Jule Govrin: Gleichheit begehren. Spuren eines Universalismus von unten
Wie manifestiert sich emanzipatives Begehren? Es äußerst sich, so die Vermutung, in egalitären Körperpolitiken, die solidarische Sorgeökonomien hervorbringen, welche der kapitalistischen Versehrung und Verwertung entgegenwirken. Um diesem Begehren nachzuspüren, sucht der Vortrag nach Anzeichen eines Universalismus von unten. Wenn die umkämpften Grenzen eurozentrisch eingeengter Universalitätsnormenangefochten werden, blitzt solch ein Universalismus von unten hervor. Seine Erscheinungsformen finden sich quer durch die Geschichte, ohne einer linearen Fortschrittslogik zu folgen.
Er erweist sich vielmehr als prekäre, kontingente Praxis der Gleichheit, die auf Differenz fußt und sich unvernehmlich identitären Verschließungen verwehrt. Eine radikale, relationale Gleichheit, die nicht von Gesetzgebenden gewährt wird, weil sie in veränderten Beziehungsweisen der Sorge und Solidarität zutage tritt, wenn sich Menschen im Wissen um ihre Verschiedenheit und ihre verkörperte Verbundenheit widerständig organisieren – im geteilten Begehren nach einer anderen möglichen Welt.
Die Zukunft der Geschichte
Veranstaltungsreihe Januar 2025 bis Januar 2026Flyer
In der Gegenwart erfordert der Zustand der globalen Gesellschaft und ihrer natürlichen Grundlagen Veränderung in vielleicht nie gekannter Dringlichkeit. Veränderung ist jedoch nur möglich, wenn das Bestehende auch als veränderbar verstanden wird. Deshalb ist die Frage nach Utopien, nach der Zukunft, nach der Möglichkeit von Fortschritt und nach den Zielen dieser Veränderung so entscheidend. Aus demselben Grund müssen wir aber auch nach der Geschichte fragen: wenn das Bestehende veränderbar ist, muss es bereits Veränderung und damit Geschichte gegeben haben. Was aber ist Geschichte? Was treibt sie an, und auf welche Weise und in welchen Strukturen bewegt sich Geschichte? In welcher Form und auf welche Weise laufen Prozessen des Wandels und der Veränderung ab? Gibt es eine oder viele Geschichten, und wie verhalten sich diese zueinander? In welcher Beziehung steht die Geschichte zur Gegenwart und zur Zukunft? Oder anders gefragt: Ist eine bessere Zukunft möglich ohne eine emanzipatorische Aneignung der Geschichte?
Nachdem wir uns bereits mit der Zukunft des Fortschritts befasst haben, wenden wir uns nun, in unserer neuen Reihe, der Zukunft der Geschichte zu. Ebenso wie der Fortschritt war auch die Geschichte seit jeher ein zentrales Thema emanzipatorischer Theorien. Dabei wurde unter anderem gefragt, ob sich Geschichte linear, dialektisch oder in plötzlichen Sprüngen vollzieht, und ob die Möglichkeit von Emanzipation auf der Gesetzmäßigkeit der Geschichte beruht oder nicht vielleicht gerade auf den Rissen in dieser Gesetzmäßigkeit. Die Beobachtung von Karl Marx, dass Menschen ihre Geschichte machen, dies aber nicht unter frei gewählten, sondern unter vorgefundenen Bedingungen tun, liegt vielen dieser theoretischen Überlegungen zugrunde. Doch was genau das „Machen“ bedeutet, welches die „vorgefundenen Bedingungen“ sind und wie sie sich konkret auswirken, war stets umstritten.
Im Archiv der progressiven Traditionen finden sich eine ganze Reihe von Faktoren, die als Antriebskräfte der Geschichte identifiziert wurden, vom Proletariat über die immanente Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bis hin zur menschlichen Phantasie. An welche dieser Überlegungen lohnt es sich heute noch anzuknüpfen? Welche Bedeutungen haben politische und soziale Bewegungen in diesem Zusammenhang? Können auch kleine, lokale Bewegungen die Geschichte in einer emanzipatorischen Richtung bewegen, und wie sieht das bei den großen historischen Bewegungen, etwa der Frauenbewegung oder dem Antikolonialismus aus?
Angesichts der planetaren Klimakrise werden menschliche Handlungsspielräume allerdings grundsätzlich in Frage gestellt; die Bedeutung menschlicher Akteure und menschlicher Entscheidungen scheint abzunehmen. Dies hat Auswirkungen auf die Vorstellung von Geschichte: an die Stelle einer linearen Fortschrittsgeschichte tritt die Erwartung der Zukunft als Katastrophe, die unabwendbar erscheint und in deren Sog die Menschheit immer schneller nur noch passiv hineingezogen wird. Ein Ende der Geschichte wird plötzlich (wieder) denkbar, jedoch als Untergang und nicht als Befreiung. Eine aktuelle Herausforderung besteht daher nicht zuletzt darin, nicht- menschliche Faktoren und Dimensionen in eine Vorstellung von Geschichte zu integrieren, die dennoch emanzipatorisch bleibt und die Idee der Veränderbarkeit nicht aufgeben will.
Jenseits ökonomischer und politischer Verhältnisse – und gleichzeitig in enger Verbindung damit – sind auch emotionale und private Beziehungen sowie Strukturen der Fürsorge, insbesondere in der feministischen Theorie, als bedeutende Faktoren für gesellschaftliche Prozesse erkannt worden. Wie können veränderte Beziehungen eine emanzipatorische Antriebskraft der Geschichte sein, und welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein? Ganz ähnliche Fragen lassen sich für Kunst, Konsum- und Alltagskultur formulieren. Anknüpfend etwa an die Debatten der Situationist:innen wäre zu fragen, ob ästhetische Situationen geschaffen werden können, die das Bestehende in einer Weise aufbrechen, die emanzipatorische Veränderung möglich macht, indem sie Geschichte und Gegenwart plötzlich in ein neues Licht setzen.
Geschichte ist immer auch von Herrschaft durchwirkt, nicht nur in ihrem empirischen Ablauf, in dem es keinen Mangel an unvorstellbaren Verbrechen gibt, sondern auch in ihrer Konzeptualisierung. Die postkoloniale Theorie hat eindrücklich gezeigt, dass das Konzept von Geschichte eng mit der europäischen Expansion verknüpft ist und sich die europäische Vorstellung von Geschichte dabei alle anderen Geschichten unterwirft. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Geschichte aus dem Griff dieser Herrschaft befreit werden kann, und welche Rolle dabei subalterne, nicht europäische Geschichten spielen können. Lassen sich solche subalternen Geschichten auch innerhalb der Gesellschaften des globalen Nordens finden?
Die Frage nach der Befreiung aus der Logik hegemonialer politischer und diskursiver Formationen stellt sich auch für die Repräsentation von Geschichte in Geschichtsschreibung und Erinnerung. Vergangenheit und Zukunft zugleich verschwinden in einer medial verabsolutierten Gegenwart immer mehr aus dem Bewusstsein. Wie Walter Benjamin bemerkte, war auch die geschriebene und erinnerte Geschichte zumeist diejenige der Sieger dieser Geschichte. Doch es gab immer auch Gegengeschichten, die diesen hegemonialen Blick infrage stellten. Michel-Rolph Trouillot hat eine dieser Gegengeschichten am Beispiel der Haitianischen Revolution nachgezeichnet und zugleich aufgezeigt, wie diese Gegengeschichten zum Schweigen gebracht wurden. Wie lässt sich ein Begriff der Geschichte formulieren, der sie wieder zum Vorschein bringt und vielleicht sogar zur Basis einer anderen, wirklichen Geschichte macht? Wie müssen wir Geschichte verstehen, damit es eine Zukunft gibt?
Gespräch mit:
Jule Govrin Autorin