Kommunale Zeitplanung in Deutschland - die Beispiele Hamburg, Bremen und Hannover

Ulrich Mückenberger

Abstract
Stadtluft macht heute nicht mehr frei, sondern krank. Auf der Suche nach einem verschiedene Lebensformen und Wertesysteme akzeptierenden vernünftigen Gemeinwesen beschreibt der Autor seine Vorstellungen von transversaler Politikorganisation, in der Impulse aus zivilgesellschaftlichen Bereichen aufgenommen und die administrativen Stärken der Kommune berücksichtigt werden.
Der Autor lotet so die Möglichkeiten einer demokratischen Beteiligung bei sich verändernden Urbanisierungsbedingungen aus.
 

Auf dem Weg zur Institutionalisierung kommunaler Zeitpolitik

Kommunale Zeitpolitik als demokratischer Prozeß

"Tempi della città" ist ein Wort für etwas, das seinen Begriff noch sucht. Längst ist klar, daß das Gemeinte städtische Zeitpolitik einschließt, aber mehr als städtische Zeitpolitik ist. Im Rahmen des europäischen Modellprojekts EUREXCTER sprechen wir von "Zeiten und Qualität der Stadt": damit ist eine Fortentwicklung kommunaler Qualitätspolitik gemeint, die ausgeht von den Zeit-, Raum- und Dienstleistungserfahrungen und -bedarfen der Bürgerinnen und Bürger des kommunalen Gemeinwesens und von dort aus Anforderungen an die Existenz und Qualität privater und öffentlicher Dienstleistungen formuliert. Wir kleiden unseren Ansatz derzeit in die Formel: "Verbesserung der Qualität des gelebten Alltags in Raum und Zeit". Die Formel EUREXCTER umschreibt den Ansatz in für bundesrepublikanische Ohren kaum übersetzbarer Weise als "Excellence territoriale en Europe" - die Entwicklung des Territoriums (und der darin gelegenen Kooperationspotentiale) zur "Exzellenz", also zu äußerster Leistungsfähigkeit und Produktivität im Sinne der dort Lebenden.
Dieser Gestaltungsansatz versucht, die Freiheitsverheißungen bürgerlicher Urbanität in zeitgemäßer Form einzulösen. Daß Stadtluft frei macht, mochte diese Verheißung in einer Periode einlösen, als es noch darum ging, die Fesseln der agrarischen Feudalsysteme zu brechen. Das ist heute - jedenfalls in den westlichen Industrienationen - nicht mehr das Problem. Heute geht es um die gesellschaftliche Organisation und Entfaltung der urbanen Lebensqualität: gegen den Stau, den Mief (die "Stadtluft" macht nicht mehr frei, sondern krank!), die gnadenlose Ausbeutung, den nackten Kommerz, die Kriminalität, die Verblödung, die Trägheit der Behörden und Dienstleistungen, den Größenwahn der Städte(voll)bauer usw.; für - ja wofür eigentlich? - für sagen wir: Freiheit und Gesellschaftlichkeit, genauer: Freiheit in Gesellschaftlichkeit.

Das lokale Gemeinwesen - wiewohl immer auch Ort von Freiheit und Gesellschaftlichkeit - ist in der Nachkriegszeit vorwiegend funktionell und instrumentell begriffen worden: als Produktions-, Dienst- oder Sozialleistungsagent, als Ver- und Entsorger, als Infrastrukturvorhalter usw. usf. Wir befragen dieses Gemeinwesen heute wieder nach seinem Sinn, nach seiner Integrität, nach seiner Qualität als "Lebenswelt" oder "Alltag". Dabei scheint wieder das "bonum commune" auf, das Aristoteles’ mit der Polis verband: "Das Endziel des Staates jedoch ist die Vollkommenheit des Lebens, und jenes alles sind nur Mittel zum Zweck. Ein Staat ist also eine Gemeinschaft von Geschlechtern und Dorfgemeinden zum Zwecke eines vollendeten und sich selbst genügenden Lebens, ein solches aber besteht, wie wir behaupten, in einem glückseligen und guten Leben. Als eine Gemeinschaft in guten Handlungen müssen wir mithin die staatliche Gemeinschaft bezeichnen und nicht im bloßen Zusammenleben". Gewiß können wir uns heute - in einer Zeit der Pluralisierung der Lebensstile, Wertvorstellungen, Religionen, Weltanschauung (gerade in den Städten) - nicht mehr die Gemeinschaft in Handlungen vorstellen, die von einer einheitlichen Ethik das Prädikat "gut" beziehen. Gleichwohl verurteilt uns diese Pluralisierung nicht zum "bloßen (gegeneinander gleichgültigen) Zusammenleben". Wir müssen nur in der Lage sein, uns das Gemeinwesen als durch Vielfalt von Wertsystemen bestimmt und gleichwohl vernünftig koordiniert vorstellen und ausgestalten zu können. Was wir heute wollen können, ist - Aristoteles zeitgemäß umformuliert - die Gemeinschaft in vernünftigen Handlungen und nicht im bloßen Zusammenleben.

Es versteht sich damit von selbst, daß das bonum commune weniger denn je substantiell (als ein objektiv definierbarer Wert oder Zustand) gedacht werden kann - schon für Aristoteles war es Ergebnis eines demokratischen Beteiligungsprozesses. Kommune als Gemeinschaft in vernünftigen Handlungen (und nicht im bloßen Zusammenleben) ist daher wesentlich nicht Ort der Verwaltung und Beglückung der Bürger, sondern Forum ("Agora") der diskursiven Ermittlung dessen, was die Bürger/innen für vernünftig und fair halten und respektiert wissen wollen. Wer diese prozedurale Relativierung des bonum commune nicht beherzigt - und es gibt einige empirische Anhaltspunkte dafür, daß diese bei uns noch nicht Gemeingut ist -, befindet sich noch in der Tradition des Jakobinismus oder des zum Glück nicht mehr "realen" Sozialismus. Ohne demokratische Konstitution ist ein bonum commune jedenfalls heute keines mehr.
Auch wenn ich ihn bisher noch nirgendwo expliziert gefunden habe, vermute ich dies als den Grundgedanke des neuen Gestaltungsansatzes, der "tempi della città" heißt, aber seinen Begriff noch sucht. Angestrebt wird die gemeinsame Arbeit an einem vernünftigen Gemeinwesen - aber unter Anerkennung verschiedenartiger Lebensformen und Wertsysteme und (damit) ohne wohlfahrtsdikatorische Verkürzungen. Der kommunale Alltag soll lebenswerter werden, indem die Betroffenen in all ihrer Verschiedenheit und Vielfalt sich an der Gestaltung beteiligen. Gesucht wird die Synthese von Qualität und Demokratie - und zwar exakt an dem Ort, wo der Alltag der Vielen stattfindet.

Diese Vorrede war mir notwendig, um meinen Beitrag verorten zu können. "Auf dem Weg zur Institutionalisierung kommunaler Zeitpolitik" verstehe ich 1. nicht deskriptiv, sondern strategisch, 2. die Zeitdimension einschließend, aber im weiteren Kontext der Qualitätsdimension betrachtet, 3. die diskursive/beteiligende Bestimmung dessen einschließend, was Qualität des Alltags unter Bedingungen von Vielfalt und Differenz meint. So ist der Titel fast gleichbedeutend mit "Demokratisierungspotentiale und -bedingungen von Zeit- und Qualitätspolitiken auf kommunaler Ebene heute".

"Transversale" Politikorganisation

Nimmt man diesen Ausgangspunkt für kommunale Zeitpolitik ernst, dann muß diese einen neuartigen Typ vielfältiger "Transversalität" ausbilden:

Ohne solche Transversalität bleibt der Bezug kommunaler Zeitpolitik auf die in der Stadt lebenden Menschen abstrakt - in dem Sinne, daß die Politik dann immer von dem politischen Akteur selbst, seinem funktionellen Aktionsradius und Blickwinkel, den bei ihm vorgenommenen Aushandlungsmechanismen vorgeformt wird und darin gefangen bleibt. "Alltag" ist der Ort, wo "alles zusammenkommt", "die Bewältigung des Alltags ist zu einer komplexen Leistung eigener Art geworden." Wenn kommunale Aktivität sich der Verbesserung des Alltags verschreiben will, dann muß sie der Einheit des Alltags Rechnung tragen, ja sie überhaupt zur Kenntnis nehmen können. Sie kann damit keine reine "Ressortperspektive" mehr sein.
Von hier aus wäre auch die Beurteilung und Reorientierung der Verwaltungsmodernisierungsprozesse vorzunehmen, die unter dem Stichwort "Neues Steuerungsmodell" (NSM) Schule gemacht haben. Daß zwischen Verwaltungsmodernisierung und NSM ein durchaus spannungsreiches Verhältnis besteht, hat jüngst der von Bogumil und Kißler herausgegebene gleichnamige Band beleuchtet. Obgleich auf dieses Verhältnis im Kontext der Institutionalisierung kommunaler Zeit- und Qualitätpolitik einzugehen wäre, kann ich es hier nicht weiterverfolgen.

Mir ist klar, daß ich in diesem Abschnitt einen massiven Anspruch aufgebaut habe, über dessen Einlösbarkeit, aber auch über dessen Folgen und mögliche unerwünschte Nebeneffekte, noch kein Urteil möglich ist. Nur plädiere ich in diesem Stadium relativer Unwissenheit wenigstens für Ehrlichkeit: Es sollte heute nur für Bürgerorientierung, Klientenorientierung und Kundenorientierung plädieren, wer bereit ist, sich mit dem damit verbundenen Anspruch offen auseinanderzusetzen. Sonst verkommt - auch dafür gibt es empirische Beispiele - die Rede von der Bürgerbeteiligung zur Floskel, zum Aushängeschild, zur Legitimationsgebärde.

Vier Ebenen transversaler Institutionalisierung

Daß es der systematischen Verbindung mit lokalen Institutionen bedarf, um zu einer perspektivreichen kommunalen Zeit- und Qualitätspolitik zu gelangen, liegt wohl auf der Hand - "zivilgesellschaftliche" Initiativen sich selbst (und ihrer allfälligen Vernetzung) zu überlassen, ihnen aber die Zugänge zu den kommunalen Informationen und die Teilhabe an deren Entscheidungsprozessen vorzuenthalten, bedeutet das Ende dieses Gestaltungsansatzes. Andererseits darf der Prozeß nicht einfach ins Amtliche übernommen werden - sonst verliert er seinen demokratischen, vor allem auch den angedeuteten transversalen Charakter. Es kommt somit offenbar auf ein neuartigen institutionellen und politischen "Mix" an, der Impulse aus dem gesellschaftlichen Bereich ermutigt und aufnimmt und zugleich mit dem kognitiven und administrativen Gewicht verstärkt, das die Kommune aufbieten kann.
Dabei kann es natürlich auch nicht darum gehen, den demokratisch gewählten Entscheidungsträgern in der Kommune ihre politische Verantwortung zu nehmen und sie irgendwelchen Initiativen und Gruppen zu überlassen. Die Kommune bleibt für ihre Entscheidungen verantwortlich, wo sie rechtlich gebunden und rechenschaftspflichtig ist. Sie kann sich aber in solchen kommunalen Gestaltungsbereichen eher als Moderator betätigen, wo es der Sache nach um die Selbstorganisation der Betroffenen geht (z. B. wenn Dienstleistungsanbieter ihre Öffnungszeiten aufeinander abstimmen sollen), und diesen Betroffenen letztlich die Entscheidung selbst überlassen. Und sie kann in die Entscheidungen, für deren Richtigkeit sie nach dem Gesetz selbst geradezustehen hat, sozusagen als zusätzliche "Richtigkeitsgewähr" den Rat und das Begehren der betroffenen Bürger einbeziehen (etwa bei der Festlegung der eigenen Öffnungszeiten, bei der Festlegung des genauen Ortes von Kinderbetreuungsstätten oder Altenheimen u. ä.). Insgesamt sind die Spielräume für partizipative Verwaltung wahrscheinlich größer, als gemeinhin angenommen wird.

Überall, wo in puncto Zeiten und Qualität der Stadt etwas geschah, haben sich neue eigene Formen, Institutionen, der Gewinnung von Erfahrung, des Austausches und des Experiments gebildet. Gemeinsam ist ihnen, daß hier kommunale Akteure zusammentreffen, die sonst nicht zusammentreffen, miteinander diskutieren, Lösungen entwerfen, "verhandeln" (aber nicht wie bei einer Tarifverhandlung: ohne fixiertes Mandat, ohne juristische Bindungsfähigkeit). So weit ich sehe, gibt es bislang vier kommunale Gestaltungsfaktoren und -ebenen, die auf dem Wege zu einer solchen Institutionalisierung sind und bei denen es darum ginge, sie in optimaler Weise miteinander zu verbinden:

Zivilgesellschaftliche Foren

Zivilgesellschaftliche Foren meint Treffpunkte, an denen Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen zusammenkommen, um einschlägige kommunale Gestaltungsfragen zu erörtern, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, Verbesserungsvorschläge zu eruieren, Untersuchungen und Experimente zu initiieren, Öffentlichkeit für "better practices" herzustellen usw. Diese Repräsentanten sind weder Behördenvertreter noch die "Endabnehmer" kommunaler Gestaltung. Sie stehen für intermediäre Instanzen, die zwischen Staat und Gesellschaft vermitteln können: zivilgesellschaftliche Wünsche an offizielle Instanzen vermitteln, aber in gewissem Maße auch für ihre Mitgliedschaft wirksam verhandeln können.

In Modena bildete sich ein stammtischartiges Forum "freundliche Stadt" ("città amica"), auf dem Geschäftsfrauen des Einzelhandels untereinander einen Rotationsplan vereinbarten, wann welcher Lebensmittelladen in welchem Viertel abends auf hat. Modena kam denn auch 1994 zu einem Mobilitätspakt ("patto per la mobilità"), von nicht weniger als 30 gesellschaftlichen Repräsentanten unterzeichnet (vom Taxifahrerverein über Hausfrauenbünde, Handelskammer bis zu den drei Gewerkschaften), der das kommunale Zeitregime unter allen erdenklichen Transport- und Verkehrsproblemen anging.

Das Problem dieses Ansatzes ist, daß die Interessen der am Forum Beteiligten - je umfassender das Forum angelegt ist, umso mehr - sehr different, ja sogar diffus sein werden. Dies spiegelt ein Grundproblem des Gestaltungsansatzes "Zeiten und Qualität der Stadt" wider: nämlich vielfältigste innerstädtische Problemwahrnehmungen miteinander bündeln und "thematisierungsfähig" machen zu wollen, die sich aber nicht zu eigenen Interessenverbänden agglomerieren können und wollen.

Modellversuche im Stadtteil

Deshalb haben Experimente im Nahbereich Stadtteil oder Ortsamt vielleicht erst einmal größere Erfolgsaussichten als solche im Rahmen der gesamten Kommune. Dort geht es um ein lokal begrenztes Territorium, innerhalb dessen zwischen Bürger/innen, gesellschaftlichen Repräsentanten und Vertreter/innen der Kommune modellhafte Veränderungen ausgehandelt und implementiert werden.

Hamburg hat als erste deutsche Großstadt - in einer Kooperation des Senatsamtes für die Gleichstellung, des Ortsamtes Barmbek-Uhlenhorst und der Forscher- und Beratergruppe "empirica" - eine Ortsamtsbereichsuntersuchung und ein Ortsamtsbereichsexperiment eingeleitet. Deren Zwischenergebnisse liegen jetzt vor. Mit der Modellphase beginnt auch die Kampagne für eine Erweiterung des Versuchsgebiets auf andere Teile Hamburgs.

Der Nachteil dieser Vorgehensweise liegt gleichfalls auf der Hand. Zeit- und Funktionsflüsse machen natürlich nicht an den Ortsamtsgrenzen Halt. Daher können solche Projektanlagen u. U. unterkomplexe Diagnosen und Abhilfen erbringen - was dann der Übertragbarkeit der erzielten Ergebnisse wieder Grenzen setzt.

Bürgerbefragung

Keine Institutionalisierung kommunaler Zeit und Qualitätsgestaltung wird gelingen, wenn nicht zuverlässige Mittel gefunden und angewandt werden, die die wirklichen Problemlagen und -wahrnehmungen aus der Sicht derer, die unmittelbar betroffen sind, ermitteln helfen. Der schlimmste Feind wirklicher Bürgerorientierung ist wahrscheinlich die unumstößliche Gewißheit mancher Verwaltungsleute, aber auch der gesellschaftlichen Repräsentanten, "schon zu wissen, wo die Leute der Schuh drückt". Oft steht für die der Bürgerwille schon fest, ehe er erhoben wurde. Und oft fallen dann die vermeintlichen "Erhebungsinstrumente" (schnell hingeschriebene und dilettantisch ausgewertete Fragebögen etwa) so aus, daß sie gar nichts Anderes als die vermeintliche "Bestätigung" des Vorurteils erbringen können.
Es geht in Wirklichkeit darum, Formen zu finden, in denen die Bürgerinnen und Bürger ihre Problemlagen und -wahrnehmungen aus ihrer eigenen Sicht und in ihrer eigenen Sprache formulieren können. Wie man einen solchen Prozeß einerseits sozialwissenschaftlich seriös, andererseits praktikabel gestalten kann, ist eine zentrale Modernisierungsfrage der Zukunft.

Mittlerweile ist das Spektrum von Formen, den Bürgerwillen zu ermitteln, reichhaltiger geworden, Es schließt Fahrgastbefragungen der Verkehrsbetriebe, Planungszellen, Bürgergutachten ein. Angedacht werden städtische Qualitätszirkel unter Einschluß nicht nur der im öffentlichen Dienst Beschäftigten, sondern auch der Bürger. Allerdings besteht hier noch eine große Methodenunsicherheit. Oftmals sind die Befragungsmethoden wenig elaboriert und mit Fehlerquellen versehen.

Ein Mißverständnis sollte nicht aufkommen. Eine seriöse Bürgerbefragung durchführen, heißt nicht, kommunalpolitisch zu treffende Entscheidungen an die befragten Bürger abzutreten. Es bedeutet zunächst einmal nur, den eigentlichen Bürgerwillen zu kennen und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Verantwortlich für ein großes Spektrum von Entscheidungen bleiben diejenigen, die - gleichfalls demokratisch - gewählt wurden. Die seriöse Bürgerbefragung wird allerdings öffentlichen Legitimationsbedarf hervorrufen, warum die Gewählten von ihrer Entscheidungsbefugnis in einer dem erhobenen Bürgerwillen widersprechenden Weise Gebrauch machen. Dieses Element kommunaler Transparenz und Öffentlichkeit scheint mir zum Wesen kommunaler Demokratie zu gehören.

Ressortübergreifende Arbeitsgruppen

Alle zivilgesellschaftlichen Bemühungen um bessere Zeit- und Qualitätspolitik in der Kommune sind ohne Information, Mithilfe und Gesprächsbereitschaft der Kommune zum Scheitern verurteilt. Als Ansprechpartner dürfen aber nicht nur Vertreter einzelner Ressorts zur Verfügung stehen, weil diese ihrerseits zwangsläufig den partikularen Blickwinkel ihres Ressorts einbringen. Vielmehr bedarf es auf Verwaltungsebene der Integration verschiedener Blickwinkel zu Projektgruppen, die zu integraler Problembehandlung befugt und in der Lage sind.

In Italien hat sich auf dieser vierten Ebene etwas abgespielt, was auch für andere Länder wichtig werden könnte: die meisten der 40 bis 50 Städte, in denen eine kommunale Zeitpolitik begonnen wurde, sind sog. "Zeitleitpläne" entwickelt und - besonders wichtig - sog. "Zeitbüros" eingerichtet worden. Die Zeitleitpläne sind projektbezogen und identifizieren bestimmte Problemfelder. Aufgabe der Zeitbüros ist es, einen Prozeß der Moderation herbeizuführen, die die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure zu einer Problemlösung zusammenführt und mit ihnen mögliche Lösungen ausarbeitet, wobei sie natürlich das kommunale Handlungsinstrumentarium mit zur Verfügung stellt. Damit ist das Zeitbüro per se ressortübergreifend. Der von ihm moderierte Prozeß ist "transversal", wie er im vorigen Abschnitt gefordert wurde.

Kommunale Demokratie und das "Verschwinden der Städte"

Mit den bisher angestellten Überlegungen, die ihrem Anspruch nach bereits weit greifen - ist das Thema Demokratisierungspotentiale und -bedingungen von Zeit- und Qualitätspolitiken auf kommunaler Ebene heute aber keineswegs erschöpft. Denn sie beziehen sich auf Stadt im traditionellen Sinne: Ein räumlich abgegrenztes, von Dichte, Heterogenität, Größe und Dauerhaftigkeit geprägtes Territorium, dessen Bürger darin wohnen und arbeiten. Beide Voraussetzungen aber - die räumliche Abgegrenztheit und die Übereinstimmung von Nutzer- und Bürgerstatus - verlieren offenkundig zunehmend ihre Geltung. Die Stadt "verschwindet" im Zuge der Sub-, vor allem der Desurbanisierung und löst sich in territoriale Netzwerke, mehrstufige Regionalstädte oder schlicht amorph in den Raum hinein auf. Und die Kongruenz zwischen dem Territorium und den darüber bestimmenden Bürgern - eine Kongruenz, die schon immer durch die Dichotomie Einwohner - Bürger getrübt war - erweitert sich um eine weitere: die Dichotomie zwischen dauerhaften (Bürger, Einwohner) und zeitweiligen Stadtnutzern (Einpendler, city-users, businessmen). Beide Entwicklungen stellen die Grundlagen lokaler Demokratie in Frage, weil beide den Nexus zwischen Betroffenheit von und Beteiligung an städtischen Entscheidungen lockern oder endgültig lösen. Eine kommunale Zeit- und Qualitätspolitik, die für sich demokratischen Charakter beansprucht, wird sie dauerhaft nicht vernachlässigen können.

Dezentrierung der Städte

Mit "Stadt" wird meist noch eine territorial abgegrenzte Lebens- und Schutzgemeinschaft assoziiert - die stadtgeschichtlichen Formen der antiken Polis und der mittelalterlichen Stadtzelle mit Stadtmauer. Neben dem Nationalstaat gilt uns denn auch die Stadt als Zentrum von Demokratie. Genau wie die Nation erfährt aber auch die Kommune derzeit den Prozeß der Dezentrierung: sie verliert in beiden entgegengesetzten Richtungen - zentripetal und zentrifugal - an Funktion und Bedeutung. Einerseits verlagert sich durch das Anwachsen der Städte und die damit meist einher gehende Verödung der Innenstädte das reale Leben (zumindest außerhalb der Geschäftszeiten) in die Subzentren, die entsprechend eine eigene kulturelle, gastronomische usw. "Identität" entwickeln. Andererseits trägt die Zersiedelung zur Entwicklung erst von Wohnbereichen (Speckgürtel, Schlafstädte), dann zunehmend auch von Handels- (Einkaufszentren), Arbeits- und Vergnügungsstätten (Freizeitparks) in der Peripherie bei. Beide Prozesse verstärken sich wechselseitig. Die Kernstädte hingegen trocknen aus oder verslummen.
Unter kulturellen, ökologischen und sozialen Aspekten sind beide Prozesse sehr unterschiedlich zu beurteilen. Entsprechend stellen sich unterschiedliche Anforderungen an eine demokratisierende Zeit- und Qualitätspolitik.

"Kleinteiligkeit": Quartier, Stadtteil

Daß sich städtisches Leben in kleinräumigere Bereiche, Subzentren, verlagert, muß den urbanen Charakter der Stadt nicht gefährden. Es kann geradezu Vorbedingung einer lebendigeren Teilhabekultur sein. Es kommt dabei aber darauf an, das Verhältnis zwischen zentralen und dezentralen Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Kommune angemessen neu zu ordnen, nicht ungewollt zu problematischen funktionellen, soziale und ethnischen Segregationen beizutragen und durch eine entsprechende Informations- und Transportlogistik den urbanen Zusammenhang zu wahren. Damit sind durchweg auch die Aufgaben für eine demokratisierende kommunale Zeit- und Qualitätspolitik umrissen.
Es käme dabei zunächst darauf an, die Organisationsstrukturen darauf zu befragen und dahingehend zu verändern, daß sie reale Partizipation zulassen. Dies spricht für dezentrale Angebote privater und öffentlicher Dienstleistungen als Bedingung von Partizipation. Es spricht auch für dezentrale quartiersnahe Entscheidungs- und Beteiligungsstrukturen - wie etwa Ortsämter und gewählte Ortsamtsbeiräte. Die "Stadt der kurzen Wege" wird durch Einrichtung integrierte dezentraler Bürgerläden, durch die Umorganisation von Ortsämtern und Bezirksämtern zu Bürgerämtern auch eine "Stadt der kurzen Ämterwege" und der "schnellen Beteiligung". Mit Bürgerämtern könnten Zeitbüros italienischer Prägung verbunden werden - sozusagen Schnittstellen zwischen den zivilgesellschaftlichen und den staatlichen Akteuren. Damit wäre wahrscheinlich auch eine Enthierarchisierung von Zentrum und Subzentren verbunden ("polyzentrische Stadt").

Die Verlagerung des realen urbanen Lebens in Subzentren bietet die Chance für Mischungen, die früher durch Segregation verhindert wurden: Soziale, ethnische Mischungen, vor allem Mischungen zwischen Nutzungen, die früher reinlich voneinander getrennt wurden - Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Vergnügen -, für deren Verbindung heute aber zahlreiche, u. a. soziale, ökologische, stadtplanerische, Gründe sprechen. Auch die polyzentrische Stadt wird freilich zentrale Funktionen nicht völlig aufgeben (etwa in Bereichen des Handels oder der Hochkultur). Im Hinblick darauf gehört zur Enthierarchisierung von Zentrum und Subzentren eine zeitlich und qualitativ gut ausgestattete ÖPNV-Anbindung.

Disurbanisierung, territoriale Netzwerke

Bei der Zersiedelung, die ohne Raumplanung erfolgt, drohen vor allem mit dem Verlust jeglicher Urbanität verbundene Desintegration/Segregation von Bevölkerungen, Siedlungen, Nutzungen, ökologisch unzuträglicher Bodenverbrauch und Übergang auf Individualverkehr zulasten des ÖPNV. Die Alternative zur Zersiedelung ist eine netzbezogene, die regionale Zeit- und Qualitätspolitik umfassende Raumplanung, die den regionalen Verbund von die Leistungskraft der einzelnen Kommunen übersteigenden Aufgaben und Entscheidungsbefugnissen herbeiführt und mit einem ökologisch verträglichen regionalen Mobilitätskonzept verbindet. Eine Demokratisierung dieser Politik steht vor dem zusätzlichen Problem, daß es noch keinen an der Planung zu beteiligenden "Souverän" gibt, daß dieser erst noch konstituiert werden oder sich konstituieren muß.

Das zu lösende Problem ist, daß sich die Koppelung von Bürgerstatus und realer Nutzung des Territoriums, die dem Bild der lokalen Demokratie Pate steht, mit der Zersiedelung auflöst. Dieser Prozeß kann nur durch die Entwicklung von Kooperationsformen interkommunalen Kooperationsformen und diesen entsprechenden Formen der Bürgerpartizipation gelöst werden. In der juristischen Diskussion ist wohl das erste Problem (Gemeindekooperation) entdeckt worden, kaum aber das zweite (Bürgerpartizipation). Die verschiedenen bestehenden Verbundansätze zwischen Gemeinden (kommunale Arbeitsgemeinschaften, Gemeindeverbände, Stadt-Umland-Verbände, Gesamtgemeinden, Landschafts- und Bezirksverbände, höhere Gemeindeverbände, kommunale Zweckverbände, Kooperationen in öffentlich-rechtlicher und in privatrechtlicher Form) werden meist recht neutral beurteilt - das reale Demokratieproblem dagegen findet sich wenn überhaupt gewürdigt, so doch kaum ernsthaft in Angriff genommen.
Auch hier müßten Beteiligungsfragen mit den zu lösenden Sachfragen verbunden werden. Was ansteht, ist die Konstituierung der "Region" als Beteiligungsebene - wie es mit Stadt-Umland-Verbänden in Saarbrücken, Frankfurt, Hannover, Braunschweig und dem Kommunalverband Ruhrgebiet oder mit Nachbarschaftsverbänden in Baden-Württemberg geschehen ist. Immerhin hat Stuttgart den Schritt getan, daß die Regionalversammlung des Verbandes "Region Stuttgart" von den Bürgern dieser Region gewählt wird. Allerdings garantiert ein formeller Repräsentationsmechanismus noch keinen realen Prozeß demokratischer Beteiligung.

Verbunden werden müßte ein regionales Beteiligungskonzept mit großflächiger Raumplanung, die die Güter und Dienstleistungen der Region unter dem Gesichtspunkt der "Erreichbarkeit" einstuft und ordnet. Unter ökologischen Gesichtspunkten müßte die Raumplanung sparsamen Raumverbrauch sowie die Verbindung der Wohn-, Arbeits-, Einkaufs-, und Vergnügungsbereiche mit dem ÖPNV vorsehen. Zu der regionalen Raumplanung gehört damit auch ein regionales Mobilitätskonzept.

Bevölkerungsbewegungen: Migranten, Touristen, Pendler, City-users

Wenn sich heute in den Städten die Dichotomie Einwohner - Bürger um diejenige zwischen dauerhaften und zeitweiligen Stadtnutzern erweitert, so erfordert auch das neue Überlegungen zur Partizipation an kommunaler Zeit- und Qualitätspolitik. Der volle Beteiligungsstatus ist bislang "Bürgern" vorbehalten geblieben, "Einwohner" haben einzelne in den Gemeineordnungen aufgeführte Rechte. EG-Ausländer durchbrechen bereits insofern diese Dichotomie, als sie unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft das kommunale Wahlrecht an ihrem Wohnsitz haben.

Hinsichtlich zeitweiliger Nutzer der Städte Einpendler, city-users, businessmen, aber auch Touristen scheint noch nicht einmal die Diskussion angebrochen zu sein. Zuweilen fehlt die Stetigkeit der Nutzung, die zu einer effektiven Partizipation erforderlich ist (das ist aber schon bei Berufs-Einpendlern nicht der Fall). Aber ob sie nun stetige oder nur gelegentliche Nutzer der Stadt sind - gerade für sie wird die kommunale Zeit- und Qualitätspolitik eine herausragende Rolle spielen, weil sie mehr auf öffentliche Räume, Transport und öffentlich angebotene Dienstleistungen angewiesen sind. Zu fragen wäre also, ob man so etwas wie ein "aktives Gastrecht" oder auch ein "situatives Bürgerrecht" erfinden müßte, das erlaubt, daß für diese zeitweiligen Nutzer wenigstens eine stellvertretende Partizipation (etwa nach Art des Ombudsman) besteht. Natürlich müßte dies auf solche Angelegenheiten zugeschnitten und beschränkt sein, die gerade diese Gruppen betreffen.

Gewiß sind dies noch höchst vorläufige Überlegungen. Zu ihrer Verfeinerung aber wird Anlaß bestehen. Sollte sich etwa nicht in dem Maße, wie die Stadt ihre fest umrissenen Grenzen verliert und wie ihre Bürger immer vielfältigere "Mobilität" an den Tag legen, auch das Repräsentationsproblem - als Grundvoraussetzung von demokratischer Beteiligung - vollkommen neu stellen?

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