Seit Beginn der europäischen Integration waren unterschiedliche Vorstellungen über gemeinsame Grundlagen, Wege und Ziele vorhanden und hatten mehr oder weniger heftige Konflikte zur Folge. Das hat sich bis heute nicht geändert. Obwohl alle Länder, die der EU beigetreten sind, sowohl das gemeinsame Recht in der Europäischen Union (acquis communautaire) als auch die Kopenhagener Kriterien (institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten) akzeptiert haben, zeigt sich mittlerweile sehr deutlich, dass es kein gemeinsames Verständnis darüber gibt.
Andererseits relativiert die voranschreitende Vergemeinschaftung von Politikfeldern die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten, was besonders in Osteuropa auf Widerstand stößt (Großbritannien ist ja mittlerweile ausgetreten). Finanzkrise und Pandämie treiben die Übertragung von Aufgaben an die EU weiter voran. Ohne das entschlossene Handeln der EZB wären einige EU-Mitgliedsstaaten bankrott gewesen und die EU möglicherweise auseinandergebrochen. Auch in der aktuellen Pandemie-Krise zeigt sich nach anfänglichen nationalen Alleingängen ein stärker werdendes gemeinsames Handeln (Impfstoffbeschaffung, grenzüberschreitende Belegung von Intensivstationsplätzen u.a.). Immer stärker vernehmbar wird die Forderung nach einer gemeinsamen EU-Gesundheitspolitik. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass das Spannungsverhältnis zwischen europäischem und jeweils nationalem Recht ins Zentrum juristischer Auseinandersetzungen geraten ist. (Begründung: Dass EU-Recht über dem nationalen steht, ist keine offene Frage!)
Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielen gesellschaftliche Debatten und Initiativen. Ohne „Pulse of Europe“ hätte es keine leidenschaftliche Wiederaneignung der europäischen Errungenschaften gegeben. Ohne couragiertes Engagement vor allem von Frauen wäre das Abtreibungsverbot in Irland immer noch in Kraft. Ohne die Empathie in ganz Europa wären die vielen Corona-Toten in Bergamo eine rein italienische Angelegenheit geblieben. Und ohne Demonstrationen und Initiativen hätte sich die UEFA kaum zur sexuellen Toleranz äußern müssen. Durchsetzung und Erhalt demokratischer Freiheitsrechte werden zusehends in einer sich herausbildenden europäischen Öffentlichkeit diskutiert.
Wie genau funktioniert die Dialektik von Freiheitsrechten und Integration? Warum tun sich viele Menschen so schwer mit der Akzeptanz von Vielfalt? Wieso wollen Mitgliedsstaaten die Vorteile der EU nutzen und pochen gleichzeitig auf dem Vorrang nationaler Souveränität? Wie lassen sich diese Widersprüche überwinden? Und jenseits der europäischen Rechtsarchitektur: Wie sehen die neuen Herausforderungen aus der Sicht der europäischen BürgerInnen aus? Wie kommt ihre gesellschaftliche Lebenswirklichkeit stärker in den Fokus von Politik und Institutionen?
Zur Reihe: Europa in Bewegung
Die Europäische Union steht vor einer existenziellen Bewährungsprobe. Die Auseinandersetzungen um Griechenland und die europäische Austeritätspolitik, die Verhandlungen mit Großbritannien zur Vermeidung eines sogenannten Brexits und vor allem das zähe Ringen um eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik zeigen, wie groß die Differenzen innerhalb der Europäischen Union sind. Auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten finden teilweise tief greifende Umbruchprozesse statt, die von erheblichen Veränderungen in den politischen Parteiensystemen begleitet sind.
Die Reihe „Europa in Bewegung“ beleuchtet genauer die aktuellen Umbruchprozesse in einzelnen europäischen Ländern und fragt dabei nach den Kräften, die demokratische Reformprozesse in ihren jeweiligen Ländern tragen und Renationalisierungstendenzen entgegentreten können. Den Anfang machen die Umbruchprozesse in Spanien, in Frankreich und in Polen.
Bitte beachten Sie: Aufgrund der aktuellen Maßnahmen gegen das Coronavirus ist eine persönliche Teilnahme nicht möglich. Verfolgen Sie das Gespräch per Livestream auf unserem YouTube-Kanal und diskutieren Sie mit: YouTube-Kanal
Podiumsdiskussion mit:
Michel Friedman Geschäftsführender Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) an der Frankfurt University of Applied Sciences
Henrike Hahn MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Brüssel
Stefan Kadelbach Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Moderation:Bruno Schoch Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt/Main
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