In Deutschland diente Russland häufig als eine Projektionsfläche besonderer Art. In einer langen ideengeschichtlichen Tradition wurde und wird eine Seelenverwandtschaft beschworen oder eine gemeinsame Frontstellung gegen den Westen und besonders gegen die USA phantasiert. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich diese Haltung in einem Teil der Bevölkerung verfestigt. Sie geht mit Verschwörungsmythen einher und fordert, dass man Russland (und Putin) nicht verteufeln dürfe, sondern verstehen und seine Sicherheits- und Machtinteressen respektieren müsse. Dagegen sind im anderen Teil der Bevölkerung Illusionen über eine kooperative Partnerschaft mit Russland zerstoben. Putins Politik wird als revisionistisch und imperialistisch begriffen. Hinter beiden Vorstellungen stecken politische und psychologische Komplexe von Unter- bzw. Überlegenheit.
Der von Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion geführte Vernichtungskrieg hat ein Schuldbewusstsein erzeugt, das die deutsche Politik immer nach besonderen Beziehungen mit Russland streben ließ. Damit gingen enorme Wahrnehmungsverzerrungen einher: Die Verbrechen des Stalinismus und die totalitären Elemente von Putins autoritärem Regime hat man häufig schön geredet; allzu oft wurden die Länder Osteuropas, ihre Interessen, ihr Freiheitsstreben und ihre Schutzbedürfnisse dem Wunsch nach guten deutsch-russischen Beziehungen praktisch übergangen. Die Entspannungspolitik wurde verzerrt zum „Wandel durch Annäherung“.
Das zog sich wie ein roter Faden durch die deutsche Russland-Politik bis in die Merkel-Jahre. Es ist deshalb kein Wunder, dass sich insbesondere die SPD schwertut, ihr Weltbild zu revidieren, und nicht nur Gerhard Schröder bis heute enge Beziehungen zur russischen Politik und Wirtschaft unterhält.
In dieser Veranstaltung wollen wir die Traditionen und Kontinuitäten deutscher Russland-Vorstellungen darstellen und reflektieren, ebenso die – nicht allein von der SPD verfolgten – besonderen Beziehungen Deutschlands zu Russland. Diesen wurde das Emanzipationsstreben der osteuropäischen Staaten, inzwischen großenteils Mitglieder der EU und der NATO, lange Zeit untergeordnet. Das hat sich mit Blick auf die Energiepolitik als fatal erwiesen. Und allzu lange wurde die Existenz der Ukraine als Staat und Nation – wie in Putins großrussischem Narrativ – ignoriert oder gar, wie von Helmut Schmidt, geleugnet.
Über die komplizierte Gemengelage des deutschen Russland-Komplexes wollen wir mit ausgewiesenen Experten diskutieren, die dazu brandaktuelle Publikationen veröffentlicht haben.