Überlegungen zu einer anderen Zeitkultur
Martin Held
Abstract
Die Entwicklung zur Nonstopp
Gesellschaft hat ihren Preis. Die individuellen Ambivalenzen sind Teil
dieses Preises. Aber auch für die äußere Natur hat diese
Entwicklung Folgen (z.B. pausenlose Beschleunigung).
Demgegenüber setzt
der Autor auf eine stärkere Beachtung der Rhythmen und Eigenzeiten,
um zu einer veränderten Zeitkultur zu gelangen. Die Anerkennung von
Raum und Zeit als Grundbedingungen des Lebens spielt dabei eine große
Rolle. Der Autor plädiert für eine erhöhte Aufmerksamkeit
gegenüber kulturellen Praktiken, die die natürlichen Zeitrhythmen
begleiten. Die Vielfalt der Zeitformen werden so offensichtlich. Sie muß
in einer anderen Zeitkultur gepflegt werden. Weitere Aspekte dieser Zeitkultur
sind, Zeit nicht als Mittel zum Zweck zu betrachten, die Eigenwilligkeit
von Rhythmen und Eigenzeiten zu nutzen und die sozio-ökonomischen
Bereiche der Produktion und Reproduktion individuell und gesellschaftlich
gleichermaßen zu gewichten.
Alles zu seiner Zeit
und an seinem Ort
Überlegungen zu
einer anderen Zeitkultur
Dieser Beitrag erschien in überarbeiteter und erweiterter Form: Martin Held und Klaus Kümmerer: "Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort. Eine andere Zeitkultur als Perspektive". In: Barbara Adam et al. (Hg.) (1998): Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis. Vom Zeitmißbrauch zur Zeitkultur. Stuttgart/Leipzig: Hirzel 1998, 239-257. Wir danken der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und der Schweisfurth-Stiftung für die Förderung. Weitere Überlegungen dazu finden sich in Politische Ökologie November/Dezember 1998, Schwerpunkt Ökologie der Zeit.
1. Ökologie der Zeit
"Warum der Montag kein Sonntag ist - Arbeiten im Rhythmus der Zeit" - so hieß eine meiner Tutzinger Tagungen im bewegten Herbst 1989. Diese Veranstaltung brachte mich auf die Idee, daß eine "Ökologie der Zeit" an der Zeit ist. Zusammen mit dem Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler initiierte ich zu Beginn der 90er Jahre das Tutzinger Projekt "Ökologie der Zeit". Dabei gingen wir von folgender Grundthese aus:
"Die Zeitdimension hat für das Verständnis der Stellung des Menschen in der Natur und der von ihm geschaffenen Kultur (einschließlich Technik und Wirtschaft) eine zentrale Bedeutung. Die ökologische Krise ist dadurch mitverursacht, daß dies bisher nur unzureichend beachtet wird. Die Einbeziehung dieser Dimension in alle ökologisch relevanten Zusammenhänge wird uns einen wichtigen Schritt voranbringen, um dieser Krise zu begegnen. Dies gilt sowohl für die innere Natur des Menschen als auch für die äußere Natur."1
Inzwischen sind wir mit einer erweiterten Projektgruppe, zusätzlich mit Barbara Adam, Klaus Kümmerer und Manuel Schneider sowie einer Vielzahl weiterer Personen ein Stück des Wegs auf der Suche nach den angemessenen Zeitmaßen gegangen.2 Einen kleinen Ausschnitt davon will ich im Folgenden vorstellen.
2. Immer und überall
Die Tendenz zur Beschleunigung
und Hochgeschwindigkeit und die Tendenz zur Ruhelosigkeit und Pausenlosigkeit
gehören zusammen. Gemeinsam ermöglichen sie den Abschied
von der biblischen Maxime "Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort".3
An deren Stelle tritt das Motto: "Alles zu jeder Zeit und überall";
und dies sofort und möglichst beliebig oft.
Die neuen Möglichkeiten,
die die Entwicklung zur Nonstop-Gesellschaft forcieren, sind attraktiv.
Auch wenn die Vorteile nicht gleich verteilt sind, sind sie doch so allgegenwärtig,
daß sie die ganze Gesellschaft erfaßen und prägen.
Die Entwicklung zur Nonstop-Gesellschaft
wird zugleich vielfach zwiespältig erlebt. In der Formulierung
des "gehetzten Zeitsparers"4 ist das
auf den Punkt gebracht. Plastisch wird die damit einhergehende Ambivalenz
am Beispiel jenes Geräts, das als Symbol für das "Immer und Überall"
gelten kann, dem Handy: Einerseits verspricht es uns, immer und überall
erreichbar zu sein und andere erreichen zu können. Und doch möchten
wir die Ruhe haben, auch einmal abschalten können.
In unterschiedlichen Zugängen
und an beispielhaften Bereichen wird in den Beiträgen unserer Publikation
"Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis. Vom Zeitmißbrauch zur
Zeitkultur"5 beschrieben, daß die
individuellen Ambivalenzen Teil des Preises sind, der für die
Nonstop-Gesellschaft zu zahlen ist. Dieser betrifft uns Menschen ebenso
wie die anderen mit uns auf diesem Planeten existierenden Lebewesen, dies
betrifft die Ökosysteme und die nach uns lebenden Generationen.
Welche Konsequenzen
sind aus dem Zeitmißbrauch und aus dem Preis, der dafür zu zahlen
ist, zu ziehen?
3. Anpassung an den Trend
Naheliegend ist der Versuch, die Vorteile der Nonstop-Gesellschaft zu erhalten und gleichzeitig durch technisch-organisatorische Maßnahmen zu versuchen, den dafür zu zahlenden Preis zu vermeiden. Mit der Publikation von Moore-Ede "Die Nonstop-Gesellschaft. Risikofaktoren und Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit in der 24-Stunden-Welt"6 liegt eine Arbeit vor, die die Konsequenz der bisher vorherrschenden industriegesellschaftlichen Entwicklungsdynamik mit dieser Zielrichtung klar formuliert und ausarbeitet.
In diesem Buch wird deutlich,
daß eine reine Anpassung an den Trend zur Nonstop-Gesellschaft
nicht aufgehen kann. Andauernde Beschleunigung und hohe Geschwindigkeiten
ohne Pausen, eine Hochschätzung der Aktivität bei gleichzeitiger
Abwertung der "unproduktiven" Pausen als (noch) nicht effizient genutzte
Zeitressourcen, führen zu Problemen. Diese sind beispielsweise für
die Folgen langjähriger Wechselschichten geläufig, gehen aber
weit darüber hinaus. Der Preis ist nicht auf "einfache Weise" wegzuzaubern.
Was für die Konsequenzen
der Nonstop-Gesellschaft für die menschlichen Rhythmen (innere Natur)
gilt, ist in den Folgen für die äußere Natur vergleichbar.
Auch sie soll, wo immer möglich an den Erfordernissen von Ökonomie
und Technik ausgerichtet werden, ohne daß ihre Zeiten dabei Beachtung
finden. Beispiele sind unser Umgang mit Rohstoffen und die Industrialisierung
der Landwirtschaft mir ihren Monokulturen.7 Andere
Beispiele sind die Versuche, die Fließgewässer zu begradigen
und die jahreszeitlichen Rhythmen zu überdecken. Umso stärker
schlagen die Hochwasser aus.
4. Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort
Aus den Folgen des Zeitmißbrauchs
durch pausenlose Beschleunigung und hohe Geschwindigkeiten leiten wir als
Konsequenz im Projekt "Ökologie der Zeit" ab:
Es ist ein Umgang mit Zeit
zu präferieren, bei dem Rhythmen und Eigenzeiten stärker beachtet
werden.
Ohne dies an dieser Stelle
ausführlich vorstellen zu können,8
sei doch zumindest eine kurze Zusammenfassung angefügt: Das Leben
ist rhythmisch. Diese Erkenntnis ist grundlegend. Sie hat eine große
Tragweite. Die Rhythmen sind durch Variation und Flexibilität gekennzeichnet.
Nicht die Wiederkehr des Gleichen, wie in dem Bild von der "ewigen
Wiederkehr der Kreisläufe" unterstellt, sondern die Wiederkehr
des Ähnlichen, ist ihr Kennzeichen. Gerade die Vielfalt und Schwankungsbreite
von Rhythmen ermöglichen es, Änderungen in Umgebungsbedingungen
elastisch abzupuffern. Die Rhythmen geben uns Menschen Freiheitsgrade,
d.h., Elastizitäten im Umgang mit der Zeit. Diese sind
die Voraussetzung dafür, daß wir z.B. über Zeit-Zonen
hinweg fliegen, nachts arbeiten und feiern und auch in der dunkleren Jahreszeit
das hohe Aktivitätsniveau aufrechterhalten können.
In der Entwicklung der Nonstop-Gesellschaft
nutzen wir die damit gegebenen Freiheitsgrade (zumeist unbewußt),
ohne die Rhythmik ansonsten angemessen zu beachten. Das Überspielen
der Rhythmen ist jedoch nicht grenzenlos möglich, und es bleibt nicht
folgenlos. Überstrapazieren wir die Freiheitsgrade, nimmt der Preis
für die Mißachtung der Rhythmen bei zu starker Inanspruchnahme
("Überdehnung") der Elastizitäten schnell zu, bis hin zum irreversiblen
Bruch.
Die Nonstop-Gesellschaft
ist Teil der Postmoderne, die für die Zeitgestaltung weitgehende individuelle
Autonomie verheißt. Als Reaktion auf die Einengungen durch den (Maschinen-)Takt
wirkt die Flexibilisierung von Zeiten befreiend. Die damit geweckte Hoffnung
auf Freiheit der Zeitgestaltung des Lebens deckt sich mit dem Motto des
"Alles immer überall sofort beliebig lange verfügbar zu haben".
Die Werbung insbesondere für Kommunikations- und Informationstechniken
nährt diese Hoffnung derzeit besonders stark. Ein Beispiel war vor
kurzem in einer Anzeige einer Software-Firma in der Süddeutschen Zeitung
zu lesen ‘One document ... one business ... one world ... alles ... überall
... jederzeit.’9 Maßlose Freiheit erweckt
jedoch unerfüllbare Hoffnungen. Die Grundrhythmik der je eigenen Zeiten
wird dabei nicht beachtet. Orientierungslosigkeit und Enttäuschung
sind die Folgen. Das Verständnis für und die Anerkennung der
Eigenzeiten von Menschen ebenso wie von anderen Lebewesen bis hin
zu Flüssen, Landschaften etc. ist die Perspektive. Interessant ist
auch, daß die Deutsche Börse AG die Umstellung auf den Euro
dazu nutzen will, fast alle Feiertage für ihre Geschäfte mit
dem Argument abzuschaffen, daß nur die Feiertage in Zukunft noch
gültig sein könnten, die in aller Teilnehmerstaaten gemeinsam
gültig seien - in diesem Fall nur der erste Weihnachtsfeiertag und
der Neujahrstag. Eine rein "technische" Währungsumstellung wird auf
kaltem Wege dazu genutzt, die Pausenlosigkeit in ihr Extrem voranzutreiben.
Zugleich erleben wir, wie dieses Ideal die Länder Südostasiens
in die wirtschaftliche Krise getrieben hat. Eine im wahren Wortsinn merk-würdiges
Unterfangen.
Hinzu kommt, daß die
Vorstellung der völlig freien Zeitgestaltung in der Realität
im Gegenteil dazu eine Eingrenzung auf eine eindimensionale Form des Zeitverständnisses
abstrakter Zeitmaße voraussetzt. Entgegen dem Anspruch auf Zeitfreiheit
gelten nur die Uhren-/Kalenderzeit und nur die Zeitlogik
der Pausenlosigkeit, Beschleunigung und hohen Geschwindigkeiten. Damit
werden die Realisierungschancen für einen anderen Umgang mit Zeiten
eingeengt.
Zusammenfassend
läßt sich unsere Antwort so beschreiben:
Zur Überwindung der Probleme der permanenten Hochgeschwindigkeits-
und Beschleunigungsgesellschaft kann die Orientierung an Rhythmen und Eigenzeiten
die Richtung angeben. Dies schließt die kluge Nutzung der Elastizitäten
und Freiheitsgrade ein. Nicht das "Immer und überall", sondern die
Maxime des Predigers Salomo "Alles zu seiner Zeit und an seinem Ort" können
Orientierung für unseren Umgang mit Zeiten geben.
5. Kein Zurück
Klingt das bisher Ausgeführte
nicht zu sehr nach nostalgischem Zurück zu den "guten alten
Zeiten"? Dies ist eine naheliegende Reaktion, die ein grundlegendes Mißverständnis
offenlegt. Unsere aktuelle Situation wird mit einer derartigen Sichtweise
verkannt und noch nicht angemessen verstanden.
In unserem Umgang mit den
Zeiten geht es nicht um ein "Zurück", sondern um die Bewältigung
einer historisch völlig neuartigen, sich erstmalig stellenden Aufgabe!
Wenn die Zeitmaße
der Natur vor der industriellen Revolution weitgehend eingehalten wurden,
so geschah dies deshalb, weil es gar nicht anders möglich war.
Wenn der Tag-Nacht-Rhythmus ebenso wie die Jahreszeiten für alle Lebensbereiche
prägend waren, so war dies eine Vorgabe ohne Alternative. Zwar gab
es bereits vor der industriellen Revolution Techniken, die die Bindungen
an die Rhythmen lockerten (z.B. einfache Arten von Beleuchtungen). Diese
"Lockerungen" von den Vorgaben bewegten sich im Vergleich zur sprunghaften
Überschreitung der bis dahin gültigen Grenzen zu Beginn der industriellen
Revolution in ganz bescheidenem Ausmaß und sie entwickelten sich
in vergleichsweise langen Zeiträumen. Wir leben heute in doppelter
Weise in einer völlig anders gearteten Welt:
(1) Wir haben die künstliche Beleuchtung; weit höhere Geschwindigkeiten als die durch Mensch und Tier vorgegebenen sind möglich; Maschinen aller Art (weit über den "Türöffner" der industriellen Revolution, die Dampfmaschine hinaus) ermöglichen Veränderungen in Landschaft, Architektur, Stoffwandlung etc. in weitreichender Art und Weise. Wenn wir heute Rhythmen und Eigenzeiten zu beachten suchen, dann bedeutet dies deshalb etwas völlig anderes: Es steht an - individuell, gesellschaftlich, wirtschaftlich ... - zu lernen, mit diesen Möglichkeiten umzugehen; sie zu nutzen, ohne der Illusion anheimzufallen, wir könnten Rhythmen und Eigenzeiten als solche "außer Kraft setzen".
(2) Die derzeit vorherrschende
Art, wie wir die Möglichkeiten der zeitlichen Freiheitsgrade nutzen,
ist nur befristet zu verwirklichen. Es ist eine Form von "Zeitdiebstahl".
Der Verbrauch der in geologischen Zeiträumen gewachsenen Kohlenstoffdepots
im Zeitraum von wenigen Lebensaltern ist nur noch im Rahmen einiger Generationen
möglich.10
In historischen Zeitskalen
gedacht, ist das atemberaubend schnell. Es steht damit in den vor uns liegenden
Generationen die Aufgabe an, die Möglichkeiten der Mobilität,
der künstlichen Beleuchtung und all der anderen Voraussetzungen unseres
Lebensstils auf eine langfristig tragfähige Grundlage zu stellen.
Bis zur industriellen Revolution waren die Menschen weitgehend an die Vorgaben der Naturzeiten gebunden. Zwischenzeitlich wurden mit technischen Mitteln Möglichkeiten geschaffen, darüber hinauszugehen. Zu lernen ist, mit diesen Möglichkeiten angemessen umzugehen.
6. Perspektive: Eine andere Zeitkultur
Gehen wir von unserer heutigen
neuartigen Situation aus und fragen: Wie können wir gesellschaftlich
in allen Lebensbereichen lernen, mit den neuen zeitlichen Möglichkeiten
in einer Welt der Rhythmik und Eigenzeiten umzugehen? Welche konkreten
Umsetzungsschritte sind dazu notwendig?
Die derzeit noch vorherrschende,
implizite Zeitpolitik ist auf die möglichst vollständige Kontrolle
der Zeiten ausgerichtet. Demgegenüber schlagen wir eine Orientierung
am Leitbild der öko-sozialen Zeitpolitik vor.11
Die Zeitpolitik wird dabei als Teil der umfassenderen Zeitkultur
verstanden, die ebenso den Wirtschaftsbereich, die Gesellschaft und
andere Bereiche prägt. Eine gegenüber der "Zeitkultur" der Nonstop-Gesellschaft
veränderte Zeitkultur, bei der die Rhythmen und Eigenzeiten beachtet
werden, kann eine Perspektive für die einzuschlagende Richtung geben.
Wichtig ist dabei, daß
die anstehende Umorientierung nicht als sozio-technisch machbare und gestaltbare
Aufgabe mißverstanden wird. Vielmehr wird aus den Erkenntnissen über
Rhythmen und Eigenzeiten als ein wichtiges Ergebnis gefolgert, daß
die Vorstellung der vollständigen Kontrollierbarkeit von Zeiten notwendigerweise
zu problematischen Folgen führt. Die Idee einer umfassenden Gestaltbarkeit
der Zeiten ist Teil der Problematik. Weiterführend ist es, sich mit
den Bedingungen der Möglichkeiten zu befassen, die für eine andere
Zeitkultur förderlich sind.
Eine andere Zeitkultur ist ein großes Wort. Sie bezeichnet Entwicklungen, die über lange Zeiträume vor sich gehen werden. Was ich im Folgenden deshalb nur mache: Ich stelle stelle einige Überlegungen für den Übergang in Richtung einer anderen Zeitkultur vor, die die Diskussion über die Toblacher Thesen "Langsamer, weniger, besser, schöner, näher" anregen und weiterbringen sollen. "Die Zehn Gebote" von Karlheinz Geißler zur Zeitkultur in Firmen können hierzu ergänzend und einzelne Aspekte illustrierend gelesen werden.12
7. Aspekte einer anderen Zeitkultur
"Wieder werden sich Menschen
von Raum und Zeit befreien." - "KontoDirekt: Befreien Sie sich von Raum
und Zeit"13 In diesen Formulierungen,
wie Sie in teuren Anzeigen für Telebanking und Bankcard verbreitet
werden, wird die vorherrschende Auffassung von Raum und Zeit unmißverständlich
auf den Punkt gebracht: Raum und Zeit werden als lästiges Hindernis
angesehen, das dem beliebigen Austausch von Informationen und dem ungehinderten
Austausch von Menschen und Gütern im Wege steht. Zeit und Raum sind
in dieser Sichtweise Gegner, von denen die Menschen sich zu befreien haben.
Telebanking - "24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche", wie die Anzeige fortfährt
oder auch die Bankcard für rund-um-die-Uhr Bankgeschäfte - sind
in diesem Verständnis Mittel, uns diesem "Sieg" näher zu bringen.
Wir Menschen leben jedoch
- wie alle anderen Lebewesen - in Raum und Zeit. Diese "begrenzen" uns,
so wie etwa die Schwerkraft unser Leben bestimmt. Zeit und Raum sind die
Voraussetzung des Lebens, ihr Bedingungsrahmen. Im Verlauf der Evolution
wurden uns Rhythmen eingeprägt. Jedes Kind, das auf die Welt kommt,
hat diese auch heute noch in sich; sie sind zusammen mit den äußeren
Zeitgebern wie zu allen Zeiten wirksam.
(1) Raum und Zeit sind Grundbedingungen unseres Lebens. Dagegen nicht anzukämpfen, sondern dies anzuerkennen, ist ein wichtiger Aspekt einer anderen Zeitkultur.
Am Beginn der Kultur stand
die Agrikultur, die gezielte Nutzung der Natur in der Landwirtschaft.14
Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Kultur immer weiter von ihren Grundlagen
weg, bis dahin, daß "Kultur" und "Natur" im Laufe der Zeit als
Gegensatzpaar aufgefaßt wurden. Dies gilt auch für die Zeitvorstellungen:
Lange Zeit wurde die Natur als statisch, d.h. geschichtslos, angesehen.
Ihr wurde die Kultur als geschichtliches Phänomen gegenübergestellt.15
Demgegenüber bleibt festzuhalten: Wir Menschen haben "eine Doppelnatur":
Wir sind und bleiben biologische Wesen; die natürlichen Rhythmen in
uns und die äußeren Zeitgeber sind nach wie vor wirksam.16
Und zwar, wie ausgeführt, einschließlich der uns gegebenen zeitlichen
Freiheitsgrade als ein wesentliches Merkmal der Rhythmen. Zugleich werden
die Zeiten in starkem Maße kulturell überformt und geprägt.
In einer anderen Zeitkultur
können wir von diesem Wechselspiel der natürlichen und kulturellen
Zeiten ausgehen. Dann ist es gut möglich, die Rhythmen von Tag und
Nacht, der Mondphasen und Jahreszeiten über die besonderen Zeiten
wie Urlaub hinausgehend auch im Alltäglichen zu erleben und als wichtigen
Teil des Alltags zu begreifen. Und zugleich können wir diese natürlichen
Rhyhtmen in ihren kulturellen Ausformungen leben. Beispiele hierfür
sind an das Klima und Jahreszeiten angepaßte Siesta-Zeiten,
die britische tea time ebens owie die jahreszeitlich geprägten
Traditionen in Gegenden des Monsunregens und der nördlichen Breitengrade
mit ihrem Wechsel der langen und kurzen Nächte. Nicht überall
das Gleiche uniform ("Alles zu jeder Zeit und überall"), sondern den
Bedingungen gemäß zu leben ("Alles zu seiner Zeit und an seinem
Ort"), dafür stehen diese Beispiele.
Wir haben deshalb nicht
die Uhren abzuschaffen und die Kalender zu vernichten. Worum es geht ist,
die gesellschaftlich definierte Zeit der Uhren und Kalender nicht als die
einzige Art der Zeit monopolartig, alle anderen Zeiten dominierend mißzuverstehen.17
(2) Die Zeiten der Natur
einschließlich unserer eigenen, inneren Natur besser zu verstehen
und zugleich die Kultur als bewußt gepflegtes, nicht einfach "naturwüchsiges"
auch in unserem Umgang mit Zeiten zu begreifen, ist eine weitere Voraussetzung
für die Entwicklung einer anderen Zeitkultur.
Nicht eine "Monokultur"
(wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von "Kultur" im eigentlichen
Wortsinn sprechen kann), die ausschließlich weitere Beschleunigung,
hohe Geschwindkeiten und Pausenlosigkeit gelten läßt, sondern
die Pluralität vielfältigster Zeitformen ist ein weiteres wichtiges
Element einer anderen Zeitkultur:18
(3) Die Vielfalt von Zeitformen zu ermöglichen und zu pflegen, ist ein weiterer Aspekt einer anderen Zeitkultur.
Die Vielfalt der Zeitformen
berührt unmittelbar einen weiteren Gesichtspunkt. Zeiten können
ihre eigene Wertigkeit haben. Demgegenüber wird in der Logik
der Nonstop-Gesellschaft Zeit ausschließlich instrumentell
als Mittel zum Erreichen von Zwecken angesehen. Deshalb ist die Vielfalt
der Zeitformen ständig gefährdet, da Zeit nur noch als Ressource
gesehen wird.
Arbeit kann demgegenüber
auch Freude in sich bergen. Wir haben nicht zwangsläufig mehr von
unserer "Freizeit", wenn wir immer noch mehr "zeitsparende" Geräte
im Sinne dieser rein instrumentellen Sicht einsetzen. Vielmehr ist es wichtig
zu beachten, daß Aktivitäten in sich selbst als positiv erlebt
werden können (Unterschied zwischen intrinsischer und extrinsischer
Motivation). Wenn wir beispielsweise für das Spielen mit Kindern statt
eines ganzen Nachmittags nur mehr die Hälfte der Zeit "aufwenden",
sind wir damit nicht automatisch "doppelt so effizient". Zugleich ist klar,
daß wir - wie übrigens zu allen Zeiten, nicht erst seit der
Moderne - mit der Zeit zu haushalten haben. Hierzu sind die Arbeiten zum
Konzept des Zeitwohlstands21 wichtig.
Zeitwohlstand wird in Zukunft als Bestandteil einer Vorstellung vom guten
Leben gelten.
(4) Ein weiterer Aspekt einer andern Zeitkultur ist es, Zeiten nicht nur als Mittel zum Zweck zu verstehen, sondern die eigenen Wertigkeiten von Zeiten und Zeitformen zu achten und zu nutzen.
Eine wesentliche Voraussetzung der Nonstop-Gesellschaft sind die zeitlichen Elastizitäten. Das Wesen einer anderen Zeitkultur besteht nicht im Leugnen der Elastizitäten und Freiheitsgrade, sondern in deren kluger Nutzung, die ihre Grenzen versteht und beachtet. In diesem Sinne weiß eine Zeitkultur, die sich an Rhythmen und Eigenzeiten orientiert, deren Freiheitsgrade und Elastizitäten zu beachten und zu nutzen. Freude am Leben und an der Vielfalt der Rhythmen des Lebens ist eines ihrer Kennzeichen.
Eigenzeiten gemäß zu leben bedeutet nicht, den sozialen Zusammenhang des Lebens zu negieren. Dies ist vielmehr eher ein Zeichen für eine gestörte ("autistische") Entwicklung, die autonome selbstbestimmte Individualität nicht gelingen läßt. Die kulturelle Zeitordnung sollte so weiterentwickelt werden, daß sie Raum für Eigenzeiten gibt und den sozialen Zusammenhang fördert.
(5) Zeitkultur beinhaltet auch, die Freiheitsgrade der Rhythmen und Eigenzeiten zu nutzen, ohne sie zu überdehnen.
In der veränderten Sicht
einer anderen Zeitkultur können wir über uns selbst hinaus sehen
und uns im Zusammenhang des Lebens begreifen. Leben wächst und vergeht,
neues entsteht in der Kette des Lebens. Das hat weitreichende Konsequenzen
für den Zusammenhang von Produktion und Reproduktion.
Das Auseinanderreißen von Produktion und Reproduktion hat zur Folge,
daß Zeiten der Ruhe, Zeiten für das neue Leben (die Kinder)
etc. nicht in ihrer Bedeutung für die zukünftige Produktion verstanden
werden,22 ebenso wie die Eigenwertigkeiten
von Zeiten nicht beachtet werden.
Ein neues Verständnis
für den Zusammenhang des Lebens, für Produktion und Reproduktion
wird auch auf die Verdrängung unserer Endlichkeit und den Tod rückwirken,
die so eng mit der Nonstop-Gesellschaft verknüpft ist.
(6) Der Zusammenhang von Produktion und Reproduktion in der Kette des Lebens findet in einer anderen Zeitkultur neue Beachtung.
Dies sind nur einige der Aspekte, die für eine andere Zeitkultur wichtig sind. Viele weitere Beispiele wären zur konkreten Illustrierung anzuführen. Das Wichtigste aber, das sinnliche Erleben und Begreifen, ist nicht in einem Aufsatz zu beschreiben, sondern dies ist zu leben. Deshalb haben wir in unseren Zeitakademien künstlerische Zugänge ebenso wie Einheiten für Zeit-Erleben, Filme ebenso wie Musik und Meditation. Das Erleben des Atemrhythmus kann uns beispielsweise eine Ahnung davon geben, daß wir in all unseren technischen Möglichkeiten der Beschleunigung in die Rhythmen des Wachsens und Vergehens in die Natur und die Kette menschlichen Lebens eingebettet bleiben. Ent-sinnlichung ist nicht nur dem Wortverständnis nach in der Nähe von "ohne Sinn". Rhythmen, Eigenzeiten und die Vielfalt der Zeiten bewußt erleben, kann Sinnorientierung geben.
Zusammenfassend: Eine andere Zeitkultur steht an - Rhythmen, Eigenzeiten und Vielfalt von Zeitformen. Angemessene Geschwindigkeiten und die Beachtung des rechten Zeitmaßes (kairos) sind Teil davon.
Literatur und Anmerkungen
Diesen Text und mehr finden Sie in "Politische Ökologie", Ausgabe
Januar/Februar 1999, "Von der Zeitnot zum Zeitwohlstand. Auf der Suche
nach den rechten Zeitmaßen."
1 Geißler, Kh. und Held, M.(1995): Grundbegriffe zur Ökologie der Zeit. In: Geißler, Kh. und Held, M. (Hg.): Von Rhythmen und Eigenzeiten. Perspektiven einer Ökologie der Zeit. Stuttgart, S. 194.
2 Held, M. und Geißler, Kh. (Hg.) (1993): Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. Stuttgart; Held, M. und Geißler, Kh. (Hg.) (1995): Von Rhythmen und Eigenzeiten. Stuttgart; Schneider, M. et al. (Hg.) (1995): Zeit-Fraß. Zur Ökologie der Landwirtschaft und Ernährung. Sonderheft 8 Politische Ökologie. München; Tutzinger Projekt "Ökologie der Zeit": Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. Schriftenreihe zur politischen Ökologie 7. München: ökom Verlag; Zeitschrift Politische Ökologie November/Dezember 1998, mit Themenschwerpunkt Ökologie der Zeit; Zeitschrift Widerspruch Ausgabe im Frühjahr 1999; Schneider, M. und Geißler, Kh.A. (Hg.) (1999): Flimmernde Zeiten. Zeitökologische Zugänge in die postmoderne Mediengesellschaft. Stuttgart/Leipzig: Hirzel.
3 Prediger Salomo, Kapitel 3; sinngemäß erweitert um die räumliche Dimension.
4 Linder, St. B. (1971): Das Linder-Axiom oder warum wir keine Zeit mehr haben. Gütersloh (Orig.: The Harried Leisure Class. New York/London 1970).
5 Adam, B. et al. (Hg.) (1998): Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis. Vom Zeitmißbrauch zur Zeitkultur. Stuttgart/Leipzig: Hirzel.
6 Moore-Ede, M. (1993): Die Nonstop-Gesellschaft. Risikofaktoren und Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit in der 24-Stunden-Welt. München (Orig.: The 24-Hour Society. Understanding Human Limits in a World that Never Stops. New York 1993).
7 Kümmerer, K. (1997): Die Vernachlässigung der Zeit in den Umweltwissenschaften. Beispiele-Folgen-Perspektiven. UWSF 9 (1), S. 49-54; Kümmerer, K. und Held, M. (1997): Die Umweltwissenschaften im Kontext von Zeit: Begriffe unter dem Aspekt der Zeit. UWSF 9 (3), S. 169-178; Kümmerer, K. und Held, M. (1997): Die Vielfalt der Zeit in den Umweltwissenschaften: Herausforderung und Hilfe. UWSF.
8 Held, M. und Geißler, Kh.A. (Hg.) (1995): Von Rhythmen und Eigenzeiten. Perspektiven einer Ökologie der Zeit. Stuttgart; Nowotny, H. (1993): Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main.
9 Süddeutsche Zeitung, Nr. 218, S. 34, 22. September 1998.
10 Zur Kontrolle der Zeiten und Vertaktung als weitere wichtige Momente neben Beschleunigung/Hochgeschwindigkeit und Pausenlosigkeit siehe Geißler, Kh. und Held, M. (1995): Grundbegriffe zur Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. In: Held, M. und Geißler, Kh. (Hg.): Von Rhythmen und Eigenzeiten. Stuttgart, S. 193-208.
11 Hofmeister, S. und Spitzner, M. (Hg.) (1999 in Vorbereitung): Zeitlandschaften: Perspektiven öko-sozialer Zeitpolitik. Stuttgart/Leipzig: Hirzel.
12 Wirtschaftswoche 17.4. 1997, Heft 17, S. 108-119; Geißler, Kh. A. (1998): Tempolimit für die Nonstop-Gesellschaft. Über eine neue Kultur der Zeitvielfalt. In: Natur + Umwelt BNMagazin 4/98, 7-15; Held, M. (1998): Perspektiven der nachhaltigen Entwicklung. Eine neue Pluralität der Lebensstile und eine Vielfalt von Zeitformen praktizieren. Das Parlament Nr. 46-47, 6./13. November 1998, S. 19.
13 In überregionalen Blättern gedruckte Anzeige; Süddeutsche Zeitung, 22. September 1995; Prospekt der Volksbank Raiffeisenbank 1998.
14 Kümmerer, K. et al. (Hg.) (1997): Bodenlos. Zum nachhaltigen Umgang mit Böden. Sonderheft 10 Politische Ökologie. München.
15 Adam, B. (1990): Time & Social Theory. Cambridge.
16 Endres, K.-P. und Schad, W.(1997): Biologie des Mondes. Mondperiodik und Lebensrhythmen. Stuttgart/Leipzig, S. 131ff..
17 Westlund, I. (1998): Kinderzeiten. Zeitdisziplin und Nonstop-Gesellschaft aus der Sicht der Kinder. In: Adam, B. et al. (Hg.): Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis. Stuttgart/Leipzig; Adam, B. (1995): Timewatch. The Social Analysis of Time. Cambridge.
18 Geißler, Kh.A. (1996): Zeit. Verweile doch, du bist so schön! Weinheim/Berlin; Ders. (1996): Eingestaubte Zeiten - Zur Produktivität diskriminierter Zeitformen. GAIA (5), no. 3-4, S. 183-186.
19 Aus der Fülle der Literatur siehe zu Wochenrhythmen Rinderspacher, J.P. et al. (Hg.) (1994): Die Welt am Wochenende. Entwicklungsperspektiven der Wochenruhetage. Bochum; zu Anfängen Geißler, Kh.A. (1997, 7. Auflage): Anfangssituationen. Was man tun und besser lassen sollte. Weinheim/Basel; auch ältere Veröffentlichungen sind interessant, etwa zu Pausen Klatt, F. (1923): Die schöpferische Pause. Jena.
20 Eigentlich ... - Zeit-Werkstatt Juni 1997, Nr. 1, Hude bei Bremen.
21 Scherhorn, G. (1995): Güterwohlstand versus Zeitwohlstand - Über die Unvereinbarkeit des materiellen und des immateriellen Produktivitätsbegriffs. In: Biervert, B. und Held, M. (Hg.): Zeit in der Ökonomik. Frankfurt am Main/New York, S. 147-168; Reisch, L. (1999): Güterwohlstand und Zeitwohlstand - Zur Ökonomie und Ökologie der Zeit. In: Hofmeister, S. und Spitzner, M. (Hg.): Zeitlandschaften. Perspektiven öko-sozialer Zeitpolitik. Stuttgart/Leipzig; Biervert, B. und Held, M. (1995): Time matters - Zeit in der Ökonomik und Ökonomik in der Zeit. In: Biervert, B. und Held, M. (Hg.): Zeit in der Ökonomik. Frankfurt am Main/New York, S. 7-32, hier S. 14ff.
22 Hofmeister, S. (1997): Von der Abfallwirtschaft zur ökologischen Stoffwirtschaft. Wege zu einer Ökonomie der Reproduktion. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Dr. Martin Held, Evangelische Akademie Tutzing, Schloßstraße 2+4, 82327 Tutzing; eat06@ev-akademie-tutzing.de
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