Peter Wahl

Vom nagenden Gefühl des Mangels befreit?

Globalisierung, Globalisierungskritik und Grüne


Die Diskussion um die Globalisierung ist ein umkämpftes Terrain, auf dem um die Deutungshoheit über diesen Prozess gestritten wird. Ist Globalisierung gut, ist sie schlecht, oder ambivalent? Gibt es Gewinner und Verlierer, wer gehört wozu? Dass die Debatte auch emotionale Wellen schlägt, ist logisch. Denn je nach dem wie man die Globalisierung bewertet, lassen sich Politiken damit legitimieren oder delegitimieren.


Veränderungen im Globalisierungsdiskurs

Bis weit in die 90er Jahre lag die Hegemonie im Globalisierungsdiskurs bei jenen, die die Globalisierung ebenso positiv wie alternativlos fanden. Eine Welle von Wohlfahrtsgewinnen würde die kleinen Boote ebenso emporheben wie die großen Tanker. Als innovativ und unideologisch aufgeschminkt, wurde Globalisierung zum Win-Win Spiel für alle deklariert. Wer Zweifel äußerte, war schnell als strukturkonservativ abgemeiert und mit dem Hinweis auf "platte Kapitalismuskritik" - so Joschka Fischer - der politischen und intellektuellen Satisfaktionsfähigkeit entkleidet.

Als mit dem Scheitern des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI), dem Crash in Südostasien und den Protesten von Seattle der Lack an der schönen neuen Welt der Globalisierung abzublättern begann, als der Weltentwicklungsbericht der Weltbank feststellte: "inequality is back on the agenda" und zahlreiche empirische Befunde die weltweite Beschleunigung der Armutsentwicklung, zunehmende soziale Polarisierung, Prekarisierung und ungebremste Umweltzerstörung konstatierten, musste die globalisierungsfreundliche Ideologieproduktion reagieren. Seither trägt man: "Globalisierung birgt Chancen und Risiken."

In dieser Allgemeinheit ist das natürlich ebenso richtig wie trivial. Aber ehe man sich der Zukunft zuwendet (im Begriff von Chance und Risiko ist per se enthalten, dass er auf etwas noch nicht existierendes, auf eine zukünftige Möglichkeit verweist, die eintreten kann oder auch nicht) sollte man sich erst einmal mit der real existierenden Globalisierung befassen. Hier aber herrscht bei den Protagonisten des Hurraglobalismus beredtes Schweigen. Dass die neoliberal dominierte Globalisierung zumindest bisher wenige Gewinner und sehr viele Verlierer hervorgebracht hat, wird äußerst diskret behandelt.

Aber es sind nicht nur die global auftretenden sozialen Verwerfungen, die aus der bisherigen Globalisierung eine Pleite machen. Peinlicher noch ist dem Hurraglobalismus, dass die Entbettung der Global Players aus dem regulatorischen Rahmen des Nationalstaates auch dramatische Konsequenzen für die parlamentarische Demokratie hat. Wenn nationale Politik "auf das mehr oder weniger intelligente Management einer erzwungenen Anpassung an Imperative der >Standortsicherung< reduziert zu werden droht, entzieht das "den politischen Auseinandersetzungen den letzten Rest an Substanz." (Habermas)


Globalisierung - Umbruch von historischer Tragweite

Die Globalisierung erweist sich also als Umbruch von historischer Tragweite, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst und in die Lebenswelt jedes einzelnen eingreift. Sie erfordert enorme Anpassungsleistungen der Individuen an eine bisher unbekannte gesellschaftliche Dynamik. Sie ist ein mehrdimensionaler Prozess, dessen Kern die Integration liberalisierter und deregulierter Finanzmärkte ist. Deren Dynamik hat einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung der gesamten Gesellschaft gewonnen. Parallel und wechselwirkend dazu findet eine Internationalisierung der Güter- und Dienstleistungsmärkte sowie der Wertschöpfungskette statt.

Die Globalisierung hat auch eine bedeutende kulturelle Dimension. Sie bringt neue Leitbilder, Normen, Lebensweisen und Wertorientierungen hervor und setzt bestehende unter starken Anpassungsdruck. Das ist ein höchst widersprüchlicher und konfliktiver Vorgang, der schnell in Gewalt, Terror, Bürgerkrieg und Krieg münden kann - was in einigen Fällen bereits geschieht. Last but not least ist auch die Umwelt unter die Walze der weltweiten Liberalisierung und Deregulierung geraten.


Neoliberales Modell gescheitert

Allerdings verstünde man die Globalisierung grundsätzlich miss, wenn man sie als gesellschaftspolitisch neutralen, objektiven oder gleichsam naturhaften Prozess interpretierte. Denn sie steht unter einem bestimmten Leitbild, dem Neoliberalismus, hinter dem wiederum ökonomische Denkrichtungen (Neoklassik, Monetarismus) stehen. Dem grundlegenden Dogma des Neoliberalismus zufolge ist der Markt das bes-te Regulativ gesellschaftlicher Entwicklung. Zugleich wird den privaten Unernehmen eine prinzipielle Überlegenheit über politische/staatliche Akteure zugeschrieben (liberaler Antietatismus). Die Globalisierung ist zwar nicht für alle Übel in der Welt verantwortlich, in ihrer neoliberalen Variante hat sie aber bestehende Probleme verschärft, zahlreiche neue geschaffen und viele Verlierer und wenige Gewinner hervorgebracht.

Solange die Börse boomte und die "New Economy" selbst ehemals kritische Geister hypnotisierte, konnten die Neoliberalen die soziale Katastrophe als unumgängliche "Modernisierung" deklarieren. Inzwischen aber ist das Modell in seinem Kern gescheitert. Während Seattle "bloß" als Beginn einer Akzeptanzkrise der neoliberalen Globalisierung interpretiert wurde, mit der der Hurraglobalismus der 90er Jahre erstmals öffentlichkeitswirksam in Frage gestellt wurde, ist die Akzeptanzkrise in eine reale Funktionskrise übergegangen. So trifft das Platzen der Spekulationsblase, der längste Kursverfall seit der Weltwirtschaftskrise 1929 und das Ende der "New Economy" das neoliberale Paradigma gleichsam ins Mark. Weitere Indizien für die Funktionskrise des neoliberalen Modells sind die sog. Bilanzskandale, die freilich strukturelle Ursachen haben, oder auch die Passivität des IWF gegenüber der Argentinienkrise.

Angesichts der Eingriffstiefe und historischen Reichweite der neoliberalen Globalisierung war es nur logisch, dass Kritik, Opposition und Gegenbewegung entstehen. Bedeutende gesellschaftliche Umbrüche sind in der Moderne immer mit sozialen Bewegungen verbunden. Heute ist es die globalisierungskritische Bewegung, die weltweit für eine Alternative zur neoliberal dominierten und deformierten Globalisierung streitet. In der Bundesrepublik ist der bekannteste, wenn auch nicht der einzige Akteur ATTAC.


Eine andere Globalisierung

Für die neue Bewegung ist Internationalisierung nicht per se negativ. Im Gegenteil. Sie beruft sich auf Traditionen des Humanismus ("Alle Menschen werden Brüder"), den internationalistischen Anspruch der Arbeiterbewegung und den Solidaritätsgedanken der Neuen Sozialen Bewegungen. Globalisiert werden muss soziale Gerechtigkeit, es muss in großem Maßstab umverteilt werden - innerhalb aller Gesellschaften von oben nach unten und zwischen Nord und Süd. Globalisiert werden müssen Demokratisierung und Menschenrechte - und zwar gleichermaßen politische wie wirtschaftliche und soziale Menschenrechte -, globalisiert werden muss der verantwortungsvolle Umgang mit der Umwelt. Die globalisierungskritische Bewegung ist, anders als Fundamentalismus, Rassismus und andere gefährliche Reaktionen, die emanzipatorische Antwort auf Verunsicherungen und Herausforderungen der Globalisierung.


Grüne und Globalisierungskritik

Die Grünen haben ein ausgesprochen gebrochenes Verhältnis zu dieser Bewegung. "Das zerknirschte Hinterhertraben hilft einer Partei wenig, die einmal zu Recht Avantgardefunktion für sich beansprucht hat; es verweist eher auf einen generellen Ideenmangel in der politischen Programmatik der Grünen." Dies hatte Daniel Cohn-Bendit nach den großen Protestaktionen beim G 8 Gipfel in Genua zum distanzierten Verhältnis seiner Parteispitze gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung geschrieben. Andere Grüne, wie Ludger Volmer und Ralf Fücks, äußerten sich dar-aufhin ähnlich.

Noch beim Rostocker Parteitag Ende 2001 lag ein Grundsatzantrag vor, der weit hinter den Stand der Diskussion zurückfiel. Weder wurde da die kritische Literatur der letzten Jahre von Beck über Habermas bis Sennett rezipiert noch den damals bereits vorliegenden Zwischenbericht der Enquête-Kommission des Bundestages zur Globalisierung. Selbst hinter Arbeiten aus der Weltbank, wie die Studie "Globalization, Growth and Poverty: Facts, Fears and an Agenda for Action" vom August 2001 hinkt der grüne Text in Problembewusstsein, analytischem Tiefgang und Reichweite der Vorschläge meilenweit her. Zur globalisierungskritischen Bewegung heißt es da z.B.: "Unsere Agenda überschneidet sich teilweise mit der der Straße." Und: "Wir brauchen die Leidenschaft und die Energie der Straße."

Immerhin kam kurz danach bei der Diskussion des neuen Grundsatzprogramms etwas Bewegung auf, und innerparteiliche Kritiker des alten Kurses konnten einen überraschenden Erfolg verbuchen. Sie setzten in der Präambel eine Passage durch, die die Argumente der globalisierungskritischen Bewegung erstaunlich weitgehend aufgriff. Nun sollte man Grundsatzprogramme von Parteien nicht ernster nehmen, als diese es selbst tun. Gerade die Grünen haben in den letzten Jahren eindrücklich demonstriert, dass man durchaus das Gegenteil der im Programm festgelegten Politik praktizieren kann. Auch ist die neue Passage in der Präambel nicht unbedingt kohärent mit Aussagen in anderen Kapiteln. Dennoch ist der Teilerfolg der grünen Globalisierungskritiker insofern interessant, als er signalisiert, dass an der Basis der Schmusekurs mit dem Neoliberalismus noch immer auf Widerstand stößt.

Die programmatischen Fortschritte liegen vor allem in folgendem:

  • Anstelle der überzogenen Betonung der Chancen der Globalisierung werden die Ergebnisse der bisherigen Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik zu-nächst einmal nüchtern zur Kenntnis genommen: Das Ergebnis der weltweiten Verbindung von Handel und Finanzmärkten ist eine Spaltung der Welt."

  • Dabei wird diese Spaltung nicht nur zwischen Nord und Süd dingfest gemacht, sondern auch "innergesellschaftlich." Damit wird eine zentrale Schwäche der alten Position überwunden, die die Probleme der Globalisierung auf die Entwicklungsländer reduzierte und deren Bearbeitung nur in den Kategorien traditioneller Entwicklungspolitik fasste.

  • Auch zur bisherigen Rolle der EU wird in erfrischender Weise auf staatstra-gende Rhetorik verzichtet: "Die EU muss ihre neoliberale Fixierung in der Wirtschaftspolitik verlassen."

  • Zur globalisierungspolitischen Bewegung heißt es jetzt in aller Deutlichkeit: "Widerstand gegen diese Globalisierung ist richtig und notwendig."

  • Schließlich wird eine andere Politik nicht mit der abgedroschenen Politiker-phrase von der "Gestaltung der Globalisierung" charakterisiert, sondern ein Bruch mit der gegenwärtigen Politik eingefordert: "Zu einer weltweiten Wende und Kurskorrektur zu kommen, gehört zu den größten Herausforderungen und Aufgaben der Politik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten."


  • Allerdings sind diese Einsichten an der praktischen Politik der Partei bisher spurlos vorbeigegangen. Das gute Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl hat dem Business as usual wieder absoluten Vorrang gegeben. Beispiele sind:

  • die kritiklose Übernahme von Konzepten, die, wie das Hartz-Papier oder zahlreiche grüne Konzepte zur Sozial- und Gesundheitspolitik, der neoliberalen Logik verpflichtet sind,

  • die blinde Gefolgschaft zum deflationären Pseudostabilitätskurs Eichels,

  • die hermetische Verteidigung der sog. Steuerreform - trotz deren null Effekte auf Arbeitsmarkt und Konjunktur und trotz Verschärfung der Finanzkrise der Kommunen,

  • der knallhart neoliberale Kurs der EU in den GATS Verhandlungen der WTO.


  • So werden die letzten Reste emanzipatorischer Elemente in grüner Politik ausgemerzt. Angesichts zweistelliger Umfrageergebnisse wird eine Kurskorrektur natürlich immer unwahrscheinlicher. Aber vielleicht gibt manchem zu denken, was Josef Bierbichler, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schauspieler in seinem jüngsten Buch "Verfluchtes Fleisch" sehr treffend formuliert hat: "Einige aber, und ich fürchte, es sind die meisten, fühlen sich von Applaus und öffentlichem Wahrgenommenwerden endlich vom nagenden Gefühl des Mangels befreit und richten sich im Gefundenen ein, im Selbstwertgefühl. Ein schrecklicher, ein folgenschwerer Irrtum. Denn immer mehr entwickelt sich nun ein abstraktes Selbstbewusstsein, ein falscher Stolz."

    Der Autor ist Mitarbeiter der Bonner NGO WEED - Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung und im Koordinierungskreis von ATTAC Deutschland.
    E-Mail: peter.wahl@weedbonn.org