Zeitpolitik
in italienischen Städten - Entstehungsgeschichte und aktueller Stand
Christine Obermair
Abstract
Die Autorin befaßt
sich mit der städtisch-öffentlichen Zeitpolitik im Italien der
80er Jahre. Es werden Beispiele kommunaler Zeitplanung aufgeführt,
die der Erhöhung der Lebensqualität der Bürger dienen sollen.
Kommunale Zeitplanungspolitik
in Italien
Die kommunale Zeitplanung
in Italien versucht, die zeitliche Organisation der Stadt besser auf die
Bedürfnisse der Stadtbewohner und der Stadtbesucher abzustimmen.
Das komplexe System der
Zeitordnung einer Stadt, das unser Alltagsleben bestimmt, setzt sich zusammen
aus:
-
Öffnungszeiten von privaten
und öffentlichen Dienstleistungen (Geschäfte, Museen, Gaststätten,
Bibliotheken, Parkhäuser usw.)
-
Arbeitszeiten
-
Stundenplänen (Schulen,
Kinderhorte, usw.)
-
Schalterstunden (öffentliche
Ämter)
-
Besuchszeiten
-
Fahrplänen (öffentliche
Verkehrsmittel)
Diese Zeitvorgaben sind das
Ergebnis von Abkommen, von Vereinbarungen zwischen verschiedenen Akteuren
und sie sind geprägt von Kräfteverhältnissen, von unterschiedlichen
Interessen und Wertvorstellungen. Wichtig ist aber, sich in Erinnerung
zu rufen, daß man diese Zeiten auch ändern kann.
In Italien haben sich in
den letzten Jahren kommunale zeitgestalterische Ansätze entwickelt,
deren Originalität weniger darin liegt, die Wichtigkeit zeitlicher
Faktoren im Alltagsablauf erkannt zu haben, sondern vielmehr darin, ein
neues Handlungsfeld erschlossen zu haben: Zeitgestaltung kann Inhalt öffentlicher
Planung und Steuerung auf städtischer Ebene sein. Dabei geht es nicht
darum, von oben herab "jetzt auch noch die Zeit zu verplanen". Es geht
um eine bessere zeitliche Organisation des städtischen Lebens, die
den Bürgern mehr Gestaltungsmäglichkeiten für den Alltagsablauf
bieten soll.
Wie ist dieser Ansatz in
Italien Mitte der Achtziger Jahre entstanden?
-
An den Universitäten arbeiten
Familiensoziologen und Stadtplaner verstärkt mit dem Thema "Zeit".
-
Die Frauenbewegung und die Frauen
in der Gewerkschaftsbewegung befassen sich intensiv mit den zeitliche Aspekten
geschlechtsspezifischer Diskriminierungen und Unterschieden bei Erwerbsarbeit,
Familienarbeft, mit den Benachteiligungen, die Frauen durch die zeitliche
Organisation des städtischen Lebens erfahren, auch bezogen auf die
verschiedenen Lebensphasen.
-
Die Frauen in der damaligen
kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista ltaliano PCI) bringen
1988 einen Gesetzesentwurf im Parlament ein, der den Titel trägt "Le
donne cambiano i tempi. Orari di lavoro, stagioni della vita, tempi della
cittá" (Die Frauen ändern die Zeiten. Arbeitszeiten, Lebensphasen,
städtische Zeitordnungen). Der Entwurf wird zwar nicht genehmigt,
bleibt aber ein wichtiger Anhaltspunkt.
-
In Modena und Reggio Emilia
führen Politikerinnen, erste Modellversuche im Bereich der städtischen
Zeitpolitik durch.
Im Jahre 1990 wird ein staatliches
Reformgesetz verabschiedet (Nr. 142 /1990), weiches u.a. die Zuständigkeitsbereiche
der Kommunen erweitert. Artikel 36, Absatz 3 dieses Gesetzes lautet: "Der
Bürgermeister ist außerdem dafür zuständig, im Rahmen
der Regionalgesetze und aufgrund der vom Gemeinderat festgelegten Richtlinien
die Öffnungszeiten der Geschäfte, der öffentlichen Dienste
sowie jene der Außenämter der öffentlichen Verwaltung zu
koordinieren, damit die Ausführung der Dienste den gesamten und allgemeinen
Erfordernissen der Benützer entsprechen kann."
Trotz seiner Knappheit legitimiert
dieser Gesetzesartikel die bis dahin geleisteten Bemühungen und stellt
einen großen Schub für neue Projekte dar. Heute laufen in fast
60 italienischen Städten verschiedenste kommunale Zeitgestaltungsprojekte;
in sieben Regionen gibt es inzwischen eigene Gesetze, die die kommunale
Zeitplanung unterstützen und finanzieren. In vielen Gemeinden sind
eigene Zeitbüros eingerichtet worden (ufficio tempi della cittá).
In Anlehnung an den kommunalen Bauleitplan spricht man oft von Zeitleitplänen
(piano regalatore degli orari), obwohl meistens kein vergleichbares Plandokument
vorliegt. Dies erklärt sich daraus, daß die zeitliche Organisation
der Gesellschaft einem kontinuierlichen Wandel unterliegt, sich Lebensstile,
Rhythmen und zeitliche Bedürfnisse relativ schnell ändern und
darauf flexibel reagiert werden muß. In der Regel gibt es ein Grundsatzpapier,
das zeitpolitische Prioritäten festlegt (z.B. weichen Bevölkerungsgruppen
die geplanten Maßnahmen vorrangig zugute kommen sollen und in weichen
Bereichen angesetzt werden soll), die dann durch konkrete (Pilot)projekte
umgesetzt werden. Oft gibt es umfangreiche vorbereitende Untersuchungen
und Erhebungen, sei es auf gesamtstädtischer Ebene, als auf einzelne
Bevölkerungsgruppen oder thematische oder räumliche Bereiche
begrenzt.
Was ist den Projekten der
italienischen Städte gemeinsam?
-
die Feststellung, daß
die Zeitorganisation in den Städten kritische Aspekte aufweist, z.B.:
Zeiten überschneiden sich, und die Bürger können daher Dienste
nur dank zeitlicher Balanceakte in Anspruch nehmen; unzumutbare Verkehrssituation
zu Stoßzeiten; unausgewogene und starre Nutzung des städtischen
Raumes (leerstehend/überfüllt); lange Wartezeiten bei öffentlichen
Diensten; zeitliche Versorgungsengpässe bei privaten Dienstleistungen
(z.B. zu wenige offene Restaurants am Sonntag); verschiedene Bevölkerungsgruppen
haben unterschiedliche zeitliche wie räumliche Nutzungsmuster der
Stadt, aber die zeitlichen Angebote sind darauf nicht abgestimmt, usw.
-
der Wunsch, die Lebensqualität
in den Städten durch Eingriffe in die Zeitordnung zu verbessern;
-
die Überzeugung, daß
die unterschiedlichen zeitlichen Bedürfnisse und Wünsche der
Menschen Ausdruck und Anhörung finden müssen. Das kann über
Umfragen oder Untersuchungen geschehen, über Partizipation an den
Projekten, über Diskussionstische, Foren und Arbeitsgruppen;
-
die Erkenntnis, daß traditionelle
Methoden ungeeignet sind, um die zeitlichen Konflikte der Stadt zu läsen.
Mit von oben erlassenen Vorschriften läßt sich Zeit nicht planen.
Neue Formen der Zusammenarbeit und der Koordinierung der verschiedenen
Akteure müssen gefunden werden;
-
die Überzeugung, daß
Zeitpolitik eine ausgesprochene Querschnittspolitik ist, die interdisziplinär
und ressortübergreifend arbeiten muß, die aber die einzelnen
Fachplanungen nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen und auch völlig
neue Sichtweisen einbringen kann.
Der ursprünglich weibliche
Blickpunkt der italienischen Zeitplanungspolitik ist nicht verlorengegangen,
sondern äußert sich in der Aufmerksamkeit, die den unterschiedlichen
Bedürfnissen der Menschen in ihren verschiedenen Lebensphasen gewidmet
wird, in der Beachtung weniger der Regel, als vielmehr der Ausnahmen, in
der Wichtigkeit, die den "Kleinigkeiten" des alltäglichen Lebens beigemessen
wird.
Eine ausgewogene zeitliche
Organisation der Stadt und ihrer Dienste bedeutet für den Einzelnen,
daß das Verhältnis zwischen "gebundener Zeit" (Zeit für
berufliche Tätigkeit und für Familienarbeit) und frei verfügbarer
Zeit verbessert werden kann und die individuellen Gestaltungsmäglichkeiten
zunehmen. Nachdem die Hauptlast des enormen zeitlichen Koordinationsaufwandes
in einer Familie (Abstimmung zwischen Arbeitszeiten, Besorgungen, Einkauf,
Kinderbetreuung, Behördengängen, usw.) immer noch zum größten
Teil auf den Frauen lastet, will die kommunale Zeitplanung besonders den
Frauen zugute kommen.
Die Handlungsfelder der
städtischen Zeitgestaltung sind breitgefächert, können aber
folgendermaßen zusammengefaßt werden:
-
Änderung der Schalterstunden
der Ämter (Ausweitung, Vereinheitlichung oder Verschiebung der Nutzungsfenster)
-
Flexiblere und individuellere
Gestaltung des Zeitangebotes personenbezogener öffentlicher Dienstleistungen
(z.B. Seniorendienste oder Kinderhorte)
-
Anpassung der Öffnungszeiten
privater Dienstleistungen an Kundenwünsche und gesamtstädtische
Erfordernisse (Ladenöffnungszeiten, Friseure, Gaststätten)
-
Zeitbanken: die Gemeinden unterstützen
Netzwerke, in denen Bürger nach dem Modell der Nachbarschaftshilfe
Dienste austauschen. Maßeinheit ist die Zeit (eine Stunde Kinderbeaufsichtigung
gegen eine Stunde Englischunterricht)
-
die Integration von räumlicher
und zeitlicher Planung: Gestaltung des öffentlichen Raumes unter Berücksichtigung
der Nutzungskalender. Die räumliche Zugänglichkeit, die Nutzbarkeit
der Stadt für ihre Bewohner hängt auch von der zeitlichen Organisation
ab. Eine belebtere Stadt ist zudem sicherer und (gast)freundlicher
-
die Verkürzung von Wartezeiten,
die Vermeidung von unnützen Behördengängen durch die Vernetzung
von Behörden, durch die Vereinfachung und Zusammenlegung von Verfahren,
durch die räumliche Nähe der Dienste zum Bürger
-
die Staffelung von Anfangszeiten,
um Verkehrsspitzen zu entzerren und sogenannte "Mobilitätspakte" zwischen
den öffentlichen und privaten Akteuren einer Stadt. Die Mobilitätspakte
versuchen, durch die Kombination von "traditionellen" verkehrspolitischen
Ansätzen mit zeitlichen Aspekten und durch die Einbeziehung der privaten
"Zeitgeber" die Verkehrsprobleme zu entschärfen.
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