich beide Gesellschaften, die israelische und die palästinensische nach innen wenden und unter sich aushandeln, welchen materiellen und ideologischen Preis sie für den Frieden zu zahlen bereit sind. In diesem Prozess müssen die Palästinenser Israel überzeugen, dass sie Israel akzeptieren und der Terror nicht weitergeht und die Israelis müssen die Palästinenser überzeugen, dass sie den Frieden und einen palästinensischen Staat wollen, für den die Siedlungen geräumt werden. Erst dann - d.h. auf dem Stand, auf dem Oslo einmal möglich wurde - kann eine sinnvolle internationale Moderation und Begleitung des Friedensprozesses einsetzen.

Noch eine Bemerkung zur Rolle Deutschlands. Hier sollte Solidarität mit dem Staat Israel selbstverständlich sein. Diese Solidarität sollte wohl eine kritische sein, die aber zu erkennen gibt, dass sie die Geschichte des Staates Israel und seine von vielen Israelis als existenziell bedrohlich erlebte aktuelle Situation jederzeit gegenwärtig. Tatsächlich ist aber der hiesige Israel-Diskurs vor allem verwoben in eine deutsche Vergangenheitspolitik, die sich von der Last der Geschichte befreien möchte. Das zeigen die Walserdebatte, die Skandale um Möllemann oder Blüm oder auch die leichtfertige Kanzlerbemerkung, er könne sich deutsche UN-Soldaten in Israel vorstellen - all das hat wenig mit Israel zu tun, sehr viel aber mit dem deutschen Bedürfnis nach "Normalität". "Normalität" bezeichnet dabei vor allem anderen den Wunsch, aus dem langen Schatten von Auschwitz herauszutreten. Und was könnte in diesem Prozess ein besseres Feld des inneren politischen und gesellschaftlichen Diskurses bieten als der Staat der Opfer? Womit könnte deutlicher bewiesen werden, dass Deutschland "endlich" ein "ganz normaler Staat" geworden ist, als durch deutsche Kritik an Israel und durch deutsche Soldaten in Jerusalem? Dem Nahost-Konflikt können solche Debatten und die in ihnen zum Ausdruck kommenden deutschen "Befindlichkeiten" nicht gerecht werden, geschweige denn bei einer Konfliktlösung behilflich sein.

Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, Redakteur der nord-süd-politischen Fachzeitschrift "iz3w" (www.iz3w.org) und freier Journalist.