Zwischen Beschleunigungwahn und Zeitverzögerung.

Muster und Standards der Zeitgestaltung in unterschiedlichen Gesellschaften

Dieter Kramer

Abstrakt
Der Autor entwickelt entlang unsterschiedlichster Kultur-, Arbeits- und Freizeittheorien einen Begriff ganzheitlicher Lebenszeit, der die Individuen nicht bloß als Organisatoren von Arbeits- und Freizeit versteht, sondern deren Tätigkeiten vielmehr mit unterschiedlichen Zeitqualitäten mißt. Dadurch erst kann ein anderes Zeitmaß entstehen, welches weder einem vergangenen oder fernen Zeitmythos nachjagt noch dem Paradigma der moderernen Kontrolle folgt.
 

"Rasch und langsam leben. Das eine heißt, das Leben genießen, das zweite: sich die Gelegenheit zum Lebensgenuß erhalten, das Mittel mit dem Zweck erkaufen."

(Friedrich Hebbels Tagebücher, hg. v. Felix Bamberg. 2. Bd. Berlin 1887, S. 2 [19.8.1843])

1. Nichts neues unter der Sonne?

Eigentlich ist alles zum Umgang mit der Zeit bereits gesagt. Daß die Moderne unter einem Intensivierungs- und Modernisierungszwang steht, das ist seit der Krise der Jahrhundertwende Gemeingut (Paul Valery hat, wie Peter Sloterdijk belegt, eindrucksvolles dazu gesagt, vgl. Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt am Main 1989). Auch wie der Kapitalismus als entgrenzte Marktdynamik und als selbstzweckhafte entbettete Ökonomie den Zwang zum schnellen Geld, zum raschen Umschlag, zur Wertung "Zeit ist Geld" produzierte und mit der Entgrenzung der Bedürfnisse die Menschen sich unterwarf - das ist alles tausendmal abgehandelt.

Auch die Frage, ob der Kapitalismus allein dafür verantwortlich ist, oder ob, da sich z. B. der Sozialismus ja in der einholenden und überholenden Konkurrenz mit dem Kapitalismus auch ähnlichen Wachstums- und Beschleunigungszwängen unterwarf, so etwas wie ein kulturell inhärenter endogener westlicher Intensivierungszwang (den Valery am Wirken sah) das Wachstumsdilemma produzierte, ist oft genug diskutiert, wenn auch nicht entschieden.

Angesichts der Zeitlichkeit biologischer Prozesse, in die der Mensch eingebunden ist, gehört der Umgang mit Zeit (Lebenszeit) und gehören die dabei möglichen (kulturspezifischen) Prioritätensetzungen und Strukturen des Zeitmanagements zu den immer wieder neu gestellten und sozialkulturell zu bewältigenden Aufgaben. Lebenszeit des Menschen als kostbarstes Gut ist unterschiedlichen Nutzungen gewidmet.

Nicht nur biologische, sondern auch politische Prozesse haben ihre Zeitdimension und ihre Eigenzeit, wie der Verfassungsrechtler Peter Häberle zeigt (Peter Häberle: Zeit und Verfassungskultur. In: Die Zeit. Schriften der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, Bd. 6, hg. v. A.Peisl und A. Mohler, München 1983, S. 289 - 343).

Eine holistische Betrachtung der Lebensweise wird in der Kulturgeschichte unterschiedliche Verwendungsarten von individueller und (vor allem) gesellschaftlicher Zeitnutzung erkennen. Die für Kulte und Kommunikation verwendete soziale Zeit ist dabei für den instinktoffenen, zwecks Existenzsicherung auf Gemeinschaftsbildungen angewiesenen Menschen genauso unverzichtbar wie die der unmittelbaren Lebenssicherung gewidmete Zeit für Nahrungsbeschaffung usf.

Erst im Verlaufe der Sozialgeschichte differenziert sich - in verschiedenen Epochen, z. B. in der Antike, der Renaissance, der Industriegesellschaft auf unterschiedliche Weise - frei verfügbare Zeit für die Individuen heraus, für deren sozial anerkannte Inwertsetzung eine besondere Wertschätzung der Individualität Voraussetzung ist.

2. Arbeitszeit und Naturstoffwechsel

Zeit wird bei Marx und Engels analog zu den Modellbildungen der klassischen ökonomischen Theorie zunächst gesehen in ihrem Zusammenhang mit dem Naturstoffwechsel:

"Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum, hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab" Marx: Grundrisse der Kritik der Kritik der politischen Ökonomie, 89). "Die wirkliche Ökonomie -- Ersparung -- besteht in Ersparung von Arbeitszeit"; "freie Zeit" ist sowohl "Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit" (Marx a.a.O. S. 599), als auch "Raum zur menschlichen Entwicklung" (MEW 16, S. 144/145). "Auf Schaffen disponibler Zeit beruht die ganze Entwicklung des Reichtums." (Grundrisse, MEW 42, S. 312)

Gattungsgeschichtlich haben wir es keinesfalls mit einer kontinuierlichen Verminderung der Arbeitszeit zu tun, wie manche evolutionistischen Vorstellungen vermuten. Vielmehr ist mit außerordentlichen kulturspezifischen Unterschieden zu rechnen: Für Kulte und Kommunikation wandten gering arbeitsteilig organisierte Gesellschaften oft mehr der verfügbaren Zeit auf als komplexer organisierte (Dieter Groh: Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt/M.1992, 61ff.).

Vor der Industrialisierung war in allen Gewerben, auch wenn die Trennung von Arbeit und Freizeit nicht so deutlich war, die jährliche Arbeitszeit u.a. wegen zahlreicher Feiertage deutlich kürzer. "Der Arbeitsablauf, der in bäuerlich-handwerklich bestimmten Gesellschaften sowohl durch die natürlichen Rhythmen des Jahres als auch durch die naturwüchsigen Perioden der traditionsfesten Zeremonien gegliedert war, geriet unter die Schablone der mechanisch eingeteilten Arbeitszeit" (Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 219-231, S. 220). Zwecks besserer Nutzung des fixen Kapitals durch die Verlängerung der Maschinenlaufzeiten haben Kapitalismus und Industrialismus die Arbeitszeit zunächst extrem ausgedehnt. Die Arbeitszeiten in der Frühindustrialisierung gelten als die längsten.

3. Zeit und Markt

Die Frage nach den tieferen Ursachen des Beschleunigungszwanges ist zunächst auch unerheblich - er wirkt und prägt unabhängig von seiner Entstehung den Umgang mit der Zeit (vgl. Weis, Kurt (Hg.): Was treibt die Zeit? Entwicklung und Herrschaft der Zeit in Wissenschaft, Technik und Religion [dtv 33021]).

Die Formel "Zeit ist Geld" hat ihre materielle Grundlage und Logik in den "Gesetzen" des Marktes und der Kapitalverwertung. Elmar Altvater hilft uns (in Anlehnung an Karl Marx), dies zu begreifen: "Ist erst Geld zur Ware geworden, kümmert die Zeit" (in ihrer üblichen Verlaufsform, müßten wir hinzusetzen) "nicht mehr. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch den Diskont auf die Dimension der Gegenwart und des Gegenwartswertes zusammengebracht. Insofern kennt der Markt die Zeit, er nimmt von ihr jedoch nur insofern Kenntnis, als Zeitunterschiede durch den Diskont auf einen Gegenwartswert gebracht werden. Im Marktverhältnis ist Zeit nicht gerichtet, sondern reversibel. Je höher der gegenwärtige Marktzinssatz (der Diskont), mit dem die erwarteten zukünftigen Erträge in den Gegenwartswert umgerechnet werden, desto weniger sind Ressourcenbestände `wert`, desto kürzer die zukünftige Frist, in der ein heute investierter Kapitalwert wieder 'hereinkommt`. ... Entscheidende und handelnde Wirtschaftssubjekte stehen 'auf dem Standpunkt' der Gegenwart und können gerade so weit blicken, wie es der Diskont erlaubt. Je höher der Zins, desto kurzsichtiger die Marktteilnehmer. Doch in der wirklichen Welt ist die Zeit gerichtet...." (Elmar Altvater: Die Zukunft des Marktes. Münster 1991, 80/81).

Diese Dynamik gilt unter Einschluß aller konfliktreichen Folgen, die sich daraus ergeben, z.B. bezogen auf Schadstoffe, auf sich erschöpfende Ressourcen usf. Bei Politikern wird der Diskont durch Legislatur- bzw. Amtsperioden ersetzt, aber Kurzsichtigkeit in ähnlicher Weise erzeugt.

Mit einer ganz anderen Zeitperspektive haben wir es in Gesellschaften zu tun, in denen der Vater einen Palmenhain anlegt, von dem er weiß, daß erst seine Enkel davon profitieren werden.

Zurück zur Ökonomie: Für eine Vielzahl von ökonomischen Prozessen in unserer Gesellschaft sind Zeitfaktoren nicht unerheblich. Je rascher Geld im monetären Kreislauf sich bewegt, desto besser ist dies für die Kapitalverwertung, denn Umverteilung von Reichtum und Kapital findet immer nur statt, wenn Geld den Besitzer wechselt. Der beste Konsument ist der schnelle Konsument. Diese Logik erhält den Zirkel von Erwerb und Konsum in Bewegung. Sie treibt Modezyklen an, ermutigt den moralischen Verschleiß der Produkte, motiviert zur Leistung als Mittel zum Erwerb der notwendigen Kaufkraft - kurz, sie trägt auf der gesellschaftlichen Ebene bei zu der Begrenzungs- oder Wachstumskrise, in der wir uns befinden.

4. Zeitstrukturen anderer Kulturen

Aber vielleicht läßt sich aus der Tiefe des historischen Raumes und der jahrtausendealten historischen Erfahrungen der Menschen noch einmal neu sensibilisieren für den Umgang mit Zeit in der Gegenwart. Über die Grundfragen der Philosophie und damit des Menschseins kann nicht zuletzt deswegen immer wieder neu gestritten werden, weil wegen ihrer Unentscheidbarkeit immer neue Akzentuierungen möglich sind. Kultur ist Kontingenz.

Daß es andere Zeitstrukturen gibt, das wissen wir längst. "Als vor einigen Jahren zwei italienische Psychologen die Lebensgewohnheiten von Südtiroler Bergbauern untersuchten, stellten sie erstaunt fest, daß diese nicht zwischen Arbeits- und Freizeit unterscheiden." (Schnabel, Ulrich: Die Last der Hast. In: Die Zeit v. 7. Mai 1998, 39/40). Die klugen Psychologen hätten nur einen Blick in die ethnologisch-anthropologische Literatur zu werfen brauchen, und sie wären nicht mehr erstaunt gewesen.

Zeit und Gesellschaft hängen zusammen: "Insofern lag der Gedanke nahe, daß die Zeitauffassung einer Gesellschaft grundlegend von ihrer Sozialorganisation her strukturiert sei: Tätigkeiten und Pflichten sind nach den Regeln der Arbeitsteilung immer Personen bestimmter Alters- und Statusgruppen, in einem Fall Frauen, im anderen Männern zugeordnet, sie wechseln bzw. wiederholen sich periodisch mit den Generationen, so daß gleichbleibende Distanzen etwa zwischen Geburt und Verehelichung, den Jagdausflügen der Männer und den Sammelzügen der Frauen, der Pubertät und der Aufnahme in den Ältestenrat, der Menarche und Heirat oder den Initiationen von Söhnen, Vätern und Großvätern bestehen. Zeit besaß so die Funktion, das Zusammenleben, vor allem das Ganze seiner Abfolgeprozesse zu regeln, um so den sozialen Beziehungen durch die sichere Absehbarkeit Verläßlichkeit und Stabilität, der Gruppe insgesamt Kontinuität zu verleihen. ... Die Tätigkeitskoordinationen und Handlungsabläufe innerhalb einer Gesellschaft reflektieren nicht Zeit (im Sinne Kants als transzendentale Bewußtseinskategorie a priori), sondern kreieren sie - ‘es ist der Rhythmus des sozialen Lebens, der die Grundlage der Kategorie Zeit bildet.’" (Klaus E. Müller: Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen. In Müller/Rüsen: Historische Sinnbildung. Reinbek b. Hamburg 1997, 224; vgl. 226 und zur Zyklik von Zeit ders., S. 229, 247).

Zyklizität der Zeit ist gemeinhin Kennzeichen wenig dynamischer (statischer) Gesellschaften, der klassischen Stammesgesellschaften der Ethnologen. Aber den Chinesen sind in ihrer Kulturgeschichte gleichzeitig die Zyklizität, die Linearität und die Spiralförmigkeit der Zeit wichtig und vorstellbar (A. Mittag in Müller/Rüsen 253, 263). Wichtig ist ihnen das "mit der Zeit gehen" /(256): Zu prüfen ist immer wieder die Zeit für richtiges, den Zeitumständen entsprechendes Handeln.

Erstaunlich ist, daß Menschen aus ganz unterschiedlichen Motiven zeitbesessen sein können. Uhren z.B. waren beim Kontakt anderer Gesellschaften mit den Europäern aus sehr verschiedenen Gründen interessant: In China interessierten sich die Herrscher für die genauen europäischen Uhren nicht nur wegen ihrer Mechanik, sondern wegen der Datierbesessenheit der chinesischen Kultur (Mittag in Müller/Rüsen 251/252). Die Muslime dagegen waren und sind zeit(technik)besessen wegen ihrer orthopraktischen Glaubenskonzeption: Um die Gebetszeiten bestimmen und einhalten zu können, sind ihnen genaue Uhren höchst nützlich (Weintritt in Müller/Rüsen 298, 301), und deswegen findet man heute noch in vielen Moscheen ältere Standuhren europäischer Herkunft.

Kontingenz deutet sich an: Es muß nicht so sein wie bei uns - mit Zeit kann man auch anders umgehen.

Wir erinnern uns der australischen Aborigines und ihrer vergleichsweise nur gering von Arbeit belasteten Zeiteinteilung (Dieter Groh: Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt/M.1992): Zwei bis drei Stunden Arbeit am Tag reichen aus für die Nahrungsbeschaffung. Wir denken an die Bauern von Átány in Ungarn, deren Zeitmanagement Edit Fél und Tamas Hofer detailliert beschrieben haben. Über die vorindustriell-handwerklichen städtischen Formen des Umgangs mit der Zeit hat Wolfgang Nahrstedt uns unterrichtet.

Zitieren läßt sich das Ideal des chinesischen Müßiggängers, wie Lin Yutang es beschrieben hat (vgl. Mittag in Müller/Rüsen 252), oder der Lebenswandel des Nagaraka im Kamasutram, dem (freilich wie in China in einer sozial geschichteten Gesellschaft) nach seinen Geschäften noch eine Menge Zeit für andere angenehme Beschäftigungen und für das Liebesspiel bleibt.

Andere Gesellschaften gehen bzw. gingen mit ihrem Zeitbudget anders um: Je besser der Ertrag der Arbeit, je weniger Zeit für produktive Tätigkeiten nötig war, desto mehr Zeit bleibt für Fest, Kultus, Spiel, soziale Rituale (Brautwerbung z.B., aber auch für Gemeindeversammlungen), wohl auch für den Streit (von der Stammesfehde bis zur Wirtshausschlägerei) - ja, desto mehr Zeit muß um der Reproduktion der bestehenden Ordnung willen mit unproduktiver Tätigkeit ausgefüllt werden; andernfalls leidet die Stabilität. Die Kultivierung des Liebesspiels im Kamasutram ist Teil der Zeitverwendung der prosperierenden Schichten einer Wohlstandsgesellschaft.

5. Zeit wird Konsumtion

All das sind Lebenssysteme mit "Eigenzeitanspruch", die sich nicht dem kapitalistischen Zeitregime unterwerfen. Aus der Erinnerung an solche anderen gesellschaftlichen Zeitsysteme heraus habe ich 1978, damals noch Freizeitplaner für die Stadt Frankfurt am Main, so provozierend wie vergeblich auf einem Kongreß von Freizeitpädagogen für die Abschaffung der Freizeit plädiert.

Gegen den Fetisch Arbeit, gegen den Zwang, sich nur in der Arbeit vergegenständlichen zu müssen, gegen den kapitalistischen und sozialistischen Arbeitszwang, gegen Ernst Jüngers pessimistische mythische Überhöhung des Arbeitszwanges in seinem Buch "Der Arbeiter" wird immer wieder das "Recht auf Faulheit" eingeklagt, zuletzt von den "glücklichen Arbeitslosen" des Jahres 1998. Einst hat Paul Lafargue, der Schwiergersohn von Karl Marx, mit einem Buch dieses Titels Furore gemacht (1883; eingeleitet und hg. von Iring Fetscher Frankfurt am Main 1966). Primär ist es eine satirische Kritik des industriegesellschaftlichen Zwanges zur Arbeit als Selbstzweck, und es stellt die Frage nach dem menschlichen Sinn des Wachstum produzierenden Fleißes.

Die Formel "Zeit ist Geld" wird in den modernen Prosperitätsgesellschaften abgelöst durch die Formel "Zeit ist Konsum" - sie hat dem Umlauf des Geldes zu dienen. Freizeit als gesellschaftlich bestimme Konsumzeit (Theodor W. Adorno: Freizeit. In: ders., Werke 10.2, 645-655) ist dabei aktuell mehr und mehr abgekoppelt von der Arbeitswelt und von der Reproduktion (prototypisch beim Urlaub: Ursprünglich und vom Gesetz her noch immer gebunden an die Funktion der Regeneration und Gesundheitsfürsorge, ist er de facto zu einer Zeit eigener Gesetzlichkeit und Dynamik geworden. fit for fun statt fit for life ist die Formel, mit der diese Akzentverlagerung beschrieben wird (Nahrstedt inSpektrum Freizeit 1-2/1997, 8); die Lifestyle-Magazine heizen den Prozeß an (vgl. freitag Nr. 3 v. 15.1.1999, S. 14).

Das Marketing für den Konsum und die Kulturindustrie sind es, die für die Formierung der Bedürfnisse sorgen - in der Interpretation von Theodor W. Adorno in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit benannt: Die Freizeit- und Kulturindustrie könnte die Menschen nicht dazu nötigen, ihre Produkte zu kaufen, "verlangte nicht etwas in den Menschen danach; aber deren eigenes Bedürfnis nach Freiheit wird funktionalisiert, vom Geschäft erweitert reproduziert; was sie wollen, nochmals ihnen aufgenötigt." (648).

Die Entgrenzung der Bedürfnisse durch effizientes Marketing für Konsumgüter, modische Lebensstile und ihre Kultivierung von Distinktionsbedürfnissen sind die konkrete Gestalt der Entfaltung des Beziehungsreichtums der Menschen unter den Bedingungen von Prosperität in der Marktgesellschaft. Auch die Orientierung an Lebensstilen des repräsentativen Konsums bedeutet eine permanente Steigerung jener der kapitalistischen "Leistungs"-Gesellschaft ohnehin immanenten Tendenz zum ressourcenvergeudenden Kampf um "positionelle Güter" (Fred Hirsch), der wenig beiträgt zur Entfaltung der Persönlichkeit.

6. Der Fetisch "Erlebnis" als Marketing-Instrument

Die Betriebsamkeit der modernen "Erlebnisgesellschaft" hat den "Erlebniseinkauf", den "Erlebnisurlaub", das Erlebnismuseum usf. produziert, und bei jedem Erlebnis hat die Kasse zu klingeln.

Auf die Erlebnisgesellschaft bezieht sich mittlerweile auch die Freizeitpädagogik: War sie einst angetreten, eine öffentliche Freizeitpolitik als Bestandteil einer notwendigen Infrastruktur aufzubauen, so ist ihr Schlüsselwort heute Erlebnis (Opaschowski in Spektrum Freizeit 1/1996, Erlebnispädagogik-Literatur a.a.O. 2/3-1996. 282, 283). Mit diesem Übergang zum neoliberalen Modell des schlanken Staates wird Freizeit völlig dem Markt ausgeliefert, und die Freizeitpädagogik biedert sich der Erlebnisindustrie an (Nahrstedt, Spektrum Freizeit 1-2/1997). Damit wird Freizeit nicht nur von der Arbeitswelt, sondern auch von traditionellen Sinnbezügen weitgehend abgekoppelt.

Die Dynamik des Marktes, die Kulturindustrie, Moden und Konventionen beeinflussen die Nutzung der Zeit in durchaus widerspruchsvoller Weise: Einerseits ermöglichen sie tendenziell eine Erweiterung der Entfaltungsmöglichkeiten (unter Sprengung älterer, früherer sozialer Grenzen), und so kann sich im Freizeitbereich ein Anspruch auf Leben und Teilhabe jenseits aller Verwertungszusammenhänge anmelden (Negt); andererseits bedeutet die exzessive Entwicklung einer Konsum- und Kulturindustrie (Heinz Steinert: Kulturindustrie. Münster: Westfäl. Dampfboot, 1998 <Einstiege Bd. 5) mit der Produktion von Waren und Dienstleistungen unter privatwirtschaftlichen Bedingungen eine wachsende Belastung der individuellen Zeitbudgets durch (wenn auch vielfach lustvolle, so doch nicht mehr frei wählbare) "Konsumarbeit".

7. Sind Arbeit und Freizeit komplementär?

In der wissenschaftlichen Analyse der Freizeit stehen neben empirisch-nüchternen Forschungen über die Arbeiterfreizeit und Zeitbudgets kulturkritisch-spekulative Traditionen (Habermas, Adorno). In der Kritischen Theorie steht die verbleibende Freizeit unter totalem Heteronomie-Verdacht: "Weder in ihrer Arbeit noch in ihrem Bewußtsein verfügen sie <die Menschen wirklich frei über sich selbst." (Adorno a.a.O. S. 645). Die Freizeit (arbeitsfreie Zeit) steht dabei für Adorno in eklatanten Widersprüchen: Einerseits "soll die Freizeit ... in nichts an die Arbeit erinnern" (647), andererseits "setzt Freizeit schattenhaft die Arbeit unmittelbar fort" (653). Dies wird von Jürgen Habermas auch so gesehen: Arbeit und Freizeit "sind heute noch so sehr verschränkt, daß die eine nur mit dem Blick auf die andere verstanden werden kann" (Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 219-231, S. 219); "das Freizeitverhalten selber wird von den Bedürfnissen der Berufssphäre bestimmt" (a.a.O. S. 220). Aus den "Belastungen und Versagungen" der Arbeitswelt resultiert für Habermas die komplementäre, suspensive und kompensatorische Funktion der Freizeit (a.a.O. S. 224). Empirisch lassen sich gerade angesichts der Verselbständigung der Freizeit solche Abhängigkeiten vermutlich nicht zweifelsfrei nachweisen.

Wenn bei Schopenhauer "entweder die Menschen an der unerfüllten Begierde ihres blinden Willens leiden oder sich langweilen, sobald sie gestillt ist" (Adorno 649), so gilt dies für Adorno nur unter den prinzipiell aufhebbaren Bedingungen der gesellschaftlichen Fremdbestimmtheit: "Daß tatsächlich die Menschen mit ihrer freien Zeit so wenig anfangen können, liegt daran, daß ihnen vorweg schon abgeschnitten ist, was ihnen den Zustand der Freiheit lustvoll machte." (a.a.O. S. 651). Andere leiten aus der Schopenhauerschen anthropologischen Maxime ein Widerspiel von Spannung und Entspannung ab, das lustbringend auch in Freizeit, Sport und Tourismus immer wieder gesucht wird (Eichler).

Für die kritische Theorie gilt: "Produktive Freizeit wäre möglich erst mündigen Menschen, nicht solchen, die unter der Heteronomie auch für sich selber heteronom geworden sind." (Adorno a.a.O. S. 652). Eine "Chance von Mündigkeit" (a.a.O. S. 655) liegt bei Adorno darin, daß "(d)ie realen Interessen der Einzelnen ... immer noch stark genug (sind), um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen." (a.a.O. S. 655)

Bei Habermas besteht sie darin, daß in der Überflußproduktion der Konsumzwang zurückgewiesen werden kann durch eine Konsumaskese, die "die eigentliche Voraussetzung zur Befriedigung der realen Bedürfnisse" ist (a.a.O. S. 231). Das impliziert eine fatale Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen, die weder von der Empirie noch von einer Theorie der dynamischen Bedürfnisentwicklung abgedeckt wird.

8. Die Verzögerung der Zeit

Läßt sich die Macht der Konsumenten, der Individuen für einen anderen Umgang mit Zeit aktivieren? Könnten all die, die sich von Heinrich Bölls schöner Geschichte von dem Fischer, der nicht mehr als bisher fischen will, beeindrucken lassen, nicht auch Zeitpioniere werden?

Selbstbegrenzungsfähigkeit ist eine soziale Qualität. Scheinbar wider alle ökonomische Vernunft, wider die Gesetze des Marktes gibt es die verschiedensten Ansätze, sich dem Beschleunigungszwang zu widersetzen. Der von Peter Heintel gegründete "Verein zur Verzögerung der Zeit" (Klagenfurt) gehört dazu, jener aus philosophischen Anregungen hervorgegangene geheimnisvolle, anscheinend der Märchenwelt Michael Endes entsprungene attraktive Verein, der unter dem schlimmen Handikap leidet, daß seine Mitglieder sich bei der Propagierung der Vereinsziele nicht unter Zeitdruck setzen lassen: "Der Zweck dieses gemeinnützigen Vereins, dessen Tätigkeit nicht auf Gewinn ausgerichtet ist, ist es, wo es sinnvoll erscheint, Zeit zu verzögern. ... Seine Mitglieder verpflichten sich zum Innehalten, zur Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Aktivismus und partikulares Interesse Scheinlösungen produzieren." (aus den Statuten).

Daß es diesen Verein geben kann, deutet wieder einmal Kontingenz an - die Lage ist nicht ausweglos. Über das Wiederentdecken der anderen Formen und über die Erinnerung an andere Möglichkeiten finden wir vielleicht Wege zur Wiedergewinnung von mehr Zeitsouveränität. Ist da schon alles gesagt?

Viele von uns sind schon dabei, im Wertewandel und beim Übergang in andere Lebensphasen entsprechende neue Standards für den Umgang mit Zeit in Ansätzen zu entwickeln. Vordergründig (und widerspruchsreich) spielt sich das in der höheren Gewichtung des effizienteren Zeitmanagements statt. Die verschiedensten Strategien und Termin- oder Zeitplan-Techniken und Handbücher werden dafür empfohlen.

Ich halte die damit verbundenen Strategien durchaus für ambivalent. Als neutrale Kulturtechnik verwendet, können Zeitmanagement-Methoden mich in den Stand setzen, mit meiner eigenen Zeit besser umzugehen und bewußter meine Prioritäten zu setzen. Aber dies ist auch die Voraussetzung: Es müssen Wertpräferenzen existieren. Es muß geklärt sein, was sinnvoller und wertvoller ist. Soll man den Zeitaufwand für lebensnotwendige Verrichtungen reduzieren (damit freilich aber auch tendenziell das Lebensnotwendige von dessen angenehmem Vollzugsformen entkoppeln, mit anderen Worten: Genußmöglichkeiten einzuschränken), um Zeit für den Erwerb von Gütern zu gewinnen? Soll man die Erwerbszeit verkürzen, um Zeit für das Spiel mit der Geliebten zu erhalten, oder das Liebesspiel verkürzen, um Zeit für's Geldverdienen zu gewinnen? Ist Pünktlichkeit im Umgang mit Verabredungen mit anderen nicht auch Teil eines gemeinschaftlichen souveränen Umganges mit Zeit?
 
 

9. Widersprüche im gegenwärtigen öffentlichen Umgang mit Zeit

Neue Formen gesellschaftlichen Zeitmanagements können die selbstzerstörerische Dynamik des Wachstumszwanges aufbrechen. Sie müssen, um wirkungsvoll zu werden, sich in Alltag, Schule, Wirtschaft und sonstwo öffentlich niederschlagen. Sie werden, darüber muß man nachdenken, nicht konfliktrei umzusetzen sein, weil sie zentralen Orientierungen und für wichtig gehaltenen Sekundärtugenden widersprechen. Die Konflikte werden anderer Art sein als die gewohnten.

Ziel kann die Entwicklung und Ausgestaltung von zukunftsfähigen Lebensweisen sein, weg vom fetischisierten Wachstum, hin zu humanen Qualitäten des Lebens und zu einer Unterwerfung von Wachstum und Wohlstand unter die Ziele von Lebensqualität und Wohlbefinden. Daran weiter zu arbeiten, solche Tendenzen auch durch die Politik und die Kulturpolitik zu intensivieren ist sinnvoll. Da könnte auch die Politik durch die Verstärkung bereits vorhandener Trends selbst mit ihrem vergleichsweise geringen Einfluß rasch Zeichen setzen, z.B. durch neuartige, sozial abgefederte Zeit-Flexibilisierung, nicht auf dem Rücken, sondern im Interesse der arbeitenden Menschen.

Haltungen dieser Art sind heute bei uns in der Prosperitätsgesellschaft prinzipiell möglich. "Weder Knappheit der Zeit noch Raumnot zwingen heute zu einer möglichst rationellen Nutzung von Zeit und Raum. Zeit und Raum zu haben, ohne Hunger leiden zu müssen, sind Inbegriff von Luxus, zugleich sind sie erste Voraussetzung dafür, daß die Individuen ihren eigenen Alltag sinnvoll selber organisieren können." (Walter Siebel: Stadtkultur. In: Das neue Interesse an der Kultur. Hagen 1900 (Kulturpolitische Gesellschaft, Dok. 34), 133-146). Diese Chancen werden bei zunehmender sozialer Ungleichheit in der Zweidrittelgesellschaft immer mehr zum Privileg und damit tendenziell nicht mehr breitenwirksam. Die Chancen jetzt massenhaft zu nutzen, könnte allerdings auch diesen Prozeß der sozialen Segregation aufhalten, weil die materiellen Ressourcen der Besitzenden relativ gesehen entwertet würden zugunsten von Zeitsouveränität, die sich zu verschaffen freilich durch Besitz vielfach erleichtert wird.

Neuartige Ansprüche dieser Art an die Lebensqualität zu entwickeln gibt nicht nur den Individuen neue Chancen. Es ist auch für die globale Perspektive wichtig. Man kann kein positives Leitbild für eine zukunftsfähige Gesellschaft entwickeln mit Personen, die schon in ihrer eigenen Lebenspraxis sich den Sachzwängen eines selbstzweckhaften Wachstums unterwerfen. Es gibt nicht nur, wie Peter Weiss es uns beschrieben hat, eine "Ästhetik des Widerstands", sondern auch eine Ästhetik der Subsistenz, der nachhaltigen Entwicklung und des weise genutzten Wohlstandes - und (ich gebe zu, hier schlägt bei mir wieder der Moralist durch) sie ist interessanter als die Ästhetisierung der Blasiertheit, der Arroganz und der konsumaufwendigen, lebensweltzerstörerischen Lebensstile. Solche neuen Ansprüche an die Lebensqualität durchbrechen die tödlichen Kreisläufe des selbstzweckhaften Wachstums. Deshalb sind neue und humanere Formen des Zeitmanagements ein Beitrag zum Überleben der Menschheit.

Robert Leviné hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine relative Prosperität eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung von mehr Zeitsouveränität ist: Er hat festgestellt, daß "bei Menschen an schnelleren Orten eine höhere Wahrscheinlichkeit, daß sie mit ihrem Leben zufrieden sind" besteht. Wer also, wenn nicht wir? (Robert Leviné: Eine Landkarte der Zeit. München: Piper 1998, zit. bei Schnabel, Ulrich: Die Last der Hast. In: Die Zeit v. 7. Mai 1998, 39/40; vgl. auch Robert Leviné: Fingerabdrücke der Zeit. In: KulturAustausch 3/1998, 24-26, sowie weitere Aufsätze in diesem Heft, auch zu Zeitregimes in anderen Kulturen, ferner Ernst Pöppel: Wie kommt die Zeit in den Kopf? A.a.O. 29-31; Dieter Haller: Stossdämpfer auf der Strasse der Globalisierung. <zu kultureller Bedeutung neuer Medien. A.a.O. S. 37-38; vgl. auch Leo Jenni und Piero Onori (Hg.): Zeit für Zeit. Natürliche Rhythmen und kulturelle Zeitordnung. Basel: Logos Verl. 1998, Rez. a.a.O: S. 110)

Andere Zeitkonzepte zu ermöglichen ist auch das Ziel kommunaler Zeitpolitik. Das Projekt "Zeiten und Qualitäten der Stadt" von Ulrich Mückenberger (Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg) versucht auf der kommunalen Ebene die Zeitbedürfnisse der Nutzer von Verkehr, Verwaltung und Dienstleistungen besser mit den entsprechenden Institutionen zu koordinieren. Das scheint einerseits auch die Effizienz der Zeitnutzung zu erhöhen, andererseits aber auch den Individuen einen Gewinn an Zeitsouveränität zu verschaffen. Solche Anstrengungen sind sicher sehr nützlich, reihen sich jedoch ein in die Struktur derjenigen Systeme, die effzienzsteigernd sind. Leviné empfiehlt gegensteuernd zwei Fragen, mit denen sich das Effizienzstreben relativieren läßt: "Muß ich das unbedingt tun? Möchte ich das tun?" (zit. Schnabel; vgl. Eva Gesine Baur: Zwischen Beschleunigungs-Wahn und Zeit-Verzögerung. In: FR v. 7. Juni 1997).

10. Die Wiedergewinnung einer einheitlichen Lebenstätigkeit

Produktive Tätigkeit, Reproduktion und Entfaltung repräsentieren jeweils besondere Aspekte des Lebenszusammenhanges. In der Praxis sind sie miteinander verwoben. Regeneration und Reproduktion sind in vielen Fällen mit Entfaltung und Genuß verbunden bzw. lassen sich damit verbinden. Die Entfaltung der berufsunspezifischen (z.B. schöpferischen) Fähigkeiten und Fertigkeiten in der freien Zeit hat direkte und indirekte Wirkungen auf die Arbeit. "Die freie Zeit [...] hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß" (Marx, o.J.). Und auch die Arbeit selbst wird als schöpferische Verausgabung von Kraft von vielen (besonders von den in der gegenwärtigen Verteilung der Arbeit privilegierten) positiv erlebt (vgl. auch Adorno). Indem bei ihrer Ausübung immer neue Fertigkeiten erworben werden, erweitern sich durch sie auch die subjektiven intellektuellen und physischen Voraussetzungen zur berufsunspezifischen Entfaltung des Menschen. Würde man dies nicht berücksichtigen, so beginge man den gleichen Fehler wie manche Theoretiker der "Freizeitgesellschaft": Bei ihnen wird die Zeit der Arbeit, bei der die Menschen ihre besten Lebenskräfte verausgaben, aus dem Sinngefüge des individuellen Lebens ausgeklammert. Entfaltung findet aber in der Arbeit und in der Freizeit statt -- es gibt eine Einheit des Lebensprozesses bzw. der Lebenstätigkeit, bezogen sowohl auf das Individuum als auch auf die Gesellschaft. Daran ändert auch der gesellschaftliche Zwangscharakter der entfremdeten Arbeit in der Klassengesellschaft nichts: Seine Arbeitstätigkeit (und nicht seine Freizeit) ist zu wesentlichen Teilen Grundlage der historischen Rolle des Arbeiters (Maase 1977).

Geht man von dem "holistischen" Begriff der ganzheitlichen Lebenszeit aus, dann verliert ein Begriff der Freizeit, der gewonnen ist aus der formalen Trennung zwischen Arbeitszeit und Nichtarbeitszeit, seine Bedeutung. Analytisch unterscheiden kann man dann noch zwischen produktiver, reproduktiver oder entfaltungsorientierter Zeit, zwischen determinierter obligatorischer oder disponibler Zeit, zwischen Zeit, die für die Kultur (bzw. Entfaltung) der sozialen Beziehungen, des Körpers, der manuellen, geistigen und ästhetischen Fähigkeiten (oder welches Ordnungsprinzip auch immer man wählt) verwendet wird bzw. nützlich ist. Keine dieser Differenzierungen aber deckt sich mit derjenigen zwischen Arbeits- und Freizeit. Lebenstätigkeit (oder, mit wertendem Akzent, Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte und des Beziehungsreichtums), verbunden mit mehr oder weniger intensiver Verausgabung von Kraft, findet in all diesen Bereichen statt. Eine Theorie der Freizeit muß in dieser Komplexität alle auf sie einwirkenden Faktoren einbeziehen. Sie kann so eigentlich gar keine kohärente Freizeit-Theorie sein, sondern ist Teil der Kulturtheorie.

Seitenanfang
Zur Übersicht 1