Was gibt es Spannenderes, als ein Heft zu einem Thema zu machen, das nicht schon hundertfach diskutiert und von allen Seiten beleuchtet wurde? Zeitpolitik ist so ein Thema. Viele Menschen, die diesen sperrigen Begriff zum ersten Mal hören, zucken entweder mit den Schultern – «Was soll das sein? Hat das was mit Zeitmanagement zu tun?» – oder, deutlich ablehnend: «Will die Politik jetzt auch noch in mein Privatestes, meine Lebenszeit eingreifen?»
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, der erkennt schnell: Zeitpolitik gab es schon immer, es wurde eben nur nicht so genannt. Der Kampf um den 8-Stunden-Tag war ein zentrales Anliegen der Arbeiterbewegung, «Samstags gehört Vati mir» (!) eine populäre Parole der Gewerkschaften in den Anfängen der Bundesrepublik. Schulbehörden bestimmen Ferienzeiten, an die Eltern sich halten müssen, und wer am Sonntag den Bohrer ansetzt, verstößt gegen die vom Grundgesetz geschützte Sonntagsruhe, was in schweren Fällen mit Bußgeld geahndet werden kann (S. 4).
Seit einiger Zeit nun hat die Politik, haben auch Bündnis 90/Die Grünen das Thema für sich entdeckt.
Dabei geht es darum, die Zeitstrukturen einer Gesellschaft so zu gestalten, dass sie den Alltag der Menschen verbessern, anders ausgedrückt: Bürgerinnen und Bürger sollen so leben können, wie sie es als sinnerfüllt empfinden, nicht mehr so «gehetzt» von einer Aufgabe oder Pflicht zur anderen eilen. Männer wie Frauen wollen sich um ihre Familie, Kinder, alten Eltern kümmern und nicht auf existenzsichernde Erwerbsarbeit verzichten. Wir wissen, wie sehr es vor allem Frauen sind, die diesen Spagat täglich machen müssen, dass sie viel mehr Zeit mit Kindern oder der Pflege verbringen. Es geht aber auch darum, Zeit für sich selber zu finden: um sich weiterzubilden, ein Ehrenamt zu übernehmen oder einfach mal auszusteigen.
Böll.Thema 2/2015
Sehnsucht nach Zeit
Berlin, September 2015, 56 Seiten
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