Der beängstigende Aufstieg radikaler Populisten in Frankreich ist nicht vom Himmel gefallen, vielmehr verzeichnen sie ein fast kontinuierliches Wachstum in den letzten Jahren. Wie lässt sich das erklären?
Versäumte oder blockierte Reformen zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Modernisierung haben Teile der Gesellschaft von der politischen Klasse entfremdet. Diese sonnt sich im Glanz der Institutionen der V. Republik und erscheint abgehoben von den sozialen Nöten und Frustrationen großer Teile der Gesellschaft, die sich von den hergebrachten Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Die Schwäche der Linken und die Zersplitterung des Parteiensystems hat Emmanuel Macron mit seiner parteiübergreifenden Mobilisierung La République en marche ausgenutzt und sie zugleich noch verstärkt. Die Kluft zwischen einer kleinen politischen Elite und der Unzufriedenheit (défiance) in grossen Teilen der Gesellschaft hat viele Ursachen. Individuelle Aufstiegschancen, die das Versprechen der égalité allen verheisst, scheinen versperrt. Die politische Klasse rekrutiert sich weitgehend aus den wenigen Eliteuniversitäten – man kennt sich. Viele Menschen fühlen sich von Globalisierung, internationaler Konkurrenz und Immigration bedroht und vom Nationalstaat nicht mehr ausreichend geschützt oder unterstützt. Das gilt besonders für ländliche Regionen und die tristen Lebensverhältnisse in den Vorstädten mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit. Stärker als in anderen EU-Ländern werden Islam und Islamismus in Frankreich als Bedrohung wahrgenommen. Die vergleichsweise hohe Zahl von Muslimen in den Ballungsgebieten ist ein Erbe der Kolonialvergangenheit. Die politische Integration der Muslime scheint mit dem Modell der égalité und des Laizismus, der strikten Trennung von Staat und Religion, nicht mehr gewährleistet. Islamophobie mischt sich mit rassistischen Ressentiments. Hinzu kommt die weit verbreitete Angst vor islamistischen Terroranschlägen, der Frankreich in den letzten Jahren wie keinen anderen europäischen Staat heimgesucht hat.
Reicht das alles, um den erschreckenden Höhenflug rückwärtsgewandter Populisten in Frankreich zu erklären? Wie stellt sich die politische Auseinandersetzung im Wahljahr dar? Was erwartet die Wählerschaft von ihrem Nationalstaat und wie wird die Rolle Europas und der Bundesrepublik gesehen? Kann die französische EU-Präsidentschaft Europa voranbringen?
Was ist los im Nachbarland Frankreich?
Frankreich steht in diesem Jahr in mehrfacher Hinsicht im Fokus. Es hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, weshalb Europa stärker auf Paris schaut. Außerdem finden im April Präsidentschaftswahlen und im Juni Parlamentswahlen statt. Damit stehen Entscheidungen an, die möglicherweise unabsehbare Konsequenzen für Frankreich und auch für die ganze Europäische Union haben. Es ist ungewiss, ob es zu einer Wiederholung von 2017 kommt, als Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl mit einem pro-europäischen Wahlkampf gewann.Seit Jahren wurden in Frankreich wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierungen versäumt oder aber blockiert, was die Kluft zwischen der politischen Elite und sozialer Unzufriedenheit im ganzen Land gefährlich vertieft hat. Die republikanische Verheißung der einst so glorreichen Parole Liberté, égalité, fraternité hat viel von ihrer Integrationskraft eingebüßt, stattdessen überwiegt weithin Misstrauen (défiance) gegen die politische Klasse. Wie sehr es in der französischen Gesellschaft seit langem brodelt, hat die Revolte der „Gelbwesten“ zu Tage gebracht, in der sich militanter sozialpolitischer Protest mit rassistischem Hass und wütenden Attacken auf Symbole und Institutionen der Republik vermischten.
Frankreichs Linke ist schwach und zersplittert. Populisten und Nationalisten gelingt es zusehends, aus den sozialen Spannungen und Frustrationen politisches Kapital zu schlagen. Alarmierend ist, dass das Rassemblement National von Marine Le Pen rechts überholt wird; Éric Zemmours brachial rassistische Rhetorik verwischt die Differenz zwischen Rechtspopulismus und Faschismus. Der Anteil der Nichtwähler steigt vor allem bei den Jugendlichen rasant an. Das ist hierzulande schwer zu verstehen, betrifft uns aber unmittelbar, steht doch im Fadenkreuz nicht nur „das System“ in Frankreich, sondern auch die Europäische Union. Grund genug für uns, die irritierenden und bedrohlichen Entwicklungen in unserem größten Nachbarland in mehreren Veranstaltungen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Online-Diskussion mit:
Christophe Braouet Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft Frankfurt am Main
Anna Deparnay-Grunenberg MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Stuttgart – Brüssel
Stefan Seidendorf Stellvertretender Direktor am Deutsch-Französischen Institut, Ludwigsburg
Niklas Záboji Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Paris
Moderation:Bruno Schoch Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt/Main