Am 24. Februar überfiel die russische Armee die Ukraine mit einer riesigen und hochgerüsteten Streitmacht. Nicht wenige Analysen weisen auf die Parallele am 22. Juni 1941 hin, als die Nazis die Sowjetunion überfallen haben. Von Beginn an geht die russische Armee rücksichtlos und brutal gegen die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur vor und begeht dabei augenscheinlich zahlreiche Kriegsverbrechen. Trotz der militärischen Überlegenheit leisten die Ukrainer moralisch und militärisch bewundernswerten Widerstand ; der Westen hat mit harten und schnellen Sanktionen reagiert. Die Nato, die EU und auch die USA stehen so geschlossen wie nie zusammen und bieten dem Putin-Regime entschlossen Paroli. In Russland protestieren viele unter extrem schweren Bedingungen und demonstrieren eindrücklich, dass der Gegner in diesem Krieg nicht die russische Bevölkerung ist. Eine Woge der Solidarität hat die Bevölkerung vieler Länder ergriffen. Russland ist international weitgehend isoliert und wird einen sehr hohen Preis für diesen Krieg zahlen müssen.
Dass es so weit kommen konnte, hat auch mit Fehlern westlicher Staaten, nicht zuletzt der Bundesrepublik, zu tun. Sie reichen von der weitgehenden Folgenlosigkeit für Morde und andere vom Putin-Regime angeordnete Straftaten im In- und Ausland, Wegsehen von dem sich radikalisierenden Autoritarismus im Innern und von Russlands militärischen Aktivitäten in Georgien oder Syrien bis hin zur hingenommenen oder gar selbst organisierten Abhängigkeit von russischen Energielieferungen.
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt erreicht, aus diesen Erfahrungen und Fehlern Lehren zu ziehen. Erste Konsequenzen wurden mit den Sanktionen erkennbar gezogen. Die militärische Abschreckung in den an Russland angrenzenden NATO- Staaten ist verstärkt werden, die USA haben den Öl-Import aus Russland gestoppt und in Deutschland ist eine „Zeitenwende“ eingeläutet worden, die u.a. die Bundeswehr massiv verbessern will.
Was genau sind die Lehren, die wir aus dem russischen Überfall ziehen müssen? Die bisherige Grundannahme im Bereich der internationalen Beziehungen lautete, Krieg sei kein Mittel der Politik. Diese Grundlage hat dieser Krieg erschüttert. Aber was folgt daraus? Und wie ist es um die europäische Dimension bestellt? Müssen wir jetzt, nachdem das lange vernachlässigt wurde, nicht dringend eine effektive europäische Verteidigungsfähigkeit schaffen (Europäische Armee, europäische Rüstungsindustrie und gemeinsames Beschaffungswesen)? Damit stehen zentrale Bereiche der bisherigen Praxis in der EU auf dem Prüfstand, z. B. das Einstimmigkeitsprinzip oder die Kompetenzverteilung in bestimmten Politikfeldern. Georgien, Moldova und die Ukraine haben jetzt die Aufnahme in die EU beantragt, andere Länder warten seit Jahrzehnten auf den Beitritt. Wie soll damit umgegangen werden?
Zur Reihe: Böll International
Zentrales Thema dieser Reihe sind die Konfliktlinien der internationalen Politik, wie regional begrenzte Kriege, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, Kämpfe um natürliche Ressourcen oder um den Zugang zu Bildung. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Konfliktlagen verschoben: Wo frühere Konflikte im Zeichen der Blockkonfrontation zwischen Ost und West standen, beobachten wir heute komplexere, vielfältig motivierte Auseinandersetzungen.