In Frankreich stehen die Zeichen auf Kontinuität, zumindest an der Spitze des Staates. Umfragen zufolge kann Emmanuel Macron damit rechnen, für eine zweite Amtszeit als franzöischer Staatspräsident gewählt zu werden. Auch in Frankreich hatte der russische Überfall auf die Ukraine, wie in vielen anderen Ländern, eine „Rallye around the Flag“ zur Folge. In dieser Kriegs- und Krisenzeit ist die Bereitschaft gering, sich bei Wahlen auf „Experimente“ einzulassen. Seine Rolle als EU-Ratspräsident und als Vermittler im Russland-Krieg haben diese Tendenz noch verstärkt. Eine Beteiligung Macrons am Präsidentschaftswahlkampf hat praktisch nicht stattgefunden. Der Krieg und die Folgen dürften diese Wahl entscheiden.
Nichtsdestotrotz haben sich in den vergangenen Jahren Probleme im Land offenbart, die Macron entweder nicht hat lösen können oder die schlicht von ihm ignoriert wurden. Die öffentliche Debatte darüber, was das Beste für das Land ist, findet praktisch nicht statt. Der Präsident verweigert sich dem, was man gemeinhin Politik nennt. Das lässt für die Entwicklung der Demokratie in Frankreich nichts Gutes erahnen. Die Renaissance der Gelbwesten-Bewegung wird angesichts der absehbaren Preissteigerungen für die allgemeine Lebenshaltung aufgrund des Krieges und der Sanktionen gegen Russland ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen. Die ungelösten Probleme der Integration großer Teile der Gesellschaft und des wachsenden Rechtsextremismus stellen ebenfalls eine schwere Hypothek für die kommende Präsidentschaft dar.
In dieser Veranstaltung soll die Präsidentschaftswahl analysiert werden. Wer hat wen und warum gewählt, mit welchen Erwartungen wurden die Wahlkreuze versehen? Auf welche gesellschaftlichen Gruppen und Interessen stützt sich die kommende Präsidentschaft? Lassen sich daraus Schlussfolgerungen für die im Juni stattfindenden Parlamentswahlen ableiten? Und wie sehen die europapolitischen Implikationen aus? Schließlich: Welche Perspektiven haben die deutsch-französischen Beziehungen?
Was ist los im Nachbarland Frankreich?
Frankreich steht in diesem Jahr in mehrfacher Hinsicht im Fokus. Es hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, weshalb Europa stärker auf Paris schaut. Außerdem finden im April Präsidentschaftswahlen und im Juni Parlamentswahlen statt. Damit stehen Entscheidungen an, die möglicherweise unabsehbare Konsequenzen für Frankreich und auch für die ganze Europäische Union haben. Es ist ungewiss, ob es zu einer Wiederholung von 2017 kommt, als Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl mit einem pro-europäischen Wahlkampf gewann.Seit Jahren wurden in Frankreich wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierungen versäumt oder aber blockiert, was die Kluft zwischen der politischen Elite und sozialer Unzufriedenheit im ganzen Land gefährlich vertieft hat. Die republikanische Verheißung der einst so glorreichen Parole Liberté, égalité, fraternité hat viel von ihrer Integrationskraft eingebüßt, stattdessen überwiegt weithin Misstrauen (défiance) gegen die politische Klasse. Wie sehr es in der französischen Gesellschaft seit langem brodelt, hat die Revolte der „Gelbwesten“ zu Tage gebracht, in der sich militanter sozialpolitischer Protest mit rassistischem Hass und wütenden Attacken auf Symbole und Institutionen der Republik vermischten.
Frankreichs Linke ist schwach und zersplittert. Populisten und Nationalisten gelingt es zusehends, aus den sozialen Spannungen und Frustrationen politisches Kapital zu schlagen. Alarmierend ist, dass das Rassemblement National von Marine Le Pen rechts überholt wird; Éric Zemmours brachial rassistische Rhetorik verwischt die Differenz zwischen Rechtspopulismus und Faschismus. Der Anteil der Nichtwähler steigt vor allem bei den Jugendlichen rasant an. Das ist hierzulande schwer zu verstehen, betrifft uns aber unmittelbar, steht doch im Fadenkreuz nicht nur „das System“ in Frankreich, sondern auch die Europäische Union. Grund genug für uns, die irritierenden und bedrohlichen Entwicklungen in unserem größten Nachbarland in mehreren Veranstaltungen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Online-Diskussion mit:
Ronja Kempin Senior Fellow, Forschungsgruppe: EU/Europa, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Stefan Seidendorf Stellv. Direktor, Deutsch-Französisches Institut, Ludwigsburg
Michaela Wiegel Frankreich-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Paris
Moderation:Bruno Schoch Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt/Main